Tschüss Komfortzone, hallo Einflusszone!
Herfried Münkler, fotografiert von Ralf U. Heinrichs.

Tschüss Komfortzone, hallo Einflusszone!

Ein Ende des Ukrainekriegs ist vor den US-Wahlen nicht zu erwarten. Die EU dürfte von den Ereignissen zu einer grundlegenden Reform gezwungen werden – oder weltpolitisch in die Bedeutungslosigkeit versinken.

Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich die meisten europäischen Politiker und eine Mehrheit der Menschen unter dem Eindruck des russischen Überfalls auf die Ukraine von ihren politischen Zukunftsvorstellungen verabschiedet haben: von dem Projekt, wonach wirtschaftliche Macht an die Stelle militärischer Macht als Steuerungsmedium der internationalen Ordnung treten werde; von der Vorstellung, dass verbindliche Regeln und internationale Schiedsgerichte die Interessengegensätze der Staaten klären und beilegen sollen; von der Überzeugung, dass die internationale Ordnung eine des Friedens ist, in der Kriege keine Rolle mehr spielen. US-amerikanische Autoren hatten die Europäer wegen dieser (Wunsch-)Vorstellungen verspottet: Die Europäer seien von der Venus, während die Amerikaner vom Mars seien, so Robert Kagan. Zeitweilig hatten die Europäer bei dieser Gegenüberstellung die Oberhand, denn das militärische Agieren der USA war nicht von Erfolg gekrönt. Und wo die Europäer, wie in Afghanistan, den amerikanischen Vorgaben folgten, wurden auch sie ins Scheitern hineingezogen.

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich all das verändert: Mit einem Schlag sassen die Amerikaner (sowie Polen und die baltischen Staaten) auf dem hohen Ross, und das Gros der europäischen Politiker war eher kleinlaut. Der Begriff einer «Zeitenwende» war das Eingeständnis, dass man sich beim Blick auf die zukünftige Weltordnung gründlich verkalkuliert hatte.

Nun haben die Europäer, jedenfalls ihre weit überwiegende Mehrheit, nicht nur aus humanitären Gründen dieser Ordnung, dem Frieden auf Basis einer regelbasierten Verständigung und dem Übergewicht wirtschaftlicher gegenüber militärischer Macht angehangen; sie taten das auch, weil es ihren Interessen und Fähigkeiten entsprach: Die EU hatte wirtschaftliche Macht, aber keine militärische, sie war (und ist) ein Regelgeber und Regelbewirtschafter, aber kein politischer Akteur, und man erinnerte sich mit Schrecken an die Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren Neuauflage (auch der eines Kalten Krieges) man unter allen Umständen verhindern wollte. Vor allem aber: Über wirtschaftliche Macht verfügte man und konnte sie bequem in politischen Einfluss transformieren, militärische Macht dagegen musste man erst aufbauen – und das kostete Geld, viel Geld, und würde mit erheblichen Wohlstandseinbussen verbunden sein. Das wollte man vermeiden, auch nach der russischen Annexion der Krim und dem Krieg im Donbas, auf die namentlich Deutschland und Frankreich mit einer Politik des Appeasement reagierten. Anderes wäre der Bevölkerung auch kaum zu vermitteln gewesen. Man sah den Konflikt um die Krim und den Donbas als eine postsowjetische Angelegenheit an, durch die man sich nicht von dem eingeschlagenen Weg abbringen lassen wollte. Und mit Blick auf die Weltwirtschaft konzentrierte man sich auf die Ozeane und die dort verlaufenden globalen Handelsströme und konnte sich nicht vorstellen, dass einem Binnenmeer, dem Schwarzen Meer, eine weltwirtschaftlich ausschlaggebende Rolle zufallen könnte.

Auch darin hatte man sich getäuscht. Es spricht vieles dafür, dass beim russischen Agieren gegenüber der Ukraine, von der Krim-Annexion bis zum Angriffskrieg seit Fe­bruar 2022, das Schwarze und das Asowsche Meer eine grössere Rolle spielen als das Interesse an der Schwerindustrie und den Bodenschätzen im Donbas. Durch die Fixierung auf Wirtschaftsbilanzen hatte man in Europa verlernt, sich mit geopolitischen Konstellationen zu beschäftigen. Die Konzentration auf Regelbindung, wirtschaftliche Macht und freien Welthandel sollte ja gerade den Einfluss der Geopolitik auf die Weltordnung zum Verschwinden bringen. In den USA und Russland sah man das anders: In den geopolitischen Entwürfen, die Zbigniew Brzezinski für die USA und Alexander Dugin für Russland am Ende des 20. Jahrhunderts ausarbeiteten, spielte das Schwarze Meer und seine geografische Umgebung für die Frage, wer in der Weltpolitik und der Weltwirtschaft wie viel zu sagen hatte, eine herausgehobene Rolle. In der nun entstehenden Weltordnung jedenfalls werden geopolitische Überlegungen mitsamt den daraus resultierenden Konkurrenzen und Konflikten eine sehr viel grössere Rolle spielen als in den zurückliegenden drei Jahrzehnten, in…