
Widerstandskünstler Israel
Israel steht unter Beschuss. Seit seiner Gründung 1948 wurde es immer wieder überfallen und in Kriege verwickelt. Auch die Schweiz kann von seinen Erfolgen und Herausforderungen lernen.
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«Wir befinden uns im Krieg, ich bin einberufen worden, daher die Verspätung.» Mit diesen Worten entschuldigte sich Dmitry Adamsky, der an der Universität von Haifa lehrt, für die verzögerte Abgabe dieses Artikels bei der Redaktion nach dem jüngsten Angriff der Hamas auf Israel. Begleitend dazu schrieb er: «Dieser Artikel wurde unter Beschuss eingereicht. Die darin enthaltenen Argumente sind nach wie vor gültig und gelten sowohl für die Kriegs- als auch für die Nachkriegsrealität.»
Seit dem Zweiten Weltkrieg ist Israel mehr als jedes andere Land in Kriege verwickelt und ringt seit fünfundsiebzig Jahren mit dieser Problematik. Langwierige Konflikte mit seinen Nachbarn hätten das Land in einen Garnisonsstaat verwandeln können. Israel ist jedoch nicht Sparta, sondern eine wehrhafte Demokratie mit einer lebendigen Gesellschaft, einer wachsenden Wirtschaft und einem innovativen Ökosystem aus Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. Wie hat es Israel geschafft, gleichzeitig eine bewaffnete Nation und eine Nation der Start-ups zu sein? Welche Denkanstösse kann es europäischen und schweizerischen Staatsmännern und Intellektuellen geben?
Die enorme geopolitische Widerstandsfähigkeit des kleinen Israel hat die Neugierde kleiner Mächte geweckt, die in globale wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Konstellationen eingebunden sind. Eine enge Definition von Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, einen Angriff auf kritische nationale Infrastrukturen (soziale, zivile und militärische) zu absorbieren, sich zu erholen und Vergeltung zu üben. Eine breitere Auslegung bezieht sich auf einen Mechanismus, durch den der Staat eine effektive Militärmaschinerie bleibt, ohne sozioökonomischen Wohlstand und Liberalismus zu gefährden.
Seit 1948 ist Israel in beidem erfolgreich gewesen. Es hat sechs grosse Kriege und Dutzende von Zusammenstössen geringerer Intensität überstanden, gibt weniger als 5 Prozent des BIP für die Verteidigung aus und bewahrt ein vernünftiges Mass an Demokratie, Lebensqualität und Wirtschaftswachstum. Das ist rätselhaft: Die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) sind zu klein für die Bedrohungen und zu gross für den Staat, aber Israel hat sich trotz aller Widrigkeiten, trotz der Unterlegenheit gegenüber den Feinden in bezug auf Landmasse, natürliche und menschliche Ressourcen wacker geschlagen. Drei Faktoren erklären dieses Rätsel: ein ausgeklügeltes, aber sauberes nationales Sicherheitskonzept, ein ganzheitlicher Ansatz für eine umfassend grosse Strategie und eine einzigartige Verwaltungskultur.
Israels strategisches Konzept
Israels nationales Sicherheitskonzept beruht auf dem sogenannten «heiligen Dreieck» – Abschreckung, nachrichtendienstliche Warnung und Entscheidung auf dem Schlachtfeld. Die Gründerväter Israels gingen davon aus, dass begrenzte Ressourcen das Land immer daran hindern würden, in Konflikten einen endgültigen militärischen Sieg zu erringen. Während seine Feinde es sich leisten konnten, Kriege zu verlieren, würde eine grosse Niederlage Israels die Vernichtung des Landes bedeuten. Abschreckung – die erste Säule der nationalen Sicherheit – sollte die Feinde davon abhalten, einen Krieg zu beginnen. Bricht diese Säule zusammen, wird von den Geheimdiensten erwartet, dass sie vor einem drohenden Angriff Alarm schlagen. Eine genaue Frühwarnung vor einem feindlichen Angriff verschafft theoretisch die nötige Zeit, um Reservisten einzusetzen, Präventivschläge durchzuführen und den Vormarsch des Feindes zu blockieren. Und selbst wenn beide Säulen zusammenbrechen (wie 1973 und 2023), wird von den IDF immer noch ein entscheidender Sieg erwartet. Auch wenn es sich nicht um einen endgültigen strategischen K. o. handelt, zielt der Sieg auf dem Schlachtfeld darauf ab, brennende operative Herausforderungen zu lösen.
Der Mangel an geografischer Tiefe, die Abneigung gegen Verluste, die sozioökonomische Sensibilität und ein enges politisches Zeitfenster führten zu einem Reflex der Vorbeugung und des Blitzkriegs, um die Kriegsführung in das feindliche Gebiet zu verlegen. Der Kult der taktischen Offensive als defensive Strategie wurde zur doktrinären Norm. Qualitativer Vorsprung – d.h. die Überlegenheit bei hochentwickelten Waffen und die Fähigkeit, mit ihnen professioneller umzugehen als der Feind – wurde zu einem Mittel, um die numerische Unterlegenheit auszugleichen. Über die Technologie hinaus bezog sich…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1111 – November 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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