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INTRO

«Die Menschheit tritt gerade in ein neues Stadium ein. Wir merken es, aber wir wollen es nicht wahrhaben. Noch nicht.» – Slavoj Žižek1

Im Juni kontaktierte ich Jürgen Schmidhuber für ein Gespräch zum Thema künstliche Intelligenz (KI). Die positive Rückmeldung des KI-Pioniers per Mail kam prompt, samt einem etwas wunderlich anmutenden Textkonvolut und der Bitte, dieses vor unserem Austausch zu studieren: eine knapp 15seitige Sammlung aus Hunderten von Links zu Lernplattformen, Science-Fiction-Kunstprojekten, internationalen Presseartikeln, privaten Blogs, von KI geschriebenen Drehbüchern und detaillierten Diskussionsprotokollen. Also studierte ich die wilde Sammlung, die im Kern – ich kürze ab – das Thema KI anhand verschiedener Entwicklungen umreisst: selbstlernende neuronale Netze aus einem Bürogebäude in Manno (TI), rasant wachsende Rechenkapazitäten, autonom agierende Roboter, obsolet werdende Jobprofile, die Kolonisierung des Weltalls ohne humane Beteiligung …

An Tag drei des Studiums ertappte ich mich erstmals bei dem Gedanken: könnte mir ein von Schmidhuber eingesetzter intelligenter Automat geantwortet und die Liste geschickt haben, um lästige Medienanfragen mit enormem Arbeits- und Rechercheaufwand zu kontern? Quatsch. Ich studierte weiter. Wenige Wochen später, von Schmidhuber hörte ich auf Nachfrage plötzlich nichts mehr, war ich mir fast sicher: eines der von ihm erdachten, selbstlernenden Systeme musste Schmidhubers KI-Bude im Tessin klammheimlich übernommen und sich kommunikativ selbständig gemacht haben!

Das mag sich hier und jetzt absurd anhören, erschien nach dieser Recherche aber als durchaus plausibel, denn: Was stets ferne Zukunft schien, ist vielfach längst Realität geworden. Schmidhuber, der sich dann doch noch meldete, durchaus einen lebendigen Eindruck hinterliess (was Sie hier überprüfen können) und erst im August vor einem von künstlichen Intelligenzen angezettelten Dritten Weltkrieg warnte, ist einer der weltweit prominentesten Vorreiter der KI-Forschung. Dennoch hat die Öffentlichkeit – zumindest in der Schweiz – bisher keinen blassen Schimmer von den revolutionären Entwicklungen, die quasi unter aller Augen, in der Agglo von Lugano, vorangetrieben werden. Das mit der Smartwatch synchronisierte Facebookkonto ist längst nicht das Ende der digitalen Fahnenstange: «Liberale Gewohnheiten wie demokratische Wahlen», so der Historiker Yuval Noah Harari in seinem jüngsten Buch «Homo Deus», könnten «obsolet werden, denn Google wird in der Lage sein, sogar meine politischen Überzeugungen besser zu repräsentieren als ich selbst.» Wieso gibt es bei diesen Aussichten keinen Aufschrei – gerade unter Liberalen? Ist das nicht der Anfang vom Ende unserer individuellen Freiheiten?

Harari steuert zu dieser zentralen Gegenwartsfrage den Eröffnungsessay unseres Dossiers (hier) bei, und Praktiker aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik (u.a. der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsiger) diskutieren, kontern und ergänzen seine provokanten Thesen. Unsere Titelgeschichte (hier) kommt derweil von einer Frau, die schon seit den 1970er Jahren am MIT forscht und die rasanten Sprünge der Digitalisierung alle hautnah miterlebt und analysiert hat: Sherry Turkle. Sie ist keine Informatikerin, kein Silicon-Valley-Guru aus einem Dave-Eggers-Roman, sondern nüchterne Soziologin. Seit Jahrzehnten untersucht sie, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf den einzelnen hat, genauer: wie unsere vernetzten Spielzeuge mit uns interagieren – wie wir uns ihnen anpassen, nicht andersherum.

Das darf, nein das muss auch all jene interessieren, die beim – zugegebenermassen medial etwas ausgeleierten – Buzzword «Digitalisierung» aktuell nur noch mit den Schultern zucken.


 

Michael Wiederstein
Chefredaktor


1 «Digitalisierung und künstliche Intelligenz: Das Ende der Menschlichkeit», in: NZZ vom 23.08.2017.

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