Vom «A» zum «Ich»
Deutsche Identität und deutsches Nationalbewusstsein
Über Fragen der Identität lässt sich allenfalls fragmentarisch sprechen. Als Heidegger den «Satz der Identität» erör-terte (1957) – entlang gewisser denkerischer «Holzwege» –,wollte er einen existentiellen Zusammenhang darstellen und ging daher von dem für ihn Nächstliegenden aus: A=A, die Urformel der Identität. Der sich dezidiert als deutscher Philosoph verstehende Johann Gottlieb Fichte hatte diese Formel mit bereits eindeutig nationalen Hintergedanken neu ins Spiel gebracht: Ich=Ich. Da lag es nur zu nahe, ein solches «Ich» durch «Nation» zu ersetzen, und aus diesem Trugschluss konnte unheilvolle Ideologie werden.
A=A ist eine der philosophischen Pseudogleichungen, die nicht aufgehen können und nur den Anschein von Stimmigkeit erwecken. Denn A ist nie nur A; das Ich ein Konglomerat von Bestimmungs- und Wesensfaktoren; und die Nation ein widrig-notwendiges Unding, ein Etwas, in das man hineingeboren wird, es sei denn man kommt im Niemandsland zur Welt oder wächst unter fahrendem Volk auf. Wer im tiefsten bodenständigsten Hinterland aufgewachsen und versucht ist, vorschnell zu sagen: Ich=Landschaft=Heimat, der braucht sie am dringendsten: eine Injektion aus Zigeunerweisen.
Wir haben wieder Anlass, über das Deutsche nachzudenken, über das Französische oder das Britische, nein, Englische, Walisische, Schottische, (Nord-)Irische nicht minder, vom Polnischen oder Türkischen zu schweigen. Dieses Interesse an nationalen Bewusstseinsformen scheint den globalisierenden Vereinheitlichungstendenzen geschuldet wie auch der Frage nach einer gesamteuropäischen Identität, die eine Verfassungsfrage in dem Sinne ist, dass sie die Frage nach der inneren Verfasstheit dieser angestrebten Staatensynthese stellt. Gegenwärtig betont man wieder stärker die Divergenzen innerhalb Europas, sagt, Europa sei die Form, in der die nationalen Unterschiedlichkeiten zu sich selbst finden könnten. Beinahe vergessen scheint die kompliziertere Formel politischer Gemeinschaftsidentität, auf der «Europa» seit den Römischen Verträgen (1957) aufgebaut wurde – jene von der «ever closer union», die der Maastricht-Vertrag noch einmal bekräftigte, nicht aber der Europäische Verfassungsentwurf.
Sobald die Frage nach der Identität die persönliche Dimension verlässt und sich auf das Nationale bezieht, wird sie unwillkürlich nur noch assoziativ verhandelbar. Man gerät ins Aufzählen von Faktoren und Impressionen, Emotionen und Loyalitäten. Identität ist Sprache; sie artikuliert sich sprachlich. Heidegger formulierte, als die Formel A=A im Laufe seiner Erörterungen zu zerfasern drohte: «Das Wesen der Identität ist ein Eigentum des Er-eignisses.» Schon wahr: der Prüfstein der Identität ist ein jeweiliges Geschehen oder ereignishaftes Empfinden und die Art, wie sich das Ich und die Anderen dazu stellen. Das Nationale suggeriert, dass aus dem Ich und den Anderen eine Gemeinschaft von Ähnlichgesinnten werden kann oder geworden ist. Diese entsteht durch das Empfinden, bestimmten Ritualen oder Traditionen verpflichtet zu sein. Sie hat mit der Akzeptanz von Wertordnungen zu tun.
Gegenwärtig erlebt zum Beispiel Berlin eine Serie von Tragödien, bei denen an jungen Türkinnen von den eigenen Familien Fememorde verübt werden, weil jene «zu deutsch» lebten, sich zu deutschen Lebensformen hin emanzipierten, also schlicht das erfüllten, was ihnen als Integrationsaufgaben gestellt worden war – von einer Gesellschaft, die sie jedoch kaum vor solchen innerfamiliären Strafexekutionen schützen kann. Ein Extrembeispiel, gewiss. Aber der Sinn von Identität und Integrativität erweist sich in der Art, wie diese sich bei Ausnahmen oder Krisensymptomen bewähren. Welche Wesensidentität hat eine ihrer Familie entfremdete, dem Kopftuch entsagende alleinerziehende türkische Mutter am Prenzlauer Berg? Was spielt sich in ihr ab, wenn sie ihren Brüdern gegenübersteht, die zur Gewalt gegen sie bereit sind? Ein gestandener Stammtischler in, sagen wir, Nördlingen hat es da mit seiner Identität womöglich einfacher. Beide aber gehören zu einer deutschen Kulturgemeinschaft.
Wenn ich «deutsch» sage, denke ich – ein Londoner aus dem Schwarzwald – unwillkürlich an Thüringen. An die Bahnstrecke von Eisenach nach Naumburg etwa. Sie gewährt, so finde ich, die vielleicht tiefsten Einblicke ins Deutsche. Thüringen, eine Seelen-und Leidenslandschaft: vom Lugeck auf der Wartburg sieht man bei klarem Wetter mühelos bis Buchenwald. Wem es da nicht fröstelnd über den Rücken rieselt, der steht dem Deutschen zumindest fern. Vom Anblick des Bachschen Geburtshauses, von der Altenburg, von Weimar, diesem Ort gewordenen Kondensat erinnerter Geistigkeit, rede ich erst gar nicht. Nicht von Schulpforta und dem Naumburger Dom; nicht von der Tannhäuser-Welt und der faustischen Gruft, aber doch von Meiningen und den verschwebenden mokant-melan-cholischen Klarinettenklängen eines Brahms; ich gebe unumwunden zu, dass ich noch einen Niveauunterschied behaupte zwischen dergleichen und dem Verblödungsgetalke auf zu vielen deutschen Televisionskanälen, die alles haben, nur keine Vision.
Man erinnere sich: kaum war die Mauer gefallen, da klagten bundesdeutsche Neokonservative ein neues deutsches Selbstbewusstsein ein. Eine englische Tageszeitung fragte daraufhin halb verständnisvoll, ob es das nun gebe: «A new German self consciousness?» Was im Englischen in erster Linie «Befangenheit» meint. Man sieht, manche Anwandlungen von Sympathie können sich Übersetzungsfehlern verdanken.
Warum nur hat das Konstituieren von Identität immer etwas Geschmäcklerisches, Befangenheit Auslösendes, zumal für jene, die sich vor Festlegungen scheuen, geschweige vorm Selbst-festgelegt-Werden? Das Fixierende an der Identität setzt tatsächlich voraus, dass es Faktoren gibt, mit denen wir uns in Deckungsgleichheit bringen wollen oder gebracht worden sind. Das poetisch-ästhetische Ideal lautet dagegen: Identisch werden mit der Verwandlung.
Im Zeitalter des globalen Kulturtransfers hat «Identität» etwas von einem Hemmschuh. Und doch genügt eine einzige (inter-)nationale Sportveranstaltung, um jedermann vor Augen zu führen, dass Identität vor allem etwas mit Identifikation zu tun hat, mit Mobilisierung elementarer Gefühle, die bis zur kollektiven Ekstase reichen können. Keinem kollektiven Phänomen hat sich der Intellektualismus im Zeitalter der Ideologien entschiedener gestellt als dem der Massenbildung in der Moderne. Für Ortega y Gasset bis Hermann Broch, für George Orwell bis Elias Canetti steht die Frage nach dem Verhältnis von Individualisierung und Vermassung im Zentrum ihres Verständnisses von Identität. Die (bis zum Wahnhaften steigerungsfähige) Ambition des Einzelnen, sich von der «Masse» abzusetzen, hat das Zeitalter der Diktatoren mitbegründet, aber auch den Starkult in der Kunst, im Sport und in der Unterhaltungsindustrie. Dies wiederum setzt voraus, dass sich «Massen» (ver-)führen lassen wollen; dass wenige vielen ihre Identität vorschreiben können. Das kritische Bewusstsein verliert dabei – zumindest zeitweise – seine Kontrollfunktion. Genauer gesagt: es suspendiert sich zugunsten eines «anderen» per se unreflektierten Interesses, das zumeist propagandistisch-ideologisch, in der Konsumgesellschaft primär kommerziell vermittelt wird.
Wann denken wir an unsere «Nation»? In Ausnahmezuständen. Wenn sie bedroht wird durch terroristische Ak-tionen oder Naturkatastrophen. Wenn sie ihr (im deutschen Falle notorisch) verspätetes Sich-in-Szene-Setzen zur neuen Zeitgemässheit erklärt. Manchmal lösen auch Wahlergebnisse Identitätskrisen aus; so geschehen bei den Bundestagswahlen vom 18. September 2005. Die Identitäten sehen sich mit einem Mal eher fremdbestimmt. Partikel des Anderen, um Emmanuel Lévinas zu bemühen, konditionieren das, was man für das Eigene hielt. Schwarz und Rot arbeiten gleichzeitig an Besitzstandswahrung und wechselseitiger Durchmischung. Das Neoliberale weiss, dass es allein nicht mehrheitsfähig ist und dürfte weiterhin entschlossen in der Opposition bleiben.
Was bei allem auffällt: die Ruhe, die Gelassenheit im Grunde, das Spielerische, das diese deutsche Demokratie inzwischen auszuzeichnen scheint, trotz diesem paralysierenden, aber auf neue Dynamiken setzenden Wahlergebnis, trotz Reformstau, Massenarbeitslosigkeit und Hartz IV-Elend.
Und alles das an der Schwelle zum Heine-Jahr: kann nun endlich weiterschlafen, wer an Deutschland in der Nacht denkt? Oder droht der deutsche Tagtraum von einer Symbiose neoliberaler Markttugenden und sozialer Fürsorge zum Alb zu werden? Salomonisch hoffnungsvoll gesprochen: Deutschlands Rolle in der Welt war, Geburtshelfer und Peiniger des Weltgeistes zu sein. Seine jetzige und künftige Funktion ist und möge bleiben, Heimstatt des (selbst-)kritischen Reformbewusstseins zu werden.
Rüdiger Görner, geboren 1957 in Rottweil am Neckar, lebt seit 1981 in London. Er ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Kulturgeschichte am Queen Mary College, University of London.