Die 20-Millionen-Gartenschweiz
Thomas Sevcik, fotografiert von Daniel Jung.

Die 20-Millionen-
Gartenschweiz

Die Schweiz hat grosses Potenzial für weiteres Wachstum. Um die im politischen System angelegte Tendenz zum gleich verteilten Siedlungsbrei zu überwinden, braucht es neue Formen – die Linie, das Rechteck und die Wolke.

Die Schweiz wächst und wächst – zumindest einwohnermässig. War vor einigen Jahren noch die 10-Millionen-Schweiz ein Schreckgespenst am weiten Horizont, so wird diese Zahl in den nächsten Jahren mit Sicherheit gerissen. So ist denn auch bereits die Rede von einer potentiellen 20-Millionen-Schweiz. Wer das ex­trem findet, der schaue sich die Kommentare an, als die Schweiz die 6-Millionen-Marke überschritt. Von Überbevölkerung und schlimmer Verstädterung war die Rede. Vom Verlust der Eigenart des Landes.

Interessanterweise schlägt nun heute fast niemand mehr Alarm. Die «Dichtestress»-Diskussion von vor acht Jahren im Rahmen der «Masseneinwanderungsinitiative» ist fast verstummt. Die schwierige Phase des Übergangs von einer rural geprägten Schweiz mit ein paar mittelgrossen Städten zu einer stark urbanisierten Schweiz mit ein paar ruralen Regionen ist überwunden. Denn Urbanität entstand nicht nur in den Metropolregionen am Zürich- und Genfersee, sondern eben auch in kleineren Städten von Altdorf bis Sion.

De facto ein Stadtstaat

Was machen wir nun also mit dem De-facto-Stadtstaat Schweiz? Bauen wir ihn zu? Versuchen wir, ihn künstlich zu enturbanisieren, um eine entschleunigte Alpenidylle zu erhalten? Oder lassen wir das «Weiter so» zu und verfolgen, wie er zu einem schlechten Mutanten zwischen Stadt und Land wird, zu einer Art Zwischenstadt?

Die bisherigen Strategien haben gemischte Ergebnisse hervorgebracht. Das liberale Laisser-faire in Kombination mit der starken Gemeindeautonomie hat zum heutigen Olivgrün geführt: Es besteht aus grauolivem Siedlungsbrei mit eingesprengten Grünflächen und einem satten Landgrün – durchsetzt von erstaunlich vielen graubraunen Bauten und Infrastrukturanlagen.

Die in den letzten Jahren stark geforderte und gesetzlich verankerte Verdichtung nach innen hat lokal gut gewirkt: Die Siedlungen wurden kompakter, die Ränder tendenziell schärfer. Die Zersiedlung in der grossräumigen Betrachtung (etwa Mittelland, Alpenhaupttäler oder Tessin) wurde mit dem massiv gestiegenen Mobilitätsangebot nicht gestoppt. Im Gegenteil: Es entstanden viele paraurbane Gebilde, die als Dörfer zu gross, aber als Städte zu klein sind.

Diese 4000 bis 8000 Einwohner zählenden Zwischengebilde sind sozusagen eine Schweizer Spezialität. Sie sind zu gross, um ein wirkliches Dorfgefühl zu erhalten, was sehr einfach daran zu erkennen ist, dass man sich auf der Strasse nicht mehr grüsst. Und zu klein, um stabile urbane Strukturen und Angebote aufbauen zu können. Das Resultat davon ist ein S-Bahn-Anschluss in die Metropolen und mehrere hässliche Grossverteilerboxen an den Ausfall­strassen. Für beide Phänomene sind solche Zwischen­gebilde die ideale Marktgrösse.

Politisch zur Zersiedelung verdammt

Eine alternative Idee waren die immer wieder aufpoppenden Architektenvisionen einer Metropolschweiz: also Hongkonghochhäuser am Zürichsee, wie sie etwa das niederländische Architekturbüro MVRDV für Avenir Suisse darstellte, oder eine massive Stadterweiterung und -verdichtung in den grossen Vorortsgürteln, wie sie beispielsweise das Büro «Krokodil» für das Zürcher Glatttal oder Herzog und de Meuron für ein Grossbasel entwickelt haben. Diese Ansätze sind zwar theoretisch sinnvoll – bezüglich Energieverbrauch, Mobilitätskosten und Landschaftsschutz –, politisch wie auch gesellschaftlich jedoch kaum umsetzbar.

Derartige Megastädte würden das helvetische Kantonsgefüge durcheinanderbringen und massive Veränderungen sowohl beim Zuschnitt und der Anzahl der Kantone als auch beim politischen System generell nach sich ziehen. Ein 5-Millionen-Stadtkanton Zürich mit einem Bruttosozialprodukt von Österreich (heute hat Zürich bereits die wirtschaftliche Grösse von Ungarn!) würde sich schlichtweg weigern, nur zwei Ständeratssitze zu haben: Er würde aller Voraussicht nach aus der Schweiz austreten. Ein im Vergleich dazu praktisch unberührter Landkanton wie Jura würde seine Rechte über die Zeit verlieren.

Kurzum, die Schweiz ist aus politischen Gründen zum Siedlungsbrei verdammt. Doch auch ein Brei kann gut gemacht werden. Der strategische Koch benötigt dazu nur drei geometrische Formen: Linien, Rechtecke und Wolken.

«Die Schweiz ist aus politischen Gründen zum Siedlungsbrei verdammt.»

Linien, um klarere Grenzen zwischen Siedlung und Land zu ziehen. Das wird in Zukunft einfacher sein, denn ein Ende der heute herrschenden «Bauernhof»-Struktur ist in Sicht.…