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«Praktisch jede europäische Debatte ist eine Debatte über Europa»

Während eine neue Weltordnung entsteht, beschäftigt sich Europa mit sich selbst. Der ehemalige Premierminister Australiens, Kevin Rudd, rät dem Westen, im Umgang mit dem Aufstieg Chinas keinesfalls die eigenen Werte zu verraten.

«Praktisch jede europäische Debatte ist eine Debatte über Europa»
Kevin Rudd. Bild: Department of Foreign Affairs and Trade / CC-BY-3.0.

 

Herr Rudd, als Premierminister und Aussenminister Australiens waren Sie zu offiziellen Besuchen in der Schweiz 2009, 2011 und 2012.
Wie gefällt es Ihnen hier?
Ich war in vielen Ländern. Aber ja, ich war immer gerne in der Schweiz, es ist ein aussergewöhnliches Land.

In China waren Sie über hundertmal, Sie sprechen auch Mandarin.
Ich war in China als Geschäftsmann, als Offizieller, als Mitglied des Parlaments. Als junge Person aus dem Westen ist man gut beraten, die chinesische Sprache zu lernen, so wie ich das tue seit Anfang 20. Das ist kein Unterfangen für Mutlose: Es wird einen einige Lebensjahre kosten, man lernt es nicht über das Wochenende. Die Sprache und das Wissen über China sind deshalb nützlich, weil man so die Debatte in China vom chinesischen Standpunkt aus nachvollziehen kann – auch wenn man damit nicht einverstanden ist. Vergessen wir auch nicht, dass wir es hier mit einer Kultur und Sprache zu tun haben, die sich seit 4000 Jahren fortsetzt. Eine gewisse Bescheidenheit gegenüber China ist also durchaus angesagt – Australien etwa wird ja erst seit 200 Jahren von Europäern besiedelt.

Und Europa?
Europa blickt auf Asien aus der Warte seiner eigenen kolonialen Vergangenheit. Doch Europa als Zentrum der Welt und andere Teile als Anhängsel der europäischen Erfahrung zu sehen, ist eine verzerrte Sichtweise. Sie bricht nun nach und nach zusammen, weil der Osten wieder zu einem stärkeren Zentrum wirtschaftlicher Aktivität wird. Es ist eine Entwicklung, die das Verhältnis von Europa zu Asien von vor zweihundert Jahren wiederherstellt.

Es gibt aber viele im Westen, die China als einen Gegner der westlichen Aufklärung und Lebensweise sehen. Was antworten Sie denen?
Die westliche Tradition ist eine gute, vernünftige Tradition, eine sich über viele Jahrhunderte hinziehende zivilisatorische Pilgerfahrt. Sie entstammt einem jüdisch-christlichen Hintergrund und betont, ausgehend von der Aufklärung im 18. Jahrhundert, Themen wie Vernunft, Empirismus und gleiche Rechte. Westliche Werte beinhalten ein unabhängiges Rechtssystem, unabhängige Gerichte, individuelle Rechte, ein demokratisches System, einen Schutz des Individuums gegenüber dem Staat. Der chinesischen Tradition jedoch ist das Konzept der liberalen Demokratie fremd. Es handelt sich vielmehr um ein auf Hierarchien basierendes politisches System, das über Jahrtausende hinweg autoritär regiert wurde. In der Moderne ist China ein leninistischer Staat, der bestimmt über Wahrheit oder Wert eines bestimmten Vorschlags. Diese beiden Gedankensysteme prallen nun aufeinander. Jede Seite hält sich für berechtigt, damit fortzufahren.

Wie sollten die westlichen Regierungen darauf reagieren?
Unter keinen Umständen nachgeben! Der Westen muss sich nicht entschuldigen für seine Errungenschaften und auch nicht sagen, dass sein System ebenso gut sei wie das chinesische System. Wir sollten stark bleiben und die universellen Menschenrechte bewahren und verteidigen. Deswegen haben wir 1948 die Deklaration der Menschenrechte unterzeichnet.

1948 hat auch George Orwell sein Buch «1984» verfasst. Wird China nun der erste Staat weltweit, der die Massenüberwachung so richtig umsetzt?
Westliche Internetfirmen, die die Gesetze in einem autoritär geführten, leninistischen Staat einhalten wollen, werden merken, dass sie die Integrität ihrer Tätigkeiten nicht aufrechterhalten können – ich würde das also nicht mal anstreben. Chinesische
Firmen gehen damit natürlich ganz anders um mit diesen Fragen als zum Beispiel Google – eine Firma, deren Aktivitäten ich durchaus auch kritisch gegenüberstehe.

Wenn das chinesische Konzept von autoritärem Kapitalismus ohne Demokratie weiterhin erfolgreich ist: Werden die Chinesen niemals Demokratie erleben? Oder werden westliche Regierungen übergehen zu mehr Kontrolle, mehr Überwachung, weniger Demokratie?
Über das chinesische System haben nur die Chinesen die Kontrolle. Der Westen hingegen sollte Vertrauen in sein eigenes System haben. Wir sollten dafür einstehen und es verteidigen, so wie das die Generationen vor uns getan haben. Relativismus bringt uns nicht weiter, denn es gibt einige absolute Freiheiten, an denen wir festhalten sollten. Wenn wir in diesen Fragen schwächer werden und Konzessionen machen, senden wir auch gegenüber den Bürgern in autoritären Systemen ein falsches Signal aus.

«Die Strukturen und Realitäten, die nach dem Zweiten Weltkrieg erschaffen wurden, ändern sich jetzt gerade, ob das den USA bewusst ist oder nicht.»

Wie stark ist China beim Ausspielen von Soft Power, national und international?
2005 veröffentlichte mein Freund Joe Nye das Buch «Soft Power: The Means to Success in World Politics». In Harvard erhielt er danach Besuch von einer chinesischen Delegation nach der anderen, die wissen wollten, wie China Soft Power erhalten könnte. Es ist typisch für die chinesische Herangehensweise: Man versucht zu meistern, was der Westen tut, ohne zum Westen zu werden.

Wie sieht das Soft-Power-Konzept der chinesischen Regierung denn aus?
Es betont den besonderen chinesischen Weg hinsichtlich Politik und Wirtschaft: Weil das System des Staatskapitalismus breite Massen von der Armut in den Wohlstand bringen konnte, ist es so wertvoll und tugendhaft wie politische und ökonomische Systeme, die aus dem Westen kommen. Diese Darstellung eines alternativen Wegs, zu Wohlstand zu kommen, findet Anklang in China, aber auch in Teilen von Afrika und Asien. Und es betont die Kontinuität der Kultur und Literatur des Landes: China soll nicht als eine Art kulturloser, faschistischer Staat angesehen werden, sondern als ein Land mit kulturellen Errungenschaften, die auch gepflegt werden.

Vor ein paar Jahren schrieben Sie über den chinesischen Präsidenten Xi Jinping, er sei ein Mann in Eile, ergebnisorientiert, das genaue Gegenteil eines Status-quo-Politikers.
An dieser Analyse hat sich nichts geändert. Im Inland versucht Xi nach wie vor, die ideologische Autorität der Kommunistischen Partei über den gesamten Einflussbereich zurückzugewinnen. Im Ausland strebt er danach, den Status quo zu ändern, sei es im Südchinesischen Meer, mit der Initiative «One Belt, One Road» oder über die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank. Er hat auch klar formuliert, wohin es gehen soll: China soll zum 100-Jahr-Jubiläum der Kommunistischen Partei 2021 eine Nation mit mittlerem Einkommen sein und 2049 eine Nation mit fortgeschrittener Wirtschaft. Xi hat diese Vision aktiv verfolgt und gezeigt, dass er bereit ist, den Status quo zu ändern. Das hat auch die USA herausgefordert, heftiger zu reagieren auf Xi als auf vorherige Präsidenten.

Einen bewaffneten Konflikt zwischen China und den USA bezeichnen Sie aber als höchst unwahrscheinlich in den nächsten Jahren.
Ja. Die chinesische Regierung glaubt, dass sie einen Krieg mit den USA vermutlich verlieren würde, und das wäre ihr eigenes Ende. Auch die USA haben kein Interesse an einem Krieg, denn er würde zu hohen eigenen Verlusten führen, die kaum zu rechtfertigen wären. Die tatsächliche Gefahr liegt in einer Auseinandersetzung, die durch einen Vorfall, durch einen Unfall ausgelöst wird.

Wenn China die USA überholt bei der Grösse des BIP, wird sich dann die Nachkriegsstruktur endgültig ändern?
Die Strukturen und Realitäten, die nach dem Zweiten Weltkrieg erschaffen wurden, ändern sich jetzt gerade, ob das den USA bewusst ist oder nicht. Die Wirtschaft wird multipolarer: China, Japan und Indien sind gemeinsam inzwischen eine stärkere Wirtschaftskraft als die USA. Ausserdem ziehen sich die USA unter der Administration Trump mehr und mehr zurück von den Instrumenten der globalen Führung, die sie selbst mitbegründet haben. Sie greifen die Vereinten Nationen und die WTO an, ziehen sich aus dem UN-Menschenrechtsrat und aus dem Pariser Klimaabkommen zurück. Derweil baut China neue, eigene internationale Konstrukte abseits der Weltordnung nach 1945, eben zum Beispiel die Initiative «One Belt, One Road». Und argumentiert, dass eine Welt mit China im Zentrum nicht schlechter und nicht besser sein werde als eine Welt mit den USA im Zentrum.

Wie steht Europa dazu?
Der grösste Fehler der Europäer ist nicht Brexit – auch wenn dieser Entscheid einfach dumm ist –, sondern das Verschwinden in sich selbst. Praktisch jede europäische Debatte, die ich beobachte, ist eine Debatte über Europa. Es geht kaum je darum, was Europa tut in der Welt und wie die Zukunft von Europa in der Welt aussieht. Jetzt noch hätten die Europäer die Macht, die aufkommende globale Ordnung zu beeinflussen. Aber vielleicht wachen sie eines Tages auf und merken, dass diese Zeit vorbei ist.

Für Grossbritannien wird es nicht einfach sein, wieder aus dem EU-Gebilde herauszukommen. Die Schweiz dagegen ist gar nicht erst beigetreten.
Wenn man wie die Schweiz während 200 Jahren neutral war, ist das nachzuvollziehen – Grossbritannien hingegen war nie neutral. Die Lösung der Brexit-Frage ist eine Auseinandersetzung zwischen London und Brüssel. Aber ob man Schweizer ist, Brite oder Europäer, es gibt eine grössere, zivilisatorische Frage zu beantworten: Was für eine Zukunft soll die Welt haben? Dass diese Frage in Europa fast ausschliesslich intern beantwortet wird, ist unglücklich. Die Nachkriegsordnung mit der Vorherrschaft des Westens ist eben deshalb in fragilen Händen, weil man sich zu sehr mit internen Fragen beschäftigt.

Der amerikanische Traum verblasse, haben Sie kürzlich in der «New York Times» geschrieben. Versinkt hier ein Stern der US-amerikanischen Soft Power?
Die Erfahrung der US-Arbeiterklasse und unteren Mittelklasse der letzten 25 Jahre war, dass sich ihr Realeinkommen kaum erhöht hat, während sie dabei zusehen, wie das reichste Prozent der Bevölkerung immer reicher wird. Um einen poetischen Ausdruck zu verwenden: «That screws the middle class!» Und so wird eben auch der amerikanische Traum zerstört. Thomas Piketty hat einen Punkt in seiner Kapitalismuskritik, wenn er sagt, dass der Kapitalismus die Möglichkeit bieten müsse für eine fortwährende wirtschaftliche und soziale Mobilität. Ein demokratisches und kapitalistisches System bleibt nur vital, wenn es Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bietet. Ist das nicht mehr so, werden andere Systeme attraktiver.

Sie sind ein Sozialdemokrat. Hat Ihre Bewegung nicht längst alles erreicht, für was Sie je angetreten ist? Und können akzentuiert sozialdemokratisch aufgestellte Länder überhaupt konkurrenzfähig sein gegenüber einem aufstrebenden China?
Im Westen sind Sozialdemokraten ein Opfer ihres eigenen Erfolgs, den sie vor allem durch die Realisierung eines wirksamen Sozialvertrags errungen haben. Doch die Sozialdemokratie braucht es auch weiterhin, vor allem international ist erst wenig gewonnen: 1,4 Milliarden Menschen leben in Armut, grosse Migrationsbewegungen sind im Gang, es gibt grosse Herausforderungen zwischen den Generationen, die Millenniumsentwicklungsziele sind noch nicht erreicht. Wenn Sie also sagen, die sozialdemokratische Mission sei erfolgreich beendet, dann sage ich: Nein, das ist Bullshit.


 

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