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Propaganda im Fernsehen wirkt
Lennart Maschmeyer, zvg.

Propaganda im Fernsehen wirkt

Gemäss gängigem Narrativ haben die sozialen Medien die Gesellschaft anfälliger für politische Manipulation gemacht. Untersuchungen in der Ukraine legen jedoch nahe, dass Desinformationskampagnen über traditionelle Massenmedien weitaus effektiver sind.

Seit Jahren beschwören Politiker, Journalisten und Akademiker den bevorstehenden Untergang der liberalen Demokratie. Soziale Medien, so die Annahme, ermöglichten Desinformationskampagnen in einem solchen Ausmass und mit einer solchen Effektivität, dass die Wahrheit inmitten einer Flut von Fälschungen und Lügen untergehe. Mit Hilfe von Desinformationskampagnen würden Schurkenstaaten Gesellschaften spalten, Konflikte anheizen und sogar Regierungen stürzen. Dies sei möglich, so wird oft argumentiert, weil sich anonyme Inhalte auf den sozialen Medien unter einem Eindruck von Echtheit wie ein Lauffeuer verbreiten liessen – obwohl sie doch in Wirklichkeit von Staatshand erstellte und verbreitete Fälschungen seien.

Automatisierte Lügenkampagnen

Weder Desinformationskampagnen noch die Angst vor ihnen sind neuartige Phänomene. Im Kalten Krieg mit seiner «Balance des Terrors» durch nukleare Abschreckung trugen die rivalisierenden Grossmächte ihre ideologische Konkurrenz um die Weltherrschaft vor allem im Verborgenen aus, durch Geheimdienstoperationen und Subversion. Propaganda und Desinformation waren ein Kernbestandteil dieses Konflikts, und insbesondere in der Strategie der Sowjetunion nahmen sogenannte «aktive Massnahmen» eine zentrale Rolle ein: Die Agenten des berühmt-berüchtigten Geheimdienstes KGB infiltrierten westliche Gesellschaften, neben Spionage, Sabotage und gelegentlichen Attentaten gehörten Einflusskampagnen, zum Teil gross angelegt, zu seinen Hauptaufgaben. Desinformation, also das Verbreiten von falschen oder manipulierten Nachrichten, welche die öffentliche Wahrnehmung im Interesse des sponsorenden Staates beeinflussen und verzerren, war ­dabei ein bevorzugtes Instrument. Noch heute sind viele Menschen überzeugt, dass die Mondlandung amerikanischer Astronauten nie stattgefunden habe, sondern in einem Filmstudio gestellt worden sei. Der Ursprung dieses Glaubens? Eine KGB-Desinformationskampagne. Des­information ist also durchaus in der Lage, Bevölkerungen zu beeinflussen, und entsprechend fürchteten westliche Politiker und Geheimdienste sie.

Spätestens die russische Einflusskampagne bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016 hat solche Ängste in die Gegenwart katapultiert. Vor diesem Akt der Einmischung fürchteten sich die amerikanischen und westlichen Verteidigungsplaner vor dem «Cyberkrieg», der durch die zunehmende Digitalisierung unserer Gesellschaften ermöglicht wird. Dabei ging es speziell um grossangelegte Überraschungsangriffe auf kritische Infrastruktur, zum Beispiel gegen das Stromnetz oder das Finanzsystem. Doch diese Szenarien blieben hypothetisch. Stattdessen zeigte die russische Kampagne bei den Wahlen in den USA, wie ein Staat mit gewaltlosen Mitteln Informationstechnologien gegen westliche Gesellschaften verwenden kann, und zwar durch den Zugriff auf persönliche E-Mails von führenden Demokraten, die dann gezielt über Online-Portale verbreitet wurden. Spätere Untersuchungen zeigten dazu koordinierte Desinformationskampagnen über soziale Medien, vor allem Twitter und Facebook. Seitdem ist die Angst vor dieser neuen Bedrohung explodiert und hat sogar eine neue Nato-Doktrin der «kognitiven Kriegsführung» inspiriert. Doch diese Ängste beruhen vor allem auf dem, was theoretisch möglich ist – in der Praxis ist diese Effektivität nicht bewiesen.

Technologischer Fortschritt eröffnet neue Möglichkeiten, Einflusskampagnen durchzuführen – und das theoretisch in nie dagewesenem Ausmass und präzedenzloser Effektivität. Die Medien waren nie zugänglicher und offener: Soziale Medien sind dezentrale Netzwerke, in denen jeder Benutzer Nachrichten verbreiten kann, die theoretisch den gesamten Nutzerkreis erreichen können. Zudem ist es relativ einfach, falsche Identitäten zu erstellen und über Automatisierung hunderte falsche Benutzerkonten zu koordinieren (sogenannte «Bots»), die Nachrichten verbreiten, die genau auf bestimmte Zielpubliken zugeschnitten sind. Die Klickversessenheit der Algorithmen, die bestimmen, welche Art von Inhalten ein Publikum erreicht, trägt dazu bei, dass polarisierende und extremistische Inhalte besonders gut funktionieren. Zusammengenommen bieten diese Charakteristika eine beispiellose Angriffsfläche für Kampagnen – daher die Ängste vor dem Untergang des Abendlandes.

Propagandainstrument Fernseher

Doch wie sieht es in der Praxis aus? Zusammen mit einem Forscherteam aus den USA und der Ukraine habe ich die Effektivität von sozialen Medien als Plattform für Einflusskampagnen mit dem klassischen Massenmedium des 20. Jahrhunderts, dem Fernsehen, verglichen. Wenn man es sich einmal genauer anschaut, machen es die eben genannten Vorteile der sozialen Medien nur in der Theorie einfacher, effizienter und effektiver, Einflusskampagnen durchzuführen. In der Praxis jedoch ist es extrem aufwendig, eine Kampagne ins Leben zu rufen, deren Ursprung verborgen bleibt und die doch eine grosse Zahl von Menschen erreicht: Benutzerkonten müssen einzeln erstellt werden, glaubwürdige «Cover-Stories» haben und zudem Inhalte verbreiten, die von den Algorithmen aufgegriffen werden. Insbesondere letzteres ist eine grosse Herausforderung, entsprechend gibt es eine eigene Industrie für die Optimierung von «Social Media Content» – staatliche ­Akteure haben keinen Vorteil in diesem Wettbewerb. Im Vergleich dazu bietet ein Fernsehsender die Möglichkeit, Inhalte an ein bestehendes Publikum zu verbreiten und ständig zu wiederholen – eine Methode der Beeinflussung, deren Effektivität klar etabliert ist.

Um die Effektivität von Bots und Fernsehen zu vergleichen, haben wir in der Ukraine (vor der Invasion) die Verbreitung von Desinformation über verschiedene Medien verfolgt und dann eine nationale Umfrage durchgeführt, um deren Reichweite in der Bevölkerung zu untersuchen. Die Ukraine bietet den Rahmen für eine nützliche und wichtige Fallstudie, da Russland das Land seit Jahren mit Desinformationskampagnen überzieht, da die sprachliche und kulturelle Nähe zu Russland die Erstellung von effektiven Inhalten erleichtert und da Russland spätestens seit der Einmischung in die US-Wahlen weithin als führende Macht in solchen «Informationskriegen» gilt. Zudem war die Ukraine bis Februar vergangenen Jahres der Hauptschauplatz einer Strategie der «hybriden Kriegsführung», in der Desinformation und Cyber­angriffe eine wichtige Rolle spielen. Wenn also digitale Desinformation so effektiv ist wie weithin angenommen, würde man diese Effektivität am ehesten in der Ukraine zu sehen erwarten. In Zusammenarbeit mit dem Medienforschungsinstitut Internews Ukraine identifizierten wir also 15 Narrative, die besonders häufig vom russischen Staat in den Diskursfokus gerückt wurden, und untersuchten diese auf ihre Zustimmung im ukrainischen Volk. Die Inhalte dieser Narrative sind breitgefächert, aber viele beziehen sich auf westliche Einmischung und Ausbeutung. Ein Narrativ besagt zum Beispiel, dass ukrainische Politiker, Medien und die Zivilgesellschaft vom Westen heimlich gelenkt und «kuratiert» würden.

Die Ergebnisse unserer Studie waren verblüffend: Menschen, die Nachrichten vorwiegend aus den sozialen Medien mitbekommen, waren nicht eher dazu geneigt, an Desinformationsnarrative zu glauben. Bei keinem der fünfzehn Narrative gab es eine statistisch signifikante Korrelation zwischen der Häufigkeit, mit der Befragte soziale Medien nutzen, und der Wahrscheinlichkeit, dass sie diese Narrative gehört hatten oder an sie glaubten. Zu unserer grossen Überraschung war dies sogar für Mitglieder von individuellen Kanälen auf dem Messengerdienst Telegram, welche die vorhergehende Forschung als Hauptquellen von Desinformation identifiziert hatte, der Fall. Im Gegenzug sahen wir für 14 der 15 Narrative eine statistisch signifikante Korrelation zwischen dem Konsum von prorussischen Fernsehkanälen (damals im Besitz des Oligarchen Viktor Medvedchuk) und der Wahrscheinlichkeit, dass Befragte die Narrative gehört hatten und an sie glaubten. Zuschauer dieser Kanäle zeigten eine 28 bis 41 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, an die individuellen Narrative zu glauben, als Befragte, die diese Sender nicht schauten.

Verstärkend, aber nicht pflanzend

Diese Ergebnisse sprechen eine eindeutige Sprache: Fernsehen ist und bleibt ein hocheffektives Medium für Desinformation und Propaganda. Ängste vor gesellschaftlichem Zerfall durch Online-Einflusskampagnen sind im Gegensatz dazu verfrüht und kaum durch Fakten belegt. Der Blick in die Geschichte zeigt zudem einen wichtigen Punkt: Einflusskampagnen und Desinformation können hauptsächlich bestehende Spannungen und Polarisierung aufgreifen und verstärken, nicht aber erschaffen. In der Bekämpfung solcher Kampagnen sollten Gesellschaften sich also mehr auf die Ursachen dieser Spannungen und Polarisierung konzentrieren, zum Beispiel soziale Ungleichheit, überbordende Bürokratie und intransparente sowie hochkomplexe Entscheidungsprozesse, als auf ihre Symptome – den Glauben an Desinformation und Verschwörungstheorien. Angstgesteuerte Rufe nach Kontrolle und Zensur der freien Meinungsäusserung auf den sozialen Medien giessen hier nur Öl ins Feuer. Letztendlich hat der Westen ja auch im Kalten Krieg nicht trotz, sondern wegen seiner Offenheit die Oberhand behalten.

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