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Stärker als gedacht

Wie ist die Lage in Israel, was sagen die Leute? Eindrücke einer Reise ins «Gelobte Land» Ende März.

Stärker als gedacht
Demonstrationszug im Zentrum von Tel Aviv am Samstag, 25. März 2023.

Überleben und Erinnern

75 Jahre Israel bedeuten zuallererst, anzuerkennen, dass aus dem schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte der richtige Schluss gezogen worden ist: dass nach mehreren Tausend Jahren Verfolgung und Vertreibung, Pogromen, Zwangstaufen und anderen Schikanierungen, Hetzkampagnen und Lügen, die der industriellen Menschenvernichtung vorangingen, nur ein wehrhafter jüdischer Staat Juden vor Antisemitismus schützt.

Der Holocaust ist in Israel allein schon deshalb sehr präsent, weil sich in allen aus Europa stammenden aschkenasischen Familien Individuen finden, deren Verwandte in den Vernichtungslagern umkamen – nicht selten handelt es sich bei denjenigen, die sich retten konnten oder die gerettet wurden, um die letzten überlebenden Angehörigen ganzer Familienzweige. In den sephardischen Familien wiederum setzt sich die Generation der Gross­eltern wesentlich aus den rund 800 000 Juden zusammen, die 1948 bei den brutalen Pogromen aus Nordafrika, von der Arabischen Halbinsel oder aus dem Irak vertrieben wurden.

Am Yom Hashoah, dem nationalen Gedenktag für die Shoah, wird nicht nur der Opfer des planmässigen Massenmordes gedacht, sondern auch der jüdischen Helden. Dass sich etliche Juden der Vernichtungspolitik der Deutschen aktiv entgegenstellten und damit der nationalsozialistischen Vorstellung der verweichlichten Juden radikal entgegentraten, ist in diesem Frühjahr durch den 80. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto in Erinnerung gerufen worden. Im April 1943 hatte eine Gruppe Todgeweihter das Unmögliche gewagt und sich dürftig bewaffnet gegen Wehrmacht und SS erhoben, nachdem diese die «Auflösung» des beschönigend «jüdischer Wohnbezirk» genannten Ghettos beschlossen hatten.

Am Aufstand beteiligt waren auch Zivia Lubetkin (1914–1978) und Yitzhak Zuckerman (1915–1981), ein junges Paar, das wenige Jahre zuvor noch auf den zionistischen Traum einer Ausreise nach Palästina hingearbeitet hatte und nun, nach der Ermordung der jeweils engsten Familienmitglieder, nichts mehr zu verlieren hatte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kampfgefährten überlebten die beiden den Zweiten Weltkrieg und reisten alsbald ins britische Mandatsgebiet aus. Dort gründeten sie den Kibbuz Lohamei ­Hagetaot mit, der zunächst sozialistischen Idealen folgte, und sagten gegen den Massenmörder Adolf Eichmann aus, den israelische Agenten in Argentinien aufgespürt hatten, um ihm in Jerusalem den Prozess zu machen.

Eyal Zuckerman.

Die Erinnerung an Lubetkin und Zuckerman wird heute von ihrer Enkelin Eyal Zuckerman, geboren 1978, wachgehalten. Weil ihre eigenen Eltern von deren Eltern nur wenig erfahren hatten, machte sie sich selbst auf die Suche nach der Familiengeschichte, rekonstruierte diese und erzählt sie heute als Vortragende nach – bei Gedenkveranstaltungen, an Schulen oder bei Firmen. «Ich denke, dass es im Laufe der Geschichte immer wieder Menschen gab, die ein Licht des Guten waren. Dass ich immer wieder über meine Grosseltern spreche, ist mein kleiner Beitrag, um dieses Licht weiterzutragen», sagt sie etwas bescheiden. Ihre Schwester wiederum wurde die erste Kampfjetpilotin des Landes. Eine ganz normale israelische Familie.

Beten an der Klagemauer auf dem Tempelberg in Jerusalem.
Eine Bar-Mizwa-Feier mit medialer Begleitung am selben Ort.

Glauben und Ärger

Was aber bedeutet das «jüdisch» im Begriff «jüdischer Staat» heute? Das Adjektiv meint schliesslich nicht nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, sondern auch ein Glaubensbekenntnis. Die Frage der Religion unterscheidet Israel erheblich von anderen westlichen Gesellschaften, in denen die fortschreitende Säku­larisierung konfessionelle Belange zunehmend zu Privat­angelegenheiten gemacht hat. Und weil Israel sich nun als ­jüdischer Staat versteht, sind hier einige Dinge anders: Der Religionsgesetzgebung, der Halaha, ist die Zivilehe unbekannt, das Züchten von Schweinen ist in jüdischen wie muslimischen Ortschaften gesetzlich untersagt, und beim Oberrabinat handelt es sich um ein staatliches Organ.

Einer der bekanntesten Rabbiner des Landes ist Israel Meir Lau, der von 1993 bis 2003 aschkenasischer Oberrabbiner Israels war. Geboren 1937 in Polen in eine Rabbinerfamilie mit jahrhundertelanger Tradition, ist er der 38. Sohn der Familie, der diesen Beruf ausübt. Als Kind wurde er ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt und überlebte mit einem Bruder den Holocaust, dem alle anderen Angehörigen seiner Familie zum Opfer fielen. 1945 kam er als Achtjähriger nach Palästina.

Tel Avivs Oberrabbiner Israel Meir Lau.

Lau öffnet selber die Tür seines Hauses im Zentrum Tel Avivs, lächelt einladend und bittet darum, auf der ­breiten Couch im Wohnzimmer Platz zu nehmen. An den Wänden und in den Regalen finden sich neben religiösen Symbolen und Gegenständen vor allem Familienporträts, darunter ein auffallend schönes, das seine in Ravensbrück ermordete Mutter zeigt. «Schauen Sie sich das an», sagt er. «Wie kann man solch ein Geschöpf umbringen? Was hat sie getan?» Lau hat fünf Töchter und drei Söhne, die allesamt auch Rabbiner geworden sind; einer von ihnen, David Lau, ist mittlerweile selbst Oberrabbiner des Landes.

Obwohl das Radio nebenbei in nicht unerheblicher Lautstärke läuft, verliert Lau im Gespräch nie den Faden. Von seiner Zeit als Oberrabbiner Israels berichtet er nur beiläufig, dass Papst Johannes Paul II., den er mehrfach traf, seinen Vater und seinen Urgrossvater kannte, weil er aus Krakau stammte. Bescheiden tritt er auch auf, was seine eigene Generation anbelangt, die sich durch ein ­zunächst paradox anmutendes Detail auszeichnet: Viele ältere Israelis sind aufgrund der Erfahrung des Holocausts nicht gläubig. «Ich verurteile das nicht», sagt Lau. «Ich bin schliesslich kein Richter. Ich verstehe sie sogar.» Er wünsche sich lediglich, dass die Menschen ihre Augen und ihre Herzen öffneten, und fände es schade, wenn seine Mitbürger nicht wüssten, wie der Tanach, die Heilige Schrift des Judentums, gelesen werde.

Nichtgläubigen empfiehlt er eine einzige Passage aus der Tora, «Schma Jisrael», auf Deutsch: «Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.» Warum, erklärt er gleich selbst: «Es war der letzte Satz, den unsere Eltern und unsere Verwandten sagten, als sie die Gaskammern betraten. Es ist eine Aufforderung an die nächste Generation, weiterzumachen. Wir können nur als ungebrochene Kette weiterleben.» Lau betont, dass er vor allem für Optimismus einstehe: «Bei der Staatsgründung Israels lebten 600 000 Menschen hier. Heute sind es gut neun Millionen, die aus achtzig bis neunzig Ländern stammen, mit enormen Unterschieden, was Sprachen, Verhalten und Mentalitäten betrifft. All diese Menschen wollen nicht nur ernährt und ausgebildet, sondern auch beschützt werden. Das ist keine einfache Aufgabe. Aber wir haben es geschafft.»

«Die Frage der Religion unterscheidet Israel erheblich von anderen

westlichen Gesellschaften, in denen die fortschreitende

Säkularisierung konfessionelle Belange zunehmend

zu Privatangelegenheiten gemacht hat.»

Nur wenn es um gänzlich weltliche Themen geht, verschwindet Laus ansonsten so dominantes Lächeln. «Iran ist heute der grösste, vielleicht auch der einzige Feind, den Israel hat. Was haben wir denen denn getan? Unsere Länder teilen keine Grenzen und führten noch nie einen Krieg gegeneinander, und wir haben ihnen nicht einen Zenti­meter Land genommen. Warum hassen sie uns so?» Die Vereinigten Arabischen Emirate zeigten doch, wie es nach Jahrzehnten des Kriegszustandes mit vielen arabischen Staaten auch gehe.

Israel anerkennt jede der grossen Religionsgemeinschaften, wozu selbstredend der Islam sowie mehrere christliche Kirchen zählen, aber auch diejenigen der Drusen sowie der Bahai. Auch wenn ihre Feinde sie gern in den gleichen Topf werfen, unterscheiden sich die Juden gerade in ihrer Glaubensauslegung erheblich. Im allgemeinen wird zwischen liberalen, konservativen und strenggläubigen Juden unterschieden, die alle unterschiedliche Auf­fassungen von Religion wie Tradition vertreten und leben. Die Strenggläubigen unter ihnen, die Orthodoxen, machen etwa 20 Prozent der Bevölkerung aus; die Männer unter ihnen tragen ständig eine Kippa als Ausdruck ihrer Gottesfurcht. Bei den Ultraorthodoxen kommt in der Regel noch ein Hut dazu, während die Frauen in der Öffentlichkeit ­einen langen Rock tragen und ihr Haar bedecken, sei es durch ein Tuch oder durch eine Perücke.

Einst beschränkte sich das Religiöse auf Erwartbares. Der Militärhistoriker Martin van Creveld etwa, den wir in der Nähe von Jerusalem besuchen, erinnert sich vor allem an die stetig wiederkehrende Ödnis am Wochenende: «Im Jerusalem, in dem ich aufgewachsen bin, gab es nur einen Ort, wo man nicht koscher essen konnte. Und am Shabbat gab es gar nichts, alles war mausetot. Auf der Strasse sah man nur Katzen.» Während die Zahl der Orthodoxen auch in Städten wie Tel Aviv zunimmt, wartet Jerusalem, Heilige Stadt gleich dreier Weltreligionen, nunmehr mit ganzen Vierteln auf, die nach Glauben oder Glaubenspraxis geteilt sind. Ein Gang durch Me’a Sche’arim etwa fühlt sich an wie der Besuch einer Filmkulisse: ultraorthodoxe Juden, so weit das Auge reicht. Plakate warnen den Besucher, sich an die hier geltenden Vorstellungen von Sittsamkeit zu halten. Wer hier allzu luftig bekleidet vorbeischaut, muss mit Ärger rechnen.

Dem Schriftsteller Daniel Levin ist aufgefallen, dass privilegierte Israelis mittlerweile ins Ausland drängen und eine zweite Staatsbürgerschaft als Versicherungspolice anstreben. «Sie fürchten sich vor dem Leben in einer Theokratie», sagt er. «Sie sagen mir: ‹Wenn wir von Mullahs ­beherrscht werden wollen, können wir auch gleich nach Afghanistan auswandern.›» Die religiösen Parteien nimmt Levin derzeit als geeint wahr, als einen Block, der sehr diszipliniert und uniform wählt. Die Gefahr sei, dass Start-ups, Firmen und Investoren, die wie die Bevölkerung mehrheitlich säkular seien, aus Israel abwanderten: «Es sind die Privilegierten, die sagen: So müssen wir nicht unbedingt leben.»

Und dennoch bezeugt gerade Jerusalem wie kaum ein anderer Ort auf Erden die Möglichkeit einer Koexistenz verschiedener Religionen. Gerade weil man so nah am ­Heiligtum der anderen ist, muss man deren Eigenheiten aushalten und hilft sich gegenseitig auch aus, wenn beispielsweise die religiösen Feiertage dazu führen, dass man heute das eine und morgen das andere nicht machen darf.

«Gerade weil man so nah am Heiligtum der anderen ist, muss man deren Eigenheiten aushalten und hilft sich gegenseitig auch aus, wenn

beispielsweise die religiösen Feiertage dazu führen, dass man

heute das eine und morgen das andere nicht machen darf.»

Petra Heldt, evangelische Professorin an der Hebrew University Jerusalem, lebt seit 1979 in der Stadt. Das Zusammenleben der Religionen bezeichnet sie als sehr gut, auch wenn manches verbessert werden könne. So sei die Situation für Christen im Norden des Landes nach wie vor schwierig, da ihre Kirchen ständig von Moslems attackiert würden, besonders in Nazareth. Als praktizierende Christin fühle sie sich jedoch nicht benachteiligt im Land; man arbeite zunehmend gut zusammen, was aber von den Medien kaum gezeigt werde. «Israel ist für mich ein Vorbild, wie man versucht, gegenseitiges Verständnis zu schaffen», hält sie fest. «Hier hat jeder eine eigene Meinung und sagt sie auf der Strasse frei heraus. Die andere Seite wird dabei nicht diffamiert, sondern man versucht, einen Mittelweg zu finden.» Angesprochen auf den Unterschied zu ihrem Herkunftsland antwortet sie: «In Deutschland wird es ­geschätzt, wenn man schweigt oder das nachredet, was derjenige sagt, der gerade das Sagen hat.» Auch wenn sie Marzipan vermisse, sei sie sehr dankbar, in Jerusalem leben zu dürfen, und hält das für ein riesiges Privileg. «Die Mentalität der Menschen hier beruht auf Fröhlichkeit, Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft. Trotz aller Gefahren zeigt sich das überall. Dieses Positive ist ansteckend!»

Ansteckend ist auch die Begeisterung von Shai Doron, der mit seiner Familie in vierter Generation in Israel lebt. Als Leiter der Jerusalem Foundation, die sich für die Belange aller in Jerusalem lebenden Menschen unabhängig von deren Religion einsetzt, trat er vor fünf Jahren in die grossen Fussstapfen Teddy Kolleks, des legendären Bürgermeisters der Hauptstadt. Spricht Doron von Jerusalem, merkt man, dass dieses in ihm lebt: Er schwärmt von den Liedern in den Synagogen, den Gerüchen des Shabbat-­Essens und den Farben des Marktes: «In weniger als einer Stunde kann man zu Fuss durch die Stadt gehen und so viele verschiedene Menschen, Sprachen, Klänge, Kleidungen, Gerüche, Sprachen antreffen!» Doron hat Jerusalem nie verlassen. «Ich glaube wirklich, dass Jerusalem ein einzigartiger Ort auf der Welt sein muss. Es ist das Zentrum der Welt.»

Doron zeigt Bilder von Kindern mit Badekappen und fragt lachend, ob man einen Unterschied feststellen könne: Es handelt sich um jüdische und arabische Knaben, die auf Initiative der Stiftung neunmal pro Woche gemeinsam trainieren. Die Aussöhnung zwischen den Religionen in der Stadt wird von der Stiftung, die sich zur Hälfte privat und zu vier Fünfteln nichtstaatlich finanziert, schon länger vorangetrieben. «Es gibt eine grosse Kluft zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, also geht es um mehr als nur um Koexistenz», sagt Shai Doron. «Ich ziehe es vor, von einer gemeinsamen Gesellschaft oder einem ­gemeinsamen Leben zu sprechen.» Die von der Jerusalem Foundation ins Leben gerufenen Hand-in-Hand-Schulen – eine davon liegt gleich auf der anderen Strassenseite – unterrichten zweisprachig in Arabisch und Hebräisch, und das vom Vorschulalter bis zur 12. Klasse. 1998 als Experiment mit 50 Kindern gestartet, werden heute so über 2000 Kinder geschult.

Boomende Wirtschaft

Eine Filiale des «Super Yuda»-Supermarktes.

Jerusalem ist gemeinhin als relativ arme Stadt bekannt, hat sich aber gemausert mit Firmengründungen, die sich sehen lassen können. Zu nennen sind etwa Mobileye (Assistenz für autonomes Fahren, 2500 Mitarbeiter), Lightrics (Video- und Bildbearbeitungs-App, 600 Mitarbeiter) oder die Kaffeekette Aroma Espresso Bar (200 Filialen in Israel, 40 global). Zentrum der Start-ups ist jedoch unbestritten Tel Aviv, das 37 Prozent der Tech-Firmen und 26 Prozent der Mitarbeiter versammelt.

Ein Laden für frische Säfte in Tel Aviv.

Die Liste der privaten, von Israelis gegründeten Tech-Firmen ist äusserst beeindruckend. Vier israelische Firmen – Rapyd, GoPuff, Deel und Wiz, alle nach 2013 gegründet – sind mit je mehr als zehn Milliarden Dollar bewertet. 98 Firmen gelten als Unicorns, also als Firmen, die an der Börse mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet werden. Pro Kopf ist Israel weltweit das Land mit den meisten Unicorns und Start-ups sowie mit dem am meisten investierten Risikokapital. Jedes Jahr kommen über 1000 neue Start-ups hinzu. 80 Prozent davon scheitern zwar, doch an der immensen Zahl an Neugründungen wird der Mentalitätsunterschied zum deutschsprachigen Raum deutlich: In Israel ist das Scheitern nichts Verwerfliches, für das man sich schämen müsste, im Gegenteil. Es wird als Aufforderung verstanden, es beim nächsten Mal besser zu machen und über sich hinauszuwachsen.

«Pro Kopf ist Israel weltweit das Land mit den meisten Unicorns und Start-ups sowie mit dem am meisten investierten Risikokapital.»

Bei den Reisevorbereitungen sind wir mit einem der grössten Versicherungsunternehmen Israels in Kontakt gekommen, Harel Insurance. Gegründet 1935 vom aus Deutschland geflohenen Ehepaar Ernst und Margot Hamburger, versichert das Unternehmen heute beein­druckende 5,5 Millionen von 9,4 Millionen Einwohnern ­Israels. 5000 Mitarbeiter verwalten ein Vermögen von über 100 Milliarden Dollar. Beim von Harel organisierten Meeting an einem Sonntagmorgen in der 23. Etage eines Hochhauses mit Blick über die Autobahn und die ganze Stadt versammelt sich eine hochkarätige Gruppe. Sie gibt bemerkenswert offen Auskunft über das Erfolgsmodell ­Israel. Es ist ein Ökosystem, zusammengesetzt aus einer etablierten Firmenstruktur, aus Investoren und Start-ups sowie aus Mentoren und Talenten.

Blick auf die Stadtautobahn von Tel Aviv.

Eine der Grundlagen hierfür ist der gemeinsame obligatorische Militärdienst. Viele Tech-Start-ups entspringen der militärischen Einheit 8200, der nationalen SIGINT-Agentur. SIGINT steht für Signals Intelligence, also für eine signalerfassende Aufklärung, wie sie in den USA die National Security Agency (NSA) betreibt. Die Alumni-­Organisation von Einheit 8200 umfasst 19 000 Mitglieder und erwies sich schon früh als fruchtbarer Boden für Neugründungen. So wurde beispielsweise Instant Messaging als militärisches Instrument für diese Einheit erfunden, woraus 1996 ICQ und das Unternehmen Mirabilis entstanden; letzteres wurde dann 1998 von AOL aufgekauft.

Aussicht von einem Hochhaus auf Tel Aviv.

Der 32jährige Ido Gonen, der 2021 mit Exodigo ein stark wachsendes Start-up mitgegründet hat (mehr dazu auf S. 58), hat eine typische Laufbahn hin­gelegt. Nach der Aushebung wurde er in die Einheit 8200 aufgenommen und verpflichtete sich für mehrere Jahre, Dienst zu leisten. Er erzählt, wie sein kleines Team mit drei bis fünf Leuten im Alter zwischen 20 und 25 Jahren mit der Lösung eines Problems in einem ganz spezifischen technischen Bereich beauftragt wurde. «Man kann die Problemlösung nicht googeln, und ausser einer kleinen Anzahl von Reservesoldaten, die zuvor in der gleichen Sache gedient haben, kann einem niemand dabei helfen», erklärt er. «Man wird forciert, das Problem selbst in Angriff zu nehmen.» Dass man dabei zur Kreativität gezwungen wird, versteht sich. Ist das Problem gelöst, wird man in ein anderes Team versetzt, um ein neues Problem zu lösen. «Wieder und wieder. Und wonach sucht dann jemand, der die Armee verlässt? Nach der nächsten Herausforderung. Und die findet sich in der Regel nicht in einem etablierten Unternehmen, sondern in einem kleinen Start-up.»

Der Eliteeinheit 8200 entwachsen auch andere Blüten, das Programm 8200 Impact etwa. Dieses unterstützt insbesondere Start-ups, die fortschrittliche Technologien einsetzen, um soziale oder ökologische Probleme zu lösen. Leehe Friedman, die das Programm leitet, gibt zu, dass ­inzwischen haufenweise Start-up-Programme und -Beschleuniger existierten – tatsächlich geht man

Der von der Firma Exodigo entwickelte Boden-Scanner.

von 50 Unternehmerprogrammen und 100 Accelerators aus, hinzu kommen Dutzende Co-Working-Spaces und Hunderte von Meet-ups rund um Tel Aviv. Während man die Inhalte ­online auch selbst finden könne, treffe man sich nach wie vor gerne für die Kontakte und das Netzwerk, sagt Friedman. Auch sie betont den positiven Einfluss der Militärzeit auf die eigene Entwicklung: «Im Militärdienst ist man schon sehr früh für seine Soldaten verantwortlich – nicht nur für ihr Wohlbefinden bei der Arbeit, sondern manchmal auch für ihr Leben. So kommt man in Kontakt mit der realen Welt, trägt Verantwortung, entwickelt Fähigkeiten und wird sich bewusst, dass man Grosses leisten kann im Leben.»

Im Geschäftszentrum von Tel Aviv: Moderne Büroräumlichkeiten der Firma Fireblocks.

Harel ist dabei, eines der grössten Finanzunternehmen des Landes zu werden. Helfen sollen weltweite Partnerschaften, viel Investment in Technologie, aber auch Unterstützung des Standorts Israel. Dafür setzt Nitzan Cohen, die Programmdirektorin des hauseigenen GUTS Inno­vation Hub, auch mal eine WhatsApp-Gruppe auf, um 20 CEOs miteinander diskutieren zu lassen: «Als CEO oder Gründer eines Start-ups fühlt man sich schnell mal einsam, und da ist sehr hilfreich, mit Gleichgesinnten über die täglichen Herausforderungen zu sprechen.»

Cohen geniesst Glaubwürdigkeit bei anderen Gründern, schliesslich hat sie ihr eigenes Start-up erst vor einem Jahr verkauft. Dennoch hält sie es für eine grosse ­Herausforderung, die Kultur von Start-ups in der Frühphase mit der Unternehmenskultur eines Versicherungsunternehmens zu verbinden. «Es reicht nicht aus, schöne Räume zu bauen. Wenn man wirklich eine Verbindung zwischen Start-ups und Unternehmen herstellen will, muss man Leute von beiden Seiten zusammenbringen und zwischen ihnen übersetzen.»

Die politische Lage, die Justizreform und die Proteste

Der Wandel, der von einem sozialistischen Idealen verpflichteten Israel der Gründungsjahre zu einer modernen Start-up-Nation geführt hat, vollzog sich über Jahrzehnte. Benjamin Netanjahu sagt mit einigem Recht, dass Israel insbesondere während seiner zweiten Regierungszeit ab 2009 zu einem der offensten und modernsten Länder der Welt geworden sei. Nicht nur die Wirtschaft wurde libe­ralisiert, auch überkommene Wertvorstellungen wurden fallengelassen. Dazu zählt vor allem die Gleichstellungs­politik für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten. Während ihnen in zahlreichen islamischen Ländern der Region die Todesstrafe droht, geniessen sie in Israel volle Bürgerrechte und können in diversen Konstellationen Eltern sein.

Das Hauptproblem des Ministerpräsidenten besteht heute vor allem darin, dass die opportunistischen Taktiken, die er immer wieder einsetzt, um politische Ziele zu erreichen, dazu geführt haben, dass ihm niemand mehr vertraut. Zudem steht er aufgrund eines seit 2020 wegen Korruptionsverdachts anhängigen Gerichtsverfahrens unter solch immensem Druck der Justiz, dass Machterhalt in eigener Sache – und damit einhergehend die Vermeidung eines Gefängnisaufenthalts – für viele zu seinem einzigen identifizierbaren Anliegen geworden ist.

Die grosse Angst ist ein Auseinanderbrechen des Landes: eine Zuspitzung der Konflikte, ein Ausbruch von Gewalt, sogar die Möglichkeit eines Bürgerkrieges. Um diese manifeste Unsicherheit zu verscheuchen, bekräftigen viele ihr patriotisches Bekenntnis zu einem liberalen Rechtsstaat – mit der israelischen Flagge, aber auch mit der Hymne und in Diskussionen. Am Samstagabend nach ­unserer Ankunft Ende März zieht in Tel Aviv ein nicht ­enden wollender Demonstrationszug an uns vorbei. Während in der Innenstadt der Millionenmetropolregion etwa 450 000 Personen leben, strömen an diesem Abend laut Medien­berichten etwa 300 000 Menschen, von allen Seiten kommend, ins Zentrum. Parolen wie «Crime Minister» oder «Bibi Escobar» stehen über Netanjahus Bild auf Transparenten. Oder mit einem leicht humoristischen Einschlag: «Haven’t The Jews Suffered Enough?» und «I Came To This Country For Dick, Not For Dictatorship».

«Die grosse Angst ist ein Auseinanderbrechen des Landes: eine

Zuspitzung der Konflikte, ein Ausbruch von Gewalt,

sogar die Möglichkeit eines Bürgerkrieges.»

Das Meer an Nationalfahnen mutet endlos an. Dass die Protestierenden die blaue-weisse Flagge mit dem Davidstern ins Zentrum stellen, ist auch Ausdruck ihres Unwillens, das Nationalsymbol den als rechtsnationalistisch geltenden Regierungsanhängern zu überlassen. «Auch wir glauben an Israel und gehören dazu», lautet ihre Botschaft. Wären linksgrünliberale Schweizer und Deutsche, die mit ihren Nationalfahnen für den Rechtsstaat demonstrieren, bei uns denkbar? Während der Protest hauptsächlich einer säkularen Mitte-links-Position entstammt, bilden die Demonstranten alle gesellschaftlichen Areale ab. Zumindest visuell lässt sich keine Dominanz einer sozialen Gruppe ausmachen, und die Teilnehmer kommen aus dem ganzen Land.

Im Gespräch mit den Demonstranten wird die Angst, dass der von Feinden umringte jüdische Staat ausgerechnet an inneren Widersprüchen zerbricht, am häufigsten genannt. Die Justizreform ist allerdings auch eine willkommene Gelegenheit, dem jahrelangen Frust über sich verschiebende Wertvorstellungen freien Lauf zu lassen. In dieser Hinsicht ähnelt Israel anderen westlichen Gesellschaften, in denen in den letzten Jahren starke Polarisierungen zu beobachten gewesen sind, allen voran den USA.

Details der Justizreform spricht niemand an, darum geht es auch gar nicht. Die Kritiker auf die Strasse treibt vielmehr das dumpfe Gefühl, den liberalen Rechtsstaat an religiöse oder an rechtsradikale Fanatiker zu verlieren, die eigentlich eine gesellschaftliche Minderheit stellen. Der Reformvorschlag an sich ist tatsächlich relativ harmlos, hierin hat Netanjahu recht. Zufrieden mit der aktuellen Gesetzeslage im Justizwesen ist niemand; fast alle räumen sogar ein, dass eine Reform durchaus angebracht sei. An eine gute Reform durch eine rechtsreligiöse Koalition unter der Führung von Netanjahu glaubt aber niemand.

«Details der Justizreform spricht niemand an, darum geht es auch

gar nicht. Die Kritiker auf die Strasse treibt vielmehr das dumpfe Gefühl,

den liberalen Rechtsstaat an religiöse oder an rechtsradikale Fanatiker

zu verlieren, die eigentlich eine gesellschaftliche Minderheit stellen.»

Auf der Strasse sind viele junge Menschen zu sehen, aber auch die Generation der Boomer, die gerade das Pensionsalter erreicht, tritt sehr entschieden gegen die Justizreform ein und fürchtet einen Zusammenbruch des Staates. An einem Freitagnachmittag, als sich die Stadt bereits wegen der Shabbat-Vorbereitungen leert, empfangen die Eheleute Doron zu einem opulenten Vor-Shabbat-Essen.

Die 1953 geborene Lizzie Doron ist eine auch im deutschsprachigen Raum vielgelesene Schriftstellerin. 2021 erschien die Übersetzung ihres Romans «Was wäre, wenn …», diesen Herbst folgt «Nur nicht zu den Löwen». Gemeinsam mit ihrem Ehemann Danny, einem Steuerberater, lebt sie im wohlhabenden Norden Tel Avis in einer geräumigen Wohnung, deren Balkon sowohl den Blick über die Stadt als auch hinaus aufs Meer erlaubt. Das Paar verbringt allerdings auch sehr viel Zeit in seiner Wahlheimat Berlin, mittlerweile mehrere Monate im Jahr.

Schriftstellerin Lizzie Doron auf dem Balkon ihrer Tel Aviver Wohnung.

Lizzie wie Danny Doron verurteilen die aktuelle Regierung scharf, beteiligten sich Woche für Woche an den ­Demonstrationen und organisieren zudem kleinere politische Versammlungen. Beunruhigt sind beide auch wegen der Ultraorthodoxen, denen sie vorwerfen, finanziell von einem Staat zu profitieren, den sie politisch ablehnen – und damit auch seinen demokratischen Charakter. Die Träume der verschiedenen jüdischen Bevölkerungsgruppen seien mittlerweile schlichtweg zu verschieden, als dass sich hieraus noch eine gemeinsame politische Vision für das Land entwickeln liesse.

«Das alte Israel war der Versuch, einen jüdischen Staat auf demokratischer Grundlage zu errichten», betont Lizzie Doron resigniert und verweist auf «Was wäre wenn» als Bild für die gegenwärtige Situation. Dieser von ihr verfasste Roman spielt in einem Hospiz, und dessen einziger Ausgang führt zum Friedhof. «Meinem Empfinden nach liegt Israel nun im Hospiz. Ich sehe derzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass es hier nochmals zu einer Art Normalität kommen wird. Vielleicht überleben wir noch eine Weile. Aber jenes alte Israel? Das ist vorbei.»

Lizzies Gatte hat sich derweil in sein Büro verzogen. Es befindet sich neben dem raketensicheren Raum, mit dem alle modernen Gebäude in Israel ausgestattet sind – eine der vielen Schutzmassnahmen, um der Dauergefahr des feindlichen Beschusses zu trotzen. «In zwei Jahren sitzen wir wieder da drin», sagt Danny sarkastisch. Egal, wie pessimistisch die Lage in diesem Haushalt auch eingeschätzt wird: Die Verabschiedung ist so herzlich, als gäbe es nur das Morgen.

Zu den exponierten Gegnern der Regierungspolitik zählen auch die Salzbergers. Eli Salzberger ist Professor für Rechtswissenschaft an der Universität Haifa, seine Gattin Fania Salzberger-Oz ist Historikerin und Tochter des Schriftstellers Amos Oz. Sie empfangen uns bei sich zu Hause in Zichron Ja’akow, einem Vorort von Haifa. Wir nehmen Platz im Garten, in dem ein Zitronen-, ein Orangen- und ein Grapefruitbaum wachsen. Dahinter liegt ein grüner Hang, von dem aus der Blick bis zum Meer reicht.

Der Rechtswissenschafter Eli Salzberger und die Historikerin Fania Salzberger-Oz mit ihren Hunden im Garten ihres Hauses in Zichron Ja’akow.

«Netanjahu will einen Staatsstreich durchführen. Was er vorhat, ähnelt sehr dem, was in Ungarn und Polen geschieht», meint Eli Salzberger, der keinen Zweifel daran hat, dass der Ministerpräsident daran arbeite, die demokratische Kontrolle auf friedliche und legale Weise zu beenden. Habe das Erfolg, verlören die Bürger wiederum die Kontrolle über die Macht in der Regierung. «Die Proteste zeigen aber, dass die Zivilgesellschaft auf diesen Versuch eines Staatsstreichs vorbereitet war. Dank einer demokratischen Kultur von 75 Jahren.»

Salzberger hält die Proteste für eine Vertrauenskrise, nicht für eine Verfassungskrise: «Bis jetzt ist alles im Einklang mit dem Gesetz.» Während er zugibt, dass die aktuelle Gesetzgebung für Richter reformbedürftig sei, bleiben beide indifferent, wie eine zufriedenstellende Justizreform denn aussehen könnte. Während Eli ein parlamentarisches Zweikammersystem als Alternative ins Feld führt, wünscht sich Fania endlich eine schriftliche Verfassung für Israel: «Wir wollen Grundlagen schaffen, aber die Netanjahu-­Basis ist nicht an einer Verfassung interessiert.»

Zwei Tage nach der Demonstration in Tel Aviv begeben wir uns nach Jerusalem. Doch weil sich nach der Entlassung von Verteidigungsminister Joav Galant kurzfristig eine Grosskundgebung vor der Knesset organisiert, wird die an sich 40minütige Zugfahrt von der Küste zur israelischen Hauptstadt zur sprichwörtlichen «Reise nach Jerusalem». Da sich Menschen aus dem ganzen Land zum Parlamentsgebäude aufmachen, dauert es von Tür zu Tür mehr als vier Stunden, Dichtestress in völlig überfüllten Zügen inklusive. Es geht nur tröpfchenweise aus dem Bahnhof, in dem immer neue Gruppen ankommen, «de-mo-kra-tia!» rufen und Fahnen schwenken. Taxifahrer weigern sich, uns zum Hotel zu fahren, da die Strassen verstopft seien. Die Stimmung ist gereizt, und die berittene Polizei taucht an vielen Ecken der Innenstadt auf. Da auch die Regierungsanhänger eine eigene Kundgebung angesetzt haben, droht die Lage ungemütlich zu werden.

Doch zeitgleich gehen sehr viele andere Menschen unbeeindruckt von der politischen Aufregung ihrem Alltag nach. Dazu zählt auch die gebürtige Zürcherin Irène Pollak-Rein, die seit bald 50 Jahren in Jerusalem lebt und die Abteilung für deutschsprachige Länder der Jerusalem Foundation leitet. Für den heutigen Abend hat sie uns mit ihrem Mann Eli Pollak, Professor am Weizmann Institute of Science, zum Abendessen eingeladen. Das Paar wohnt
in einer Wohnung in der Nähe des Kurt-Parks, und die Aussicht, die sich von hier über die Stadt geniessen lässt, ist phänomenal. Statt über Politik, die sich just in ­diesem
Moment ein paar hundert Meter weg ereignet, sprechen wir über das Zusammenleben in der multireligiösen Stadt. Irène, eine überaus zuvorkommende und interessierte Gastgeberin, berichtet, dass die unmittelbare Nachbarschaft der drei monotheistischen Religionen dafür sorge, dass man sich gegenseitig ernst nehme in seinen Ge­bräuchen, aber auch in seinen bisweilen schrulligen ­Eigenheiten. Einer der vielen Enkel des Ehepaars kommt vorbei, speist und hilft seiner Grossmutter dann beim Abräumen. Er trägt Kippa, hat kürzlich Behinderte betreut und bereitet sich auf seinen Einsatz in der Armee vor. Die Demonstration hat er vom Strassenrand aus beobachtet. Welcher Seite seine Sympathien gelten, bleibt unklar. Er deutet nur an, «nicht links» zu sein.

Demonstranten am Bahnhof von Jerusalem, die sich auf den Weg zur Knesset machen, am Montag, 27. März 2023.

Für eine ganz andere Familienkonstellation steht Yonatan Sagiv. Der Literaturwissenschafter ist Autor der Krimi-Reihe um den queeren und ziemlich neurotischen Detektiv Oded Chefer, der in Tel Aviv ermittelt. Sagiv, 1979 in Herzlia geboren, beschreibt die israelische Metropole als seine erste grosse Liebe, in der er nach einem längeren Aufenthalt in New York für seine Dissertation auch wieder lebt. Demnächst wird er Vater. Sein Partner und er bilden gemeinsam mit einer Frau eine Familie, womit sie unweigerlich die radikalen gesellschaftlichen Veränderungen ­repräsentieren, die sich in den vergangenen Jahrzehnten im Land vollzogen haben. «Akzeptanz und Gleichheit sind in dem Moment real geworden, als die LGBT-Community bewies, dass sie es ernst meint mit zwei der wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen in Israel: dem Militär und mit der Familie», berichtet der Schriftsteller. Dass auch homosexuelle Paare Kinder grossziehen können, ob nun in Zweier- oder auch in Dreier- oder Viererkonstellationen, gilt hier mittlerweile als völlig normal.

Schriftsteller Yonatan Sagiv in Tel Aviv.

Sagiv beschreibt sich selbst als Optimisten. Während die gegenwärtige Politik für die hässlichsten Seiten des Landes stehe, stünden die Proteste für dessen schönste. «Als Autoren müssen wir in diesem historischen Moment für unsere Werte einstehen», sagt er entschieden. «Literatur ist eine komplizierte Angelegenheit. Sie ist ganz anders als Politik, denn sie verändert die Gesellschaft nur langsam, indem sie auf die Kultur einwirkt. Und wenn Literatur politisch zu engagiert wird, besteht die Gefahr, dass sie seicht wird und sich in Propaganda verwandelt.» Israel befinde sich aber gerade an einem entscheidenden Moment, und weder er noch seine Schriftstellerkollegen könnten es sich leisten, sich nicht an den Protesten zu beteiligen, zumindest solange das eigene Werk und das eigene Wirken unterschieden würden.

Musikerin Tamar Aphek in der Peacock Bar in Tel Aviv.

Zur selben Generation wie Sagiv zählt auch eine von Israels herausragenden Musikerinnen, Tamar Aphek. 2021 erschien ihr Debütalbum «All Bets Are Off» bei Kill Rock Stars, das zwar durch und durch Rockmusik ist, deren sehr unterschiedliche Kompositionen allerdings den Eindruck machen, als wohnte man klanglich einem Film mit höchst eigenwilliger Dramaturgie bei. Wir treffen uns in der Peacock Bar, einem beliebten Hang-out in der Marmorek Street, der gegenüber dem Nationaltheater Habima gelegen ist und dessen zur Strasse hin ausgerichtete Stühle dazu einladen, gesehen zu werden. Es ist Sonntag, 26. März 2023, und an diesem Abend wird die Regierungskrise eine weitere dramatische Wendung nehmen.

 

Aphek wuchs in Jerusalem auf und war einst Studentin der Rechtswissenschaft. Alles an ihr ist auf unaufgeregte Weise unkonventionell, angefangen bei ihrer Vorliebe für Jazz aus Afrika, dessen Rhythmen in ihren Kompositionen nur widerhallen, um etwas gänzlich Eigenes hervorzubringen, bis hin zu ihrer Managerin, bei der es sich um ihre Mutter handelt. Sie berichtet davon, wie klein die hiesige Musikszene sei, und freut sich auf ein anstehendes Konzert der amerikanischen Rocklegende Melvins sowie auf die Tour ihrer Band, die sie in diesem Frühjahr auch in die Schweiz führt. Als sie an ihrem Drink nippt, entnimmt sie auf ihrem Handy eintrudelnden Nachrichten, dass Netanjahu soeben seinen Verteidigungsminister Joav Galant entlassen habe. Aphek ist merklich getroffen, aber nicht fassungslos. «Wenn es kein Militär gibt, gibt es dieses Land nicht mehr», sagt sie mit Blick auf das schlimmste aller möglichen Folgeszenarien, bleibt jedoch gelassen.

Auf die Nachricht von Netanjahus Entscheidung hin, die sich in Israel wie ein Lauffeuer verbreitet, wird es auch um uns herum unruhig. Die ersten Gäste verlassen die Bar, um ihren Unmut kundzutun, und die ersten Israel-Fahnen schwenkenden Demonstranten passieren die Strasse, um sich in der Nähe zu versammeln. Apheks Freunde erkundigen sich telefonisch bei ihr, ob sie dazustossen werde. Eine weitere lange Nacht zeichnet sich ab.

Wie in vielen anderen Ländern zeigt sich auch in Israel der politische Konflikt zwischen linksliberalen und konservativen oder religiösen Kreisen. Wenn etwa Fania Salzberger-Oz sagt, sie fühle sich den Israelis in Berlin und den Arabern in Israel viel näher als den nationalistischen Israelis, drückt sie ein Gefühl aus, das in liberal-urbanen Kreisen weit verbreitet ist. Doch eine Anekdote, die uns von der Grossdemonstration in Jerusalem erzählt wird, zeigt, dass es so schlimm noch nicht um den Zusammenhalt unter den Israelis stehen kann. Als nämlich die Demonstranten gegen die Regierung bei der Rückkehr von der Knesset eine Gruppe kreuzen, die sich aufmacht, für die Regierung zu demonstrieren, kommt kurzzeitig eine spannungsgeladene Stimmung auf. Doch dann ruft einer aus der Gruppe, ob sie nicht die Flaggen gleich übergeben könnten, sie bräuchten auch welche – und alle lachen. Vielleicht gibt dies Anlass zur Hoffnung, dass sich noch ein Ausweg aus der festgefahrenen Situation findet.

Akademisches und militärisches Wissen

Wer Israel in den Jahren nach der zweiten Intifada, die das Land von 2000 bis 2005 mit Terrorattacken überzog, besuchte, wird sich an die allgegenwärtigen Sicherheitsvorkehrungen erinnern. So gut wie jedes grössere Gebäude hatte Security postiert, Einlasskontrollen waren alltäglich, und auch vor Restaurants standen oftmals Mitarbeiter, die genau darauf achteten, ob sich ein echter oder ein vermeintlicher Gast nähert. Heute ist die Sicherheit im Land aus geografischen Gründen ungleich verteilt: Während die Grenze zu Jordanien nahe Eilat am Roten Meer als sicherste des Landes gilt, muss die Bevölkerung in der Stadt Sderot, die direkt neben dem Gaza-Streifen liegt, permanent mit Raketenbeschuss rechnen.

Kurz nach unserer Abreise wurde Israel auch wieder aus Syrien beschossen, und in Tel Aviv fuhr ein Terrorist mit einem Auto in eine Gruppe Spaziergänger an der Strandpromenade. Eine Person starb, sechs weitere wurden verletzt. 2022 belief sich die Todesbilanz auf 31 Personen durch Terrorattacken, mehr als in den Jahren zuvor. Verletzt wurden 415. Die staatlichen Statistiken zeigen, was das Leben der Menschen im Land bedroht: 2997 Steinwürfe, 959 Raketen, 513 Molotowcocktails und Granaten wurden gezählt, dazu Messerattacken und Schüsse.

«Die staatlichen Statistiken zeigen, was das Leben der Menschen im Land bedroht: 2997 Steinwürfe, 959 Raketen, 513 Molotowcocktails

und Granaten wurden 2022 gezählt,

dazu Messerattacken und Schüsse.»

Der Campus der Universität Tel Aviv ist einer der wenigen Orte der Stadt, deren Sicherheitsvorkehrungen noch an die beiden letzten Jahrzehnte gemahnen. Wer zur Hochschule möchte, muss sich ausweisen und eine Sicherheitsschleuse passieren. Hinweise, wo im Falle von Sirenenalarm der nächste Bunker zu finden ist, sind in jedem Institut angebracht. Auf dem Gelände, das sich durch zahlreiche Gebäude von bisweilen sehr unterschiedlicher Bauart auszeichnet und nebenbei vielen Vogelarten ein innerstädtisches Refugium bietet, fällt zunächst ein paradox anmutendes soziales Detail auf: Man sieht hier deutlich mehr Kopftuchträgerinnen als im Rest der Stadt. Das hat damit zu tun, dass die Religionswissenschaft und die Forschung zum Islam an dieser Uni sehr breit aufgestellt ist. Für einen jüdischen Staat mag das widersprüchlich wirken. Doch es beweist einmal mehr, dass die antizionistische Kritik an der Lebenswirklichkeit des Landes vorbeigeht.

Der Historiker Meir Litvak ist Professor am Department für Middle Eastern Studies, Experte für die im Iran dominante und weltweit zweitgrösste islamische Konfession, die Schia, und für die Zeitgeschichte der Islamischen Republik. In seinem Büro finden sich diverse Utensilien aus dieser, in einer Glasvitrine prangt etwa ein Geldschein mit dem Konterfei von Ayatollah Chomeini. Ein direkter Austausch mit iranischen Kollegen ist jedoch nicht möglich, für letztere wäre der Kontakt zu einem israelischen Forscher schlichtweg zu gefährlich. Denn in den vergangenen Jahren sind mehrere iranische Atomwissenschafter unter ungeklärten, wiewohl aufsehenerregenden Umständen auf iranischem Territorium ermordet worden. Dazu zählt etwa der Anschlag auf den Chef des iranischen Atomprogramms, Mohsen Fakhrizadeh, der 2020 von nicht weniger als zwölf Schützen umgebracht wurde, von denen kein einziger gefasst wurde.

Auch an der Universität Tel Aviv werden die Schutzräume ausgewiesen.

Wer hierfür verantwortlich ist, dafür besteht für Litvak kein Zweifel: «Israel greift an, und bis jetzt haben die Iraner das geschluckt. Vielleicht werden sie eines Tages Vergeltung üben. Ich bin mir aber nicht sicher, ob der Iran die Bombe wirklich will», gibt er zu bedenken. Nicht weil die iranischen Führer sonderlich nette Leute seien, sondern weil sie damit ihre Bündnispartner Russland und China befremden würden: «Hätte der Iran die Atombombe, würden die Saudis alles daransetzen, sie ebenfalls zu bekommen.» Die Chancen des zivilgesellschaftlichen Aufstands im Iran schätzt er pessimistisch ein. Das Regime sei schlichtweg zu stark. Dass es vor allem junge Menschen seien, die die Revolte gewagt hätten, zeuge davon, dass ihre Eltern bereits resigniert haben dürften oder angesichts der letzten vier Jahrzehnte zu besorgt seien, um sich nochmals einer solchen Gefahr auszusetzen.

Mit praktischen Sicherheitsbelangen kennt sich Shaul Arieli bestens aus. Vor dreissig Jahren war er Brigadekommandeur im Gaza-Streifen und hat gelebt, was in «Fauda» gezeigt wird. Die Netflix-Serie, die den undercover agierenden, mythenumwobenen Einsatztruppen des Mossad ein Denkmal gesetzt hat, müsse er wirklich nicht sehen, winkt er müde ab – er streame lieber etwas Schönes. Als Buchautor zur Frage der komplizierten Grenzziehungen und als eines der Aushängeschilder der Genfer Initiative, die den Entwurf einer Zweistaatenlösung skizzierte, sucht er weiterhin nach einer Lösung des Konflikts. Gemäss Umfragen wird derzeit aber der Status quo bevorzugt. Die Idee einer Zweistaatenlösung findet auf beiden Seiten weniger als 40 Prozent Zustimmung.

Dennoch komme man nicht darum herum, die Grenze klar zu definieren, sagt Arieli. Das klappe jedoch nicht ­einseitig, sondern nur auf dem Verhandlungsweg mit den Palästinensern, und heute sei man noch nicht so weit. Zwar gebe es im Westjordanland aktuell 126 jüdische Siedlungen, von einer jüdischen Dominanz könne man jedoch nicht sprechen: «Erstens sind die Palästinenser klar in der Überzahl. Zweitens ist das allermeiste Land in ihrem Privatbesitz. Und drittens sind die Siedler, zumeist orthodoxe Juden, fast alle sehr arm. Sie haben kein Geld und erhalten kein Budget von der Regierung.»

Die Stabilität einer Grenze, so Arieli, liege in der Beziehung zwischen den beiden Seiten. Pflege man eine gute Beziehung, so mache es nichts aus, wenn Fehler passierten und Grenzen überschritten würden. Denn mit gutem politischem Willen vertraue man der anderen Seite, dass sie nicht die Absicht habe, die Grenze gewaltsam zu verändern. Seien die Beziehungen zur anderen Seite jedoch schlecht, müsse man sicher sein, dass die Grenze der Realität entsprechend verlaufe – man könne nicht Dörfer und Städte von ihren Ressourcen trennen. Er sage das auch, weil die Verhandlungen mit den Palästinensern eines Tages wiederaufgenommen würden, und dann müsse man das berücksichtigen. Drei Viertel der jüdischen Siedlungen befinden sich nahe an der grünen Grenzlinie. Einen ein­fachen Weg, um grosse Fortschritte zu erreichen, sieht Arieli in einem Landtausch: «Mit einem Abtausch von weniger als 4 Prozent der Fläche Israels könnten 80 Prozent der Israelis, die in den 1967 eroberten Gebieten wohnen, bleiben.»

Der ehemalige Mossad-Chef Efraim Halevy in seiner Wohnung nördlich von Tel Aviv.
Historiker Martin van Creveld in seinem Haus in Mewasseret Zion.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In seiner Wohnung nördlich von Tel Aviv werden wir auch von Efraim Halevy, der von 1998 bis 2002 den israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad leitete, sehr freundlich empfangen. Als guter Geheimdienstler weiss er nicht nur, was passiert ist und was gerade passiert, sondern auch, was als Nächstes passieren wird. So erwies sich seine E-Mail von Februar 2023 als geradezu prophetisch: «Sie werden zu einem Zeitpunkt in Israel eintreffen, an dem die derzeitige interne Verfassungskrise ihren Höhepunkt erreicht hat.» Tatsächlich fanden die grössten Demonstrationen zur Justizreform just dann statt, als wir Ende März in Israel ankamen.

Im fast 90minütigen Gespräch wird er jedoch seiner Natur des langjährigen Geheimdienstlers gerecht: Er hat viele schöne Anekdoten zu berichten, aber nichts zu verraten. Auf die Frage, wie realistisch die Serie «Fauda» sei, antwortet er, dass er sich dazu nicht äussern werde. Schliesslich könnten aus allem, was er dazu sage, Rückschlüsse auf den Dienst gezogen werden: «Wenn ich Ihnen sage, was an der Serie falsch ist, würde ich Ihnen unweigerlich sagen, was der Mossad ist. Und das ist etwas, wozu ich keine Genehmigung erhalten habe.»

Mitnehmen aus dem Gespräch mit Halevy kann man seine Überzeugung, dass man am Ende nur weiterkomme, wenn man mit den wirklichen Feinden spreche – Todfeinde inklusive. Und diese Bereitschaft macht er weniger denn je aus, insbesondere auch nicht bei der aktuellen Regierung. Eine Bedrohung für Juden sieht er weniger im Ausland oder vom Ausland ausgehend: «Die grösste Bedrohung für Israel ist heute eine innere Implosion.»

Militärhistoriker Martin van Creveld sieht eine Bedrohung in den inneren Unruhen im Nachbarland Jordanien, die kaum mediale Beachtung fänden. Rund eine Million ­Palästinenser lebten dort, von denen nahezu alle verwandtschaftliche Beziehungen ins Westjordanland unterhielten. Im Falle eines Umsturzes drohe der Frieden, den das Königreich Jordanien 1994 mit Israel geschlossen habe, prekär zu werden. Der Gaza-Streifen sei vergleichsweise unwichtig, da das Militär mit diesem zurechtkomme. Allerdings zeichne sich noch ein weiterer sozialer Konflikt ab. Die informelle Parole Israels und seiner Bürger lautete stets «Es gibt keine andere Wahl», was den Zusammenhalt und die Verteidigung des Staates anbelange. Diese Gewissheit scheine jedoch zu schwinden: «Die jungen Menschen im Land sind mobil und fragen sich, für wen und für was sie eigentlich kämpfen sollen: für Netanjahu? Für die Knesset? Für die Leute, die als Richter auftreten sollen?»

Geschäftige Gasse mit Cafés in Jaffa, einem Stadtteil von Tel Aviv.
Blick auf die Strandpromenade Tel Avivs.

Der neumodische Antizionismus und Israels Zukunft

Im Westen hat sich mit der «Boycott, Divestment and Sanctions»-Bewegung (BDS) eine neue, gesellschaftlich akzeptierte Form der Israel-Feindschaft breitgemacht, die insbesondere das Leben von Akademikern, die sich mit ­Israel solidarisieren, zunehmend erschwert. «Die Zustände gerade an US-amerikanischen Universitäten sind, was das angeht, katastrophal», sagt der Historiker Litvak. «Ins­besondere jüngere Fakultätsangehörige sind sehr radikalisiert. Das wird sich nur noch weiter verschärfen.»

Roni Stauber sieht dies ähnlich. Der renommierte Antisemitismusforscher hält BDS-Unterstützer, die Israels Auflösung fordern, für Antisemiten. Auch er sieht im Iran die gegenwärtig grösste Gefahr für den jüdischen Staat, während von den meisten arabischen Ländern keine Bedrohung mehr ausgehe. Im Westen hätten die Anfeindungen derweil eine neue Gestalt angenommen – siehe BDS. Stauber erinnert daran, dass der moderne Antizionismus eine linke Geschichte habe und ohne den Ostblock nicht zu verstehen sei, welcher der Verachtung der Juden nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Format ermöglicht habe und dabei zugleich auf klassische antisemitische Bilder setze – so etwa von den Juden als kleiner, aber immens einflussreicher Gruppe von Menschen, deren geheime Handlungen die Geschicke der Welt bestimmten. Die Propaganda jener Ära sei voll von solchen Vorstellungen gewesen.

Einer, der ebenfalls um all diese Konflikte, Probleme und Sorgen weiss, ist Arye Sharuz Shalicar. Der Politologe, Autor und ehemalige Sprecher der israelischen Streitkräfte wurde in Westberlin geboren und lebt heute bei Jerusalem. Er versteht sich als säkular, ist optimistisch gestimmt und blickt gelassen auf die gegenwärtigen innenpolitischen Konflikte. Die Ängste, die sich bei den Demonstrationen Bahn brechen würden, könnten sich in geraumer Zeit in Luft auflösen. An einen drohenden Bürgerkrieg, den viele unserer Gesprächspartner für möglich halten, glaubt er «in keinster Weise».

Was hingegen akute Gefahren anbelangt, macht auch Shalicar auf Teherans Einfluss im Nahen Osten aufmerksam. Dieser erstrecke sich auf eine Reihe schiitischer Terrororganisationen und Milizen in diversen Ländern, deren Armeen und Kämpfer Israel schwer bewaffnet und hochideologisch auf Tod getrimmt gegenüberstünden: von Gruppierungen im Irak und Syrien bis zu den Huthis im Jemen. Allein die im Libanon operierende Hisbollah sei im Besitz von 150 000 Raketen, eine Zahl, die alle Raketen im Besitz der Nato-Staaten (die USA ausgenommen) übersteige. All diese Waffen sammeln sich auf engstem Raum und richten sich einzig auf den Süden, auf den jüdischen Staat.

Jede Generation, die in den vergangenen 75 Jahren in Israel gelebt habe, sei mit einer anderen Situation konfrontiert gewesen, gibt Shalicar zu bedenken. Manche Feindschaften seien hinzugekommen, so eben mit dem einstigen Verbündeten Iran, aus dem nach der Islamischen Revolution der heute bedrohlichste Feind geworden sei. Damals währende Feindschaften wiederum hätten sich inzwischen in friedliche Koexistenzen verwandelt. «Wer hätte einst gedacht, dass der Erzfeind Ägypten zum stabilen Partner werden würde?»

Von den antisemitischen Versammlungen, die Jahr für Jahr von muslimischen Demonstranten in europäischen Grossstädten wie Berlin abgehalten werden, ist Shalicar angewidert: «Von allen Orten auf der Welt ausgerechnet in Berlin! Die Polizei hätte diese Kundgebungen direkt auf­lösen und ihre Funktionäre in Untersuchungshaft nehmen müssen. Das passiert aber nicht, weil Berlin einen auf weltoffen und demokratisch macht. Das ist jedoch eine riesige Lüge. Denn weltoffen zu sein, heisst nicht, knallharten ­Judenhass zuzulassen, besonders nicht bei der deutschen Geschichte. Kein Politiker meldet sich zu Wort, kein Qualitätsmedium, und von der Bürgermeisterin ist auch nichts zu hören.»

Im Moment hänge vieles davon ab, ob das iranische Regime falle. Dessen Verschwinden würde langfristig nicht nur die Region stabilisieren, sondern auch den islamistischen Einfluss auf Menschen in Europa deutlich schmälern, der zu solchen Propagandakundgebungen führe. Bis dahin müssten die Freunde Israels seinen Feinden so gut entgegentreten, wie es nur gehe. Shalicar wünscht allen Menschen in der Region, egal welcher Herkunft und Religionszugehörigkeit, Frieden. Sein Traum sei es, eines Tages der erste israelische Botschafter in Teheran zu sein. Wenn man ihm zuhört, merkt man nicht nur, wie ernst er das meint – man spürt vor allem, wie ­ansteckend sein Optimismus ist, was den jüdischen Staat anbelangt. Lang lebe Israel!

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