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Indien geht seinen eigenen Weg – und heisst andere willkommen
Saurav Jha, zvg.

Indien geht seinen eigenen Weg – und heisst andere willkommen

Indien lehnt eine bipolare Weltpolitik ab und strebt eine blockübergreifende Architektur zur Globalisierung an. Begreift das der Westen, können beide Seiten von einer Zusammenarbeit profitieren.

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Auf der Veranstaltung einer Denkfabrik in Washington im September 2023 erklärte der indische Aussenminister Subrahmanyam Jaishankar, Indien sei zwar «nicht westlich», aber auch nicht «antiwestlich». Dies ist eine sehr wichtige Unterscheidung, denn sie bedeutet, dass Indien zwar eine Neuausrichtung der bestehenden Weltordnung anstrebt, um sein eigenes übergreifendes Ziel der Entwicklung mit Sicherheit voranzubringen, aber nicht beabsichtigt, an ihrer Ablösung mitzuwirken. Das entspricht Indiens ureigenem Ansatz in der Weltpolitik, bei dem tiefe Beziehungen gegenüber Machtkonstruktionen bevorzugt werden. Der Inhalt und sogar die Form solcher Beziehungen werden sich mit der Zeit entwickeln, wenn das aufstrebende Indien sie für wirtschaftlichen Wohlstand und die Verbreitung seiner eigenen Vorstellungen von Zivilisation nutzt. Aber Neu-Delhi würde niemals versuchen, die bestehende auf Regeln basierende Ordnung selbst zu untergraben. Indiens eigentümliche Weltanschauung zu verstehen, ist auch der Schlüssel, um seinen Platz in einer Welt zu finden, die durch die amerikanische und chinesische Blockmentalität sowie durch Neu-Delhis anhaltende Umarmung Russlands zerrissen ist.

Indien lehnt die bipolare Nullsummenmentalität seit langem ab. Und es wird dies in der heutigen Welt, in der es sich strukturell in einer besseren Position befindet als während des Kalten Krieges, mit noch grösserem Nachdruck tun. Indiens wirtschaftliches Potenzial und seine wachsenden Fähigkeiten erlauben es dem Land, eine sogenannte «Multi-Alignment-Strategie» zu verfolgen, bei der es versucht, multilaterale Gruppierungen von innen heraus zu gestalten. Diese Strategie zielt darauf ab, sicherzustellen, dass Indien nicht von Entscheidungen, die anderswo getroffen werden, überrascht wird, während es gleichzeitig ein Netz von separaten Beziehungen aufbaut, die seine eigenen Interessen in bezug auf Klimawandel, globale Finanzen und internationale Sicherheit fördern. Daher ist Indien gleichzeitig Mitglied der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und der Quad-Ländergruppe. Interessanterweise sind andere Länder, vor allem im globalen Süden, inzwischen empfänglich für Indiens Vorgehensweise und ahmen diese Strategie nach. Die jüngste Aufnahme von sechs neuen Ländern, darunter Saudi-Arabien, Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Äthiopien und Argentinien, in die BRICS-Gruppe ist ein typisches Beispiel dafür. Während des Kalten Krieges verfügten die meisten dieser Länder nicht über das notwendige Rüstzeug und die nötige Entschlossenheit, um sich nicht einer blockgesteuerten Geopolitik zu unterwerfen. Heute haben sie jedoch eindeutig das Selbstvertrauen, ihre eigenen Strategien der Blockbildung zu verfolgen, und sie scheinen sich in dieser Hinsicht mit Indien abzustimmen. War Indien während des Kalten Krieges ein Vorreiter der Blockfreien-Bewegung, so scheint es heute zu einem Stützpfeiler der vielfältigen Ausrichtung geworden zu sein.

Ablehnung der eurozentrischen Sicht

Nun ist Indiens Multi-Alignment-Strategie kein typisches globales Mittelmachtspiel, bei dem das Land einfach versucht, das Beste aus beiden Welten herauszuholen, wenn es das kann. Entgegen der gängigen Meinung veranschaulicht das nichts besser als Indiens Unterstützung der russischen Wirtschaft durch massive Ölkäufe nach dem Einmarsch des Landes in die Ukraine und den daraufhin verhängten westlichen Sanktionen. Dass Indien so gehandelt hat, obwohl es damit die Missbilligung des Westens riskierte, hat weniger mit der Abhängigkeit Indiens von Russland bei der Versorgung mit militärischen Ersatzteilen zu tun oder damit, dass Neu-Delhi in einer Zeit des Inflationsdrucks billiges Öl aufsaugen wollte – die beiden beliebten Gründe, die im Westen als Erklärung für Indiens Verhalten angeführt werden. Indiens Entscheidung hat vielmehr mit dem Festhalten an einer langfristigen Beziehung zu tun. Indien signalisiert damit der Welt, dass es nicht zulassen, dass einer seiner wichtigsten strategischen Partner, Russland, wegen des Krieges in der Ukraine isoliert wird, nur weil der Westen einen europäischen Konflikt für wichtiger hält als Konflikte auf anderen Kontinenten. Diese Ablehnung einer eurozentrischen Sichtweise hat auch im weiteren globalen Süden Anklang gefunden, wie die Tatsache zeigt, dass Länder, die fast die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, sich bei der UN-Abstimmung vom Oktober 2022, mit der Russland für seine illegale Annexion ukrainischen Territoriums verurteilt wurde, der Stimme enthalten haben.

«Indien wird nicht zulassen, dass einer ­seiner wichtigsten strategischen Partner, Russland, isoliert wird, nur weil der Westen einen europäischen Konflikt für wichtiger hält als Konflikte auf anderen Kontinenten.»

Natürlich ist auch Indien nicht damit einverstanden, dass Russland versucht, die auf Regeln basierende Ordnung umzustossen. Deshalb hat Indien zivile Hilfe in die Ukraine geschickt und steht darüber hinaus in regelmässigem Kontakt mit der dortigen Regierung. Indiens Premierminister Narendra Modi sagte dem russischen Präsidenten Wladimir Putin während eines bilateralen Treffens am Rande des SOZ-Gipfels im September letzten Jahres, dass «die heutige Zeit nicht vom Krieg geprägt ist». Nach Ansicht von Neu-Delhi gibt die indische Ukrainepolitik dem Land den nötigen Spielraum, um sich als ehrlicher Gesprächspartner zu profilieren, der in der Lage sein könnte, die gegnerischen Seiten notfalls zusammenzubringen. Russland im Gespräch zu halten, ist auch Teil der indischen Politik, den Kreml nicht noch weiter in Richtung Peking abdriften zu lassen, als es bereits geschehen ist. Darüber hinaus ist inzwischen bekannt, dass Indiens Käufe von billigem russischem Öl auch Europa zugutekommen, da ein Grossteil des Öls von grossen indischen Raffinerien als Diesel und Kerosin reexportiert wird, da diese die Flexibilität haben, verschiedene Rohölsorten zu verarbeiten.

Tatsächlich haben Indiens Raffineriekapazitäten und -fähigkeiten dazu gedient, seine wachsende geoökonomische Bedeutung zu unterstreichen. Insbesondere, da der Dreh- und Angelpunkt des wachsenden Verhältnisses Indiens zum Westen auch in der Geowirtschaft liegt. Noch einmal: Im Gegensatz zum heutigen Gruppendenken gehe ich davon aus, dass die indisch-westliche Konvergenz nicht in erster Linie durch die gegenseitige Notwendigkeit, ein Gleichgewicht mit China zu finden, angetrieben wird. Zwar spielen gemeinsame Sicherheitsbedenken gegenüber China eine Rolle, doch die eigentliche Triebfeder der Beziehung ist das Bedürfnis des Westens, eine neue deflationäre Kraft in Form des indischen Arbeiters ins Spiel zu bringen, und Indiens Bedarf an externen Märkten, um sich schneller zu industrialisieren. Nur Indien kann letztlich die Grössenordnung bieten, die erforderlich ist, um globale Lieferketten von Risiken zu befreien – eine Wette, die wichtige US-Unternehmen wie Apple zunehmend einzugehen bereit sind. Natürlich ist auch Indiens eigener grosser Markt immer ein Anziehungspunkt.

Abgesehen von der übertriebenen Vorstellung, dass der Westen im allgemeinen und Amerika im besonderen Indien als strategisches Gegengewicht zu China hofieren, ist auch die offizielle Rhetorik über gemeinsame Werte eine heikle Angelegenheit. Jahrelang vermittelten Indiens anglophone Elite und die von Westminster geprägte Demokratie den USA das Gefühl einer oberflächlichen Gemeinsamkeit in bezug auf Werte. Im Laufe der Jahre verärgerte dieselbe anglophone Elite jedoch auch Washington, indem sie die USA auf Distanz hielt. Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sahen die USA in den eher nativistischen Elementen Indiens, wie sie vom BJP-Regime vertreten wurden, zunächst die Bereitschaft, mit der Vergangenheit zu brechen und einer strategischen Umarmung zuzustimmen. Das war jedoch nicht der Fall, denn die indische Ukrainepolitik ist repräsentativ für das Festhalten des Landes an seiner strategischen Autonomie. Darüber hinaus haben sich die nativistischen Elemente in Indiens Politik als ziemlich allergisch gegenüber den zeitgenössischen fortschrittlichen Tendenzen im Westen erwiesen, und die kulturelle Divergenz ist unbestreitbar geworden. Es überrascht daher nicht, dass die westliche Presse von «demokratischen Rückschritten» in Indien und sogar von «transnationaler Unterdrückung» spricht. Indien seinerseits sieht diesen westlichen Diskurs als ziemlich heuchlerisch an, wenn man den «Krieg gegen den Terror» und die anhaltenden Beziehungen der Anglosphäre zu Pakistan bedenkt, obwohl dieses Land den Terrorismus als Staatspolitik verfolgt.

Daher ist Indien nach wie vor etwas misstrauisch gegenüber westlichen Zielen, wobei die Erinnerung an Regimes der Technologieverweigerung eine wichtige Rolle bei der Prägung der strategischen Kultur Neu-Delhis spielt. Die einzige Möglichkeit für Europa, ein tiefes strategisches Vertrauen zu Indien aufzubauen, wäre eine grössere Offenheit in bezug auf die gemeinsame Entwicklung von Technologien. In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung der EU, einen Handels- und Technologierat mit Indien zu gründen, ein Schritt in die richtige Richtung. Das ist auch der Grund, warum Indien Russland nicht im Stich lassen wird. Wichtig ist, dass ein stärkeres technologieorientiertes Engagement Europas in Indien keine einseitige Angelegenheit sein wird. Der Erfolg der indischen Mondmission Chandrayaan-3 unterstreicht, was Indien heute in technologischen Schlüsselbereichen wie Raumfahrt und Computertechnik zu bieten hat.

Übrigens haben die USA selbst dieses Potenzial erkannt und streben nun eine viel engere Zusammenarbeit in Bereichen wie künstlicher Intelligenz, Quantentechnologien, 5G- und 6G-Kommunikation, Weltraum und Hochleistungsrechnen im Rahmen der Initiative on Critical and Emerging Technology an. Indien entwickelt sich auch zu einem Laboratorium für die Welt, da sich immer mehr transnationale Unternehmen aus Nordamerika und Europa für die Ansiedlung von Global Capability Centers in Indien entscheiden. Diese Zentren dienen auch dazu, die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Indien und Europa zu fördern, und zwar auf andere Weise als die übliche Verbindung, die durch die indische Diaspora entsteht.

Vereinfacht ausgedrückt, will Indien sicherstellen, dass es immer einen Platz an der technologischen Spitze hat und in der Lage ist, die Gespräche über den globalen Regulierungs- und Kontrollrahmen in diesem Bereich zu gestalten. Schliesslich basiert Indiens Multi-Alignment-Strategie auf dem, was es an technisch-wirtschaftlichen Fähigkeiten mitbringt.

Nichtwestlich statt antiwestlich

Eine weitere Kernkompetenz, die Indien für seine globale Präsenz nutzt, ist sein Pharmasektor, der sich nun über ­Generika hinaus auf die Entwicklung eigener Lösungen konzentriert. Das Streben nach einheimischen Fähigkeiten unter der Überschrift «Atmanirbharta» oder «Eigenständigkeit» ist an sich schon ein Kernelement dafür, wie sich Indien in der Welt positioniert. Atmanirbharta sollte jedoch nicht als eine Importsubstitutionspolitik alter Schule missverstanden werden. Im Gegenteil, es ist eng mit Indiens immer liberalerem Regime für ausländische Direktinvestitionen und seinen länderspezifischen Verbindungen mit ausländischen Partnern für Co-Entwicklung und Co-Produktion verbunden.

Die indische Atmanirbharta-Doktrin legt einen besonderen Schwerpunkt auf den indischen Verteidigungs­sektor, der seine Exporte in den letzten Jahren um ein Vielfaches gesteigert hat. Die Eigenständigkeit im militärisch-industriellen Bereich wird als nachhaltige Grundlage für Indiens strategische Autonomie in einer Zeit gesehen, in der die USA Sanktionen zu einer Schlüsselwaffe in ihrem geopolitischen Arsenal gemacht haben. Verteidigungs­exporte tragen auch dazu bei, Indien als stabilisierenden Faktor in bestimmten Teilen des globalen Südens zu positionieren, die sowohl über die selektiven Störungstendenzen der USA als auch über den expansionistischen Charakter Chinas besorgt sind.

Es muss jedoch gesagt werden, dass Indien auch als Brücke zwischen dem globalen Süden und dem Westen dienen will. Die Tatsache, dass Indien nicht «antiwestlich», sondern lediglich «nichtwestlich» ist, hilft ihm, diese Rolle besser als andere zu spielen. Ein klares Beispiel dafür ist der jüngste Erfolg Indiens dabei, die Afrikanische Union in die Gruppe der G20-Staaten aufzunehmen. Eine weitere bemerkenswerte Entwicklung, die für einen von Indien inspirierten «kollegialen Ansatz» in der Geowirtschaft steht, der auch die USA einbezieht, ist die Schaffung eines «Wirtschaftskorridors Indien-Mittlerer Osten-Europa».

Während Indien eine globale Strömung anführt, um eine neue blockfreie Architektur für die Globalisierung zu schaffen, ist es sicherlich dem Westen gegenüber viel besser eingestellt als gegenüber China. In bezug auf China hat sich die indische Politik dahingehend verändert, dass die Wirtschaftsbeziehungen nicht mehr von den Grenzspannungen abgekoppelt werden. Indien baut nun eifrig seine Abschreckungsposition gegenüber China wieder auf und wird für westliche Angebote, die Chinas strategische Spielräume einschränken, natürlich viel empfänglicher sein.

In den verbleibenden Jahren dieses Jahrzehnts wird die Welt wahrscheinlich mehr Interesse an einer Zusammenarbeit mit Indien zeigen, da das Land schnellere BIP-Wachstumsraten als andere grosse Volkswirtschaften verzeichnet. Indiens Herausforderung besteht jedoch darin, konkurrierende innenpolitische Mehrheitsverhältnisse in Schach zu halten und sein eigenes demokratisches Ethos zu bewahren, auch wenn es auf der Weltbühne aufsteigt.

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