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Ein Rezept gegen die Hoffnungslosigkeit
Jordan Peterson, Keytone.

Ein Rezept gegen die Hoffnungslosigkeit

Angesichts von Zynismus und Demoralisierung gilt es, sich auf Tugenden wie Verantwortung, Fleiss und bürgerliches Engagement zu besinnen. Eine praktische Orientierungshilfe aus ­konservativer Sicht.

Wo es an einem tiefen und tragfähigen Sinn des Lebens mangelt, werden uns Tragik und Verrat, die unweigerlich Teil des Lebens sind, den Mut nehmen, wodurch ein mitunter unerträgliches Leid entsteht, das uns alle zu Hedonismus, Zynismus, Hoffnungslosigkeit, Bitterkeit, Missgunst und schliesslich zu den Verlockungen rachsüchtiger Grausamkeit verleitet.

Dieser Sinn, den es braucht, ist mittlerweile fragwürdig geworden, nicht zuletzt infolge der philosophischen und theologischen Verwirrung, die sich nach dem sogenannten «Tod Gottes» manifestiert hat: Junge wie alte Menschen wissen nicht mehr um ihr kulturelles Erbe, stehen den Vorzügen des Erwachsenseins skeptisch gegenüber, werden in ihrer Handlungsfähigkeit nicht mehr unterstützt, müssen sich des Vorwurfs der Vorurteile und des ungebührlichen Ehrgeizes erwehren und werden mit einer ständigen Mischung aus apokalyptischem Untergang und historischer Schuld gefüttert.

Dies hat – trotz des Wohlstands und der Sicherheit der heutigen Zeit und der weiten Horizonte der Möglichkeiten, die sich jedem bieten – zu einer gefährlichen Demoralisierung geführt. Diese zutiefst beunruhigende Situation erzeugt ein zunehmendes Misstrauen, das den Wert menschlicher Bemühungen in Frage stellt und die Beweggründe der anderen immer verdächtiger erscheinen lässt. Dies äussert sich in einer gefährlichen und sich beschleunigenden Polarisierung, bei der gemeinsame Ziele bröckeln und wechselseitige Anschuldigungen über Korruption, Ausbeutung und Viktimisierung zunehmen. Konservative können nicht nur eine philosophische und theologische Alternative zum Verfall des Glaubens bieten, der zu solchem Misstrauen und Verdacht führt, sondern auch einen praktischen Leitfaden für die Ausrichtung des Lebens, und zwar dergestalt, dass seine Zumutungen und Leiden erträglich werden, seine Stabilität gewahrt wird und sein abenteuerlicher Charakter erhalten bleibt.

Die Werte der Reife, der Verantwortung, der Pflicht, der Tradition, der Leistungsbereitschaft, des Fleisses und des bürgerlichen Engagements werden heute oftmals kritisiert und abgelehnt; sie gelten als anachronistisch, ja werden sogar an den Pranger gestellt; sie werden als Problem und nicht als Lösung betrachtet; sie werden als untugendhaft und ausbeuterisch angesehen.

Dabei sind sie genau das Gegenteil: die alltäglichen Tugenden der Haltung und der Gewohnheit nämlich, die Stabilität, Hoffnung und Zusammenhalt vermitteln und ein echtes, altbewährtes und sofort einsetzbares Gegenmittel gegen die Verwahrlosung des moralischen Relativismus, der kulturellen Auflösung, der philosophischen Ignoranz und der persönlichen Verwirrung darstellen.

Reife, Opferbereitschaft und Widerstand gegen Versuchungen

Die Fähigkeit, die Befriedigung hinauszuzögern, ist das Wahrzeichen der Reife und ein wesentlicher Teil des Prozesses der Anpassung an die Realität der Zukunft (da gegenwärtige Handlungen zukünftige Konsequenzen haben) und an die Komplexität, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, kurzfristige individuelle Bedürfnisse mit den Anforderungen einer ausgeklügelten sozialen Gegenseitigkeit in Einklang zu bringen. Das bedeutet, dass jeder von uns sich verpflichten muss, in der Gegenwart schwere Lasten zu tragen, um das Überleben seines zukünftigen Selbst und in ähnlicher Weise auch das seiner Familie und seiner Gemeinschaft jetzt und später zu sichern. Diese Reife sollte von Konservativen durchaus als angemessenes und erstrebenswertes Ziel der kindlichen und jugendlichen Entwicklung anerkannt und gefördert werden – als Daseinszustand, der früheren Entwicklungsstadien vorzuziehen ist, als achtbares, valides und lohnendes Entwicklungsziel und als Vorbedingung für die Schaffung komplexer, produktiver gesellschaftlicher Institutionen.

Ehe

Die Vorstellung, dass sexuelle Intimität am besten in den Grenzen einer stabilen Beziehung aufgehoben ist, dass ein Mann und eine Frau als dauerhafte Einheit zusammenkommen sollten und dass Kinder zur optimalen Entwicklung mindestens zwei verschiedengeschlechtliche Elternteile brauchen, kommt einer universalmenschlichen Erkenntnis näher als alles andere, was jemals entdeckt, verbreitet und umgesetzt wurde. Die Ehe bietet jedem einzelnen die Möglichkeit echter körperlicher und geistiger Intimität, die Chance zu echter, erhebender Kommunikation und psychologischer Entwicklung, eine solide Grundlage für die Herausforderung der Kindererziehung und die tiefe Befriedigung, die damit einhergeht, sich auf ein schwieriges, lohnendes und reifes Unterfangen einzulassen.

Eine Kultur, die fest auf der Grundlage der stabilen Monogamie steht, ist weniger anfällig für übersteigerte jugendlich-männliche Aggression, die sich oft als Folge von Eifersucht, Einsamkeit und existenzieller Frustration manifestiert; sie bietet Frauen die nötige Stabilität, um sich auf eine Schwangerschaft und die mit der Betreuung von Kleinkindern einhergehende Verletzlichkeit einzulassen, und sie liefert Jungen und Mädchen geeignete Vorbilder für die Entwicklung einer stabilen Identität und eines tragfähigen Musters für das Erwachsensein. Konservative sollten diese grundlegendste aller gesellschaftlichen Einrichtungen vorbehaltlos bewundern und fördern; alle anderen Optionen – wie wünschenswert sie im Prinzip auch sein mögen und wie sehr sie auch mit einer vermeintlichen Utopie verbunden sein mögen – sind im Vergleich dazu zumindest zu einem relativen Misserfolg verdammt, vielleicht sogar zu einem Misserfolg mit schlimmen, unabsehbaren Konsequenzen.

Das bedeutet nicht, dass alternative Regelungen, ob sie nun aus Notwendigkeit oder durch freiwilligen Wunsch entstanden sind, auf leichtfertige, opportunistische oder grausame Art abgewertet werden sollten. Es bedeutet aber, selbst mit dieser Einschränkung, dass der Goldstandard der dauerhaften traditionellen monogamen Beziehung sich einer breiten gesellschaftlichen Anerkennung und Würdigung erfreuen sollte.

Familie

Ein Mann oder eine Frau, der/die loyale, fürsorgliche Eltern, verlässliche, treue und ehrliche Brüder und Schwestern und Kinder hat, die in Liebe und gegenseitiger Achtung verbunden sind, ist ein Individuum, das geschätzt, gefeiert, unterstützt, erinnert und geachtet wird. Wir alle müssen daher ermutigt werden, mit gutem Willen und ehrlichem Mut daran zu arbeiten, unsere Beziehungen zu unseren Söhnen und Töchtern, Vätern und Müttern sowie Brüdern und Schwestern zu schätzen, zu kitten und zu pflegen, um unsere Familien zu festigen, zu stärken und zu wahren Pfeilern der Gemeinschaft zu machen.

Konservative können und sollten die Einstellungen und Massnahmen, die zur Förderung einer solchen familiären Integration erforderlich sind, thematisieren und öffentlich und ausdrücklich unterstützen, und sie sollten sich bemühen, dies ohne kompromittierende Selbstzweifel oder Schuldgefühle zu tun.

Die Handlungen, die erforderlich sind, um Familien zu vereinen und sie angesichts von Widrigkeiten stark zu machen, sind grundlegend mit denjenigen verwandt, die auch für verlässliche und produktive gesellschaftliche Institutionen auf Ebenen sozialer Organisation sorgen, die das Intime und Persönliche umgeben und umfassen. Richtiges und fürsorgliches Handeln auf lokaler Ebene bereitet uns also auf ein richtiges und fürsorgliches Handeln unter Freunden, Nachbarn, Kollegen und Mitbürgern vor. Nichts von alledem bietet einen Anlass für zersetzende Selbstzweifel oder unterminierende Schuldgefühle.

Freundschaft

Jeder Mensch ist gut bedient und gut unterstützt mit einem Netzwerk von Freunden, die vertrauensvoll und einander wohlwollend verbunden sind. Freunde, die imstande sind, in Zeiten von Tragik und Verrat Trost zu spenden. Freunde, die zugleich fähig und bereit sind, in Zeiten von Erfolg und Triumph die Freude zu teilen und aufrichtig mitzufeiern.

Solche Freundschaften können nicht durch Dominanz, Gewalt und Zwang entstehen oder aufrechterhalten werden, sondern nur durch den Geist der Gegenseitigkeit und des freiwilligen Spiels, der die produktivsten, stabilsten und erstrebenswertesten Formen der menschlichen sozialen Organisation kennzeichnet.

Menschen, die von Freunden umgeben sind, die wirklich das Beste für sie wollen, die ihnen aber auch in Zeiten der Ungewissheit, der Verwirrung, des Zynismus und der Verzweiflung zur Seite stehen, befinden sich in existenzieller, psychologischer und praktischer Hinsicht in einer weitaus stabileren Lage; sie haben eine viel geringere Wahrscheinlichkeit, im Chaos zu versinken, und eine viel höhere Aussicht, in einer optimalen Ordnung zu bestehen und zu gedeihen. Gesellschaften, die aus in solchen Freundschaften verankerten Individuen bestehen, sind mit grösserer Wahrscheinlichkeit stabil, produktiv, selbstlos und grosszügig.

Beschäftigung

Arbeit – Job oder Karriere – ist eine gesellschaftlich geschätzte produktive Tätigkeit, die in der Regel einen Verzicht auf momentane Bedürfnisse zugunsten der Allgemeinheit und der Zukunft beinhaltet. Sie ist notwendig (um es noch einmal zu sagen), nicht weil eine Klasse, ein Geschlecht oder eine Rasse eine andere dominiert, sondern weil Entbehrungen die Grundbedingung des Lebens sind und Anstrengungen unternommen werden müssen, um sie zu bewältigen.

Arbeit wird oft zynisch als Fluch oder als Zeichen von Ausbeutung und Viktimisierung angesehen, und tatsächlich kann sie sich in entwürdigender, unerträglicher und hoffnungsloser Schufterei äussern.

Unter optimalen psychologischen und sozialen Bedingungen ist Arbeit jedoch ein Segen, und zwar nicht nur, weil absolute Armut durch solche Anstrengungen gemildert werden kann, sondern auch, weil sich in einer gut und gewissenhaft ausgeführten Aufgabe ein echter und nachhaltiger Sinn finden lässt, selbst auf der einfachsten Ebene der Beteiligung an einem Vorhaben oder einer Unternehmung.

Eine richtig ausgeführte Arbeit kann die Chance bieten, einen echten sozialen Beitrag zu leisten, die Möglichkeit, dauerhafte Freundschaften und Arbeitsbeziehungen aufzubauen, die Gelegenheit, in persönlicher und praktischer Hinsicht zu lernen und zu wachsen, die Aussicht auf Belohnungen, die mit der Teilnahme an einem lohnenden, wertvollen Unterfangen einhergehen, und die notwendige Erfahrung, um sachkundig und kompetent in umfassendere, komplexere, anspruchsvollere, produktivere und grosszügigere Unternehmungen vorzustossen.

Konservative können für die Arbeit plädieren, sie können dieses Plädoyer in ihre Bemühungen um die Aufrechterhaltung, Rechtfertigung und Förderung freier Märkte einbetten, sie können sich darum bemühen, die für die Arbeit geltenden Regeln gerecht und fair zu machen und so zu gestalten, dass Einsatz, Anstrengung und Leistung angemessen, nachhaltig und gerecht belohnt werden.

Bürgerliches Engagement

Die Stabilität von Staat und Land ist letztlich abhängig von der Integrität des einzelnen und der Familie. Die lokale zivilgesellschaftliche Ebene fungiert dabei als notwendiger Mittler. Die Beteiligung an kleinen lokalen Institutionen – wo häufig echte, wertvolle und notwendige Aufbauarbeiten und Veränderungen stattfinden – ist daher eine weitere notwendige Voraussetzung für psychische Gesundheit, für gesellschaftlichen Zusammenhalt und produktiven Frieden. Sportmannschaften, Buch- und Theaterclubs, karitative Stiftungen, Wirtschaftsorganisationen, politische Parteien sowie Kirchen, Synagogen und Moscheen bieten alle einen gesellschaftlichen Wert und das Gefühl eines echten Beitrags: ein Gefühl, das zwangsläufig aus einem zwischenmenschlichen Miteinander und einem reifen und freiwilligen Dienst an anderen entsteht.

«Die Stabilität von Staat und Land ist letztlich ­abhängig von der ­Integrität des einzelnen und der Familie.»

Konservative können die Entfremdeten und Verlorenen daran erinnern, dass die vielen ernsten Probleme, die gelöst werden müssen – und die vielen unterhaltsamen Spiele, die man spielen könnte –, einen Horizont von Möglichkeiten bieten, der allein von der Bereitschaft
abhängt, sich zu engagieren. Konservative könnten die Unzufriedenen, ob jung oder alt, einladen und ermutigen, ihre Dienste zur Verfügung zu stellen, damit die Gemeinschaft davon profitieren kann – und damit diejenigen, die ihre Dienste anbieten, willkommen geheissen, anerkannt und geschätzt werden.

Erfolg

Ehrgeiz im höchsten und wahrsten Sinne ist die Motivation, sich trotz Schwierigkeiten – Enttäuschung, Frustration, Entbehrungen, Tragik, Verrat und Böswilligkeit – vorwärtszubewegen und sich mutig, ehrlich, produktiv, aufrichtig und grosszügig im Leben zu engagieren. Dies ist der Wunsch und die Bereitschaft, echte Kompetenz zu entwickeln, und nicht das Streben nach narzisstischer Selbsterhöhung, nicht der Ausdruck des Willens, zu dominieren, auszubeuten und zu unterdrücken.

«Ehrgeiz im höchsten und wahrsten ­Sinne ist die Motivation, sich trotz Schwierig­keiten vorwärts­ zu­bewegen und sich mutig, ehrlich, produktiv, aufrichtig und grosszügig im Leben zu engagieren.»

Der Wunsch nach Erfolg ist in seiner tiefsten Ausprägung vielmehr die Motivation, zuerst den Weg zu sehen und dann zu beschreiten, der das Beste für alle bietet, auf sämtlichen Ebenen der Fähigkeiten und Möglichkeiten. Der Instinkt, sich für einen solchen Erfolg zu engagieren und ihn zu schätzen, ist Teil unseres höchsten moralischen Empfindens.

So gesehen ist der Ehrgeiz selbst nichts anderes als der absolut bewundernswerte Wunsch, unnötige Schmerzen und Leiden zu verringern, ein nachhaltiges Glück zu fördern und den Reichtum und Wohlstand zu schaffen, der für Sicherheit, Perspektiven und weitere Abenteuer sorgt. Aus diesen und den zuvor genannten Gründen ist es besser zu geben, als zu nehmen, und die reinste und bewundernswerteste Form des Erfolges ist ein Mehr für alle, und zwar auf eine gleichzeitig gerechte, nachhaltige und grosszügige Art und Weise.

Nicht jeder muss sich an jeder gesellschaftlichen Einrichtung oder sozialen Aktion beteiligen, aber ein Mensch, der ohne jegliche Aktivitäten und soziale Bindungen leben kann, ohne dabei in Elend und Zynismus zu verfallen, ist in der Tat selten. Das bedeutet mitnichten, dass kreative Ausnahmen – und damit verbunden manchmal sogar eine Ablehnung bestimmter, eigentlich selbstverständlicher sozialer Normen – unnötig oder wertlos sind. Es bedeutet jedoch, dass die schöpferische Leistung, die nicht einfach nur rücksichtslos dezimiert und zerstört, in einem breiteren Rahmen gemeinsamer Annahmen, Wahrnehmungen und Handlungen – also gemeinsamer grundlegender Werte – erbracht werden muss.

Die Konservativen, die den westlichen Wertekanon aufrechterhalten und fördern wollen, können daher all jenen, die hoffnungslos und verloren sind, den Sinn, das Abenteuer und die Unterstützung aufzeigen, die im Wagnis und Streben all dieser traditionellen Unternehmungen zu finden sind.

Diese praktische Orientierungshilfe bietet das zuverlässigste Bollwerk gegen die sonst oftmals demoralisierenden Tragödien, den Verrat, die Enttäuschungen und die schweren Verluste, die die (nur allzu) menschliche Vorstellung und Existenz kennzeichnen. Wer in dieser Weise praktische Orientierungshilfe, Hoffnung und Halt bietet, liefert ein echtes Gegenmittel gegen jene Verzweiflung und Bitterkeit, die jede Hoffnung untergräbt, einen grausamen und rachsüchtigen Groll hervorruft und die Gesellschaft selbst auf gefährliche Weise destabilisiert und bedroht.


Dieser Text ist ein Vorabdruck aus dem Buch «Konservatives Manifest», das am 1. März 2023 im Fontis-Verlag erscheint.

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