«Wir haben vergessen, dass nichts völlig risikofrei ist»
Lenore Skenazy by Evan Mann.

«Wir haben vergessen, dass nichts völlig risikofrei ist»

Helikoptereltern schaden der Entwicklung ihrer Kinder und machen sie als Erwachsene weniger widerstandsfähig, sagt Lenore Skenazy. Sie rät dazu, Kindern mehr Zeit allein einzuräumen.

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Als wir aufwuchsen, gingen wir nach dem Mittagessen zum Spielen raus und unsere Eltern sagten uns, wir sollten zum Abendessen zurück sein. Handelten sie damit verantwortungsbewusst oder nachlässig?

Jeder, der über 35 ist, ist so aufgewachsen, auch ich. Meine Mutter hat ihren Job aufgegeben, um mit mir und meiner Schwester zu Hause zu bleiben. Niemand erwartete von ihr, uns zur Schule zu bringen und abzuholen. Oder uns die ganze Zeit zu beobachten, wenn wir draussen spielten. Niemand hielt ein solches Verhalten für notwendig. Ich nenne das «Free-Range Parenting», aber damals war das einfach nur eine normale Erziehung. Heute denken manche Eltern, dass Kinder niemals allein sein sollten. Nicht einmal für eine Sekunde.

 

Eltern scheinen in ständiger Angst um ihre Kinder zu sein. ­Ausserdem sind sie stets besorgt, etwas falsch zu machen. ­Warum haben sie ihr Selbstvertrauen verloren?

In den letzten ein oder zwei Generationen hat sich vieles verändert. Der offensichtlichste Faktor sind die Medien: Als ich aufgewachsen bin, gab es drei Fernsehkanäle; die Nachrichten dauerten eine halbe Stunde und wurden von einem Mann präsentiert, der von einem Blatt Papier ablas. Heute gibt es rund um die Uhr einen unablässigen Strom von News und einen starken Wettbewerb um Zuschauer. Um das Jahr 1980 erkannte die Medienbranche, dass Geschichten von Kindesentführungen in diesem Ringen um Aufmerksamkeit wahnsinnig gut funktionierten: In den USA etwa gab es zwei grosse Storys um entführte Kinder. Über die eine Entführung wurde eine Miniserie gedreht, die alle Zuschauerrekorde brach. Am Ende dieser Serie wurden Bilder von anderen vermissten Kindern gezeigt. Danach landeten Bilder von vermissten Kindern sogar auf Milchpackungen.

 

Es ist verständlich, dass dies die Eltern verängstigt …

Das National Center for Missing and Exploited Children hat nie erklärt, dass es sich bei den Köpfen auf den Milchpackungen meistens um Entführungen im Rahmen eines Sorgerechtsstreits zwischen geschiedenen Eheleuten handelte oder um Kinder, die von zu Hause geflüchtet waren. Die Organisation sprach von 50 000 Kindern, die in den USA jedes Jahr von einem Fremden entführt würden – die tatsächliche Zahl lag jedoch bei 100 bis 300. Der Funke war aber entzündet: Die Vorstellung, dass Kinder in Gefahr seien, sobald sie das Haus verlassen würden, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Wir Amerikaner sind zu einer Kultur übergegangen, die stets den schlimmsten Fall annimmt.

 

Würden Sie sagen, dass dies ein Phänomen der wohlhabenden Länder ist, in denen sich die Menschen um nichts anderes ­kümmern müssen?

Ja. Ich denke, Amerika ist schuld an allem, was sich in anderen Ländern in bezug auf die Erziehungsnormen geändert hat. Weil die Eltern hier Angst haben, denken sie, dass ihre Kinder einer massiven Aufsicht bedürften. Ausserdem leben wir in den USA in einer Kultur der Rechtsstreitigkeiten: Wenn etwas schiefgeht, will ich jemandem die Schuld geben oder ihn verklagen.

 

Und die Medien erhöhen die Angst mit ihrer Berichterstattung.

Zu Beginn jedes Schuljahres in den USA wird in den Lokalnachrichten über ein Kind berichtet, das an der falschen Bushaltestelle ausgestiegen ist. Die Journalisten verwenden immer dieselbe Erzählung: Anstatt über das Kind zu berichten, das sicher, klug und selbstbewusst ist, sprechen sie über eine Mutter, die ihr Kind aus den Augen gelassen hat. Passiert ist zwar nichts, aber es hätte doch etwas passieren können, lautet dann das Narrativ.

 

Welche Auswirkungen hat dies?

Wir scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, zu verstehen, dass nichts völlig risikofrei ist. Die Menschen verlangen nach absoluter Gewissheit. Sie können nicht mehr zwischen geringem und hohem Risiko unterscheiden – sie sehen nur noch Risiko oder kein Risiko. Und es scheint, dass nur dann kein Risiko besteht, wenn ich jede…