
Verführung zum Denken
Um moderne oder neue Musik geniessen zu können, braucht es kein Kunstbegleitgeschwätz von Kulturverwaltern. Die Lust an der ästhetischen Erfahrung kann jeder selber finden.
Kunst – ihr musikalisches Urbild ist Orpheus – setzt freie Zeit und Musse nicht nur voraus, sondern schafft und erzwingt sie. Die explizit moderne Kunst nimmt die spezifisch moderne Erfahrung des Menschen von sich als eines mit sich nicht identischen, in sich zerfallenen, konstitutiv widersprüchlichen Lebewesens in sich auf und macht sie zum Ansatz ihrer Formensprache. Und es ist wiederum die «neue Musik», die für das, was mit der Kunst dabei geschieht, einzig unter allen Künsten der Gegenwart ein explizites Bewusstsein ausgebildet und geschaffen hat: eine Sprache, eine Art Kanon der Reflexion, der eine Art Elementarlehre, Morphologie und Grammatik in sich einschliesst und mit jedem exemplarischen Werk sich verengt und erweitert.
Das «Moderne» in der Kunst ist in verschiedener Hinsicht abzugrenzen. Zum einen ist «modern» keine chronologische, sondern eine qualitativ bestimmte Kategorie: Nicht alles, was «zeitgenössisch» oder gar «zeitgemäss» oder, noch schlimmer, «aktuell» ist, ist deswegen schon modern. Und nicht alles, was an die Stelle eines Alten tritt und insofern «neu» ist, ist deswegen auch schon «modern». Was als brandaktuell und der letzte Schrei daherkommt, kann hoffnungslos antiquiert und ein alter Hut sein, und was aus einer entlegenen Zeit stammt, kann wiederum hochmodern sein: «Modern» konnte man zu allen Zeiten sein, nicht nur in der Gegenwart, und das Kriterium dafür ist, ob es einem Künstler gelingt, mit dem notwendig begrenzten Material und den notwendig beschränkten Mitteln seiner Zeit etwas in die Welt zu setzen, das diese Zeit überschreitet, weil es ihren Nerv trifft und etwas Exemplarisches und Vorbildliches darstellt.
Zum anderen ist das Moderne abzugrenzen von allen Spielarten der sogenannten Postmoderne, die eigentlich ein Etikettenschwindel ist, da es sich bei ihr um jene Antimoderne handelt, die unter den Bedingungen der Moderne selber gedeiht, von ihr hervorgebracht wird und die die selbstdestruktiven Tendenzen, die dem Modernen innewohnen, zum Syndrom werden lässt: indem sie die negatorischen Grundbestimmungen moderner Kunst und neuer Musik im Kurzschluss, also unter Umgehung aller denkerischen Vermittlung und damit per einfaches Dekret, zu positiven Glaubenssätzen erklärt. So wird etwa aus der modernen Bestimmung «Nichts in der Kunst gilt mehr unreflektiert» das elendiglich postmoderne Anything Goes, d.h. «gar nichts gilt mehr» oder «alles gilt gleich viel». Postmoderne ist derart praktizierter Nihilismus: ein Unternehmen, das den Begriff der Kunst komplett entwertet (zu einer Spielmarke, die jedwedem Phänomen aufgeklebt werden kann) und zugleich unmässig auflädt, weil nun auch jeder einfache Schund und jedes handwerklich misslungene Elaborat im Handumdrehen und ohne sachliche Rechtfertigung zur Kunst erklärt werden kann.
Arbeitsplatzsicherung von Kulturverwaltern
Keine Frage: Die sogenannte «moderne» oder auch «neue Musik» stellt an die Bereitschaft zum Nachvollzug, ans Auffassungs- und Vorstellungsvermögen der Hörer ganz andere Ansprüche als jede andere Musik vorher, was zwar auch in den zum Teil rauhen, spröden und ungehobelten Klangmaterialien, in ihrer komplexen Machart, aber vor allem darin begründet ist, dass alle Details auf das Ganze der Form in einer von jeder vorangegangenen Musik grundsätzlich verschiedenen Art bezogen sind. In einen unmittelbaren Eindruck übersetzt: «Neue Musik» läuft einem nicht so glatt und geschmeidig hinein wie Musik, die man zu kennen glaubt. Oder anders gesagt: Man ist von ihr in einem anderen Ausmass und in einer anderen Form gefordert als bei anderer Musik.
«Die sogenannte ‹moderne› oder auch ‹neue Musik› stellt an die
Bereitschaft zum Nachvollzug, ans Auffassungs- und
Vorstellungsvermögen der Hörer ganz andere Ansprüche als jede andere Musik vorher.»
Aber solche Erfahrungen und Bestimmungen sind Allgemeinplätze. Als solche dienen sie Kuratoren und Veranstaltern und anderen Kulturvermittlern und -verwaltern, bei denen Wichtigtuerei keine Dreingabe zur Haupttätigkeit darstellt, sondern ihre Profession substantiell ausmacht, längst als Legitimationstitel: Aus banalen Interessen der Arbeitsplatzsicherung müssen sie…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1111 – November 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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