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In Würde untergehen
Michel Onfray, zvg.

In Würde untergehen

Der Verfall des jüdisch-christlichen Westens ist unvermeidlich. Wir sollten uns wenigstens dagegen wehren, dass er durch eine nihilistische, posthumane Zivilisation ersetzt wird.

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Immer wieder lese ich Hegels Texte zur Geschichtsphilosophie und schliesse mich seiner Lesart der Dynamiken von Zivilisationen an. Er vertritt kein vitalistisches Modell, denn er glaubt weniger an das Leben als aktives Prinzip dessen, was ist, sondern vielmehr an das, was er Vernunft, Begriff und Idee nennt. Doch das sind auch nur philosophische Ausdrücke für die gute alte christliche Vorsehung. Wenn Hegel schreibt, die Vernunft lenke die Geschichte, müssen wir darunter verstehen, dass die Vorsehung die Geschichte lenke. Das wiederum ist philosophisch kaum fortschrittlicher als die These des Bischofs und Geschichtsphilosophen Jacques Bénigne Bossuet in seiner «Abhandlung über die Weltgeschichte» von 1681. In seinen christlich geprägten Vorstellungen erinnert Hegel durchaus an Bossuet – was sein vom deutschen Idealismus geprägtes Vokabular betrifft, dann aber doch eher an Kant!

Ich für meinen Teil glaube nicht an eine Vorsehung – ich bin Atheist. Aber ich glaube an das Leben, da bin ich ganz Nietzscheaner. Nietzsche hat gezeigt, dass es im Leben ein Leben gibt, welches das Leben will: den Willen zur Macht. Er ist in allem Seienden aktiv: von der unendlich kleinen Milbe, die Pascal so am Herzen lag, bis zum unendlichen Kosmos als Vielzahl der Welten, mit dem Epikur sich beschäftigte.

Alles Leben folgt demselben Muster: Geburt, Wachstum, Macht, Dekadenz, Vergreisung und Sterben. Zivilisationen unterliegen genauso wie das menschliche Leben diesem Gesetz, dem nichts und niemand entrinnen kann.

Es genügt, die Geschichte zu bemühen, um die Geschichte zu verstehen: Die Megalithkulturen sind verschwunden und mit ihnen ihre Geheimnisse. Von den Steinreihen von Carnac über die ringförmige Struktur von Stonehenge bis hin zu den Moai-Steinstatuen auf der Osterinsel und den Grabstätten der Bonnanaro-Kultur auf Sardinien gibt es unzählige Zeugnisse für diesen Lebenszyklus von Zivilisationen, der von ihrer Entstehung über die Dekadenz bis zum Untergang reicht. Die Sumerer, die Assyrer, Babylon, Ägypten, Griechenland, Rom – all diese Zivilisationen sind untergegangen. An ihre Stelle ist Europa getreten, das nun seinerseits im Sterben liegt und bald ebenfalls ersetzt werden wird.

Der Verfall, die Dekadenz, ist also unausweichlich: Er ist in das Schicksal all dessen eingeschrieben, was lebt: Bei Individuen nimmt er die Form der Vergreisung an. Wir leben in der Periode der Dekadenz.

Der Mensch als Cyborg

Der Westen beschränkt sich nicht auf Europa, und er wird anderswo und auf andere Weise fortbestehen: Der Westen ist der Teil der Welt, der aus der jüdisch-christlichen Tradition hervorgegangen ist und stark industrialisierte und technologisch hochentwickelte Länder wie Australien, Neuseeland und natürlich die USA umfasst. Dort entscheidet sich, ob unsere Zivilisation eine Zukunft hat: in einer neuen Zivilisation, die sich an ihr orientiert, sie ersetzt und gleichzeitig über sie hinausgeht.

Die GAFAM-Konzerne – Google, Amazon, Facebook/Meta, Apple und Microsoft – streben nach einer posthumanen Zivilisation. Elon Musk setzt das mit seinen Unternehmen längst in die Praxis um: SpaceX fasst den Zeitpunkt ins Auge, da wir eine Erde verlassen müssen, auf der es kein pflanzliches, tierisches und menschliches Leben mehr geben kann – einen Zeitpunkt, der unweigerlich auf uns zukommt, was auch immer die Vertreter der Öko-Religion dagegen einwenden mögen. Bei Tesla kann Musk an alternativen Batterien und künstlicher Intelligenz arbeiten, während Neuralink ihm ermöglicht, am neuen Menschen zu forschen, einer Chimäre, die das Lebendige und das Digitale durch Neuronenchips miteinander verbindet. Es ist ihm bereits gelungen, einen Mikroprozessor in das Gehirn einer Sau namens Gertrude zu implantieren; es gibt also keine technischen Hürden, die ihn daran hindern könnten, dies auch beim Menschen zu tun. Der Mensch als Cyborg, der in den Weltraum befördert wird, um die Möglichkeit eines Lebens auf einem anderen Planeten, wenn nicht sogar ein ausserirdisches Leben in einer Weltraumstadt auszukundschaften – befeuert von Motoren, die von neuartigen Energien angetrieben und durch von der Erde abgekoppelte künstliche Intelligenzen gesteuert werden: Das ist es, womit wir rechnen müssen, wenn wir uns die Zukunft unserer Zivilisation vorzustellen versuchen.

Nichts kann sich diesen von Elon Musk bestätigten Forschungsprojekten entgegenstellen. Zumal in anderen Zivilisationsblöcken wahrscheinlich auch daran gearbeitet wird: Es scheint mir unvorstellbar, dass China, ein Land, das sinnbildlich für digitalen Totalitarismus und bildschirmvermittelte soziale Kontrolle steht, nicht daran arbeitet! Vor der Welt abgeschirmt, vielleicht an einem Ort wie jenem berühmt-berüchtigten, mysteriösen Labor in Wuhan, sind womöglich Teams dabei, diese Chimären, diese neuen Menschen zu produzieren! Wie die Sache in Russland steht, das bekanntlich in einen Krieg verwickelt ist, der sein ganzes Potenzial zerstört, weiss ich nicht. Ebenso wenig, was auf dem indischen Subkontinent in dieser Hinsicht geschieht.

Aber keine ethische Kraft, keine moralische Macht wird diesen Gang der Geschichte aufhalten können, der auf eine globale und vereinheitlichte Zivilisation mit einem totalen, von einer planetarischen Regierung gesteuerten Staat hinausläuft.

Diktatur dank Daten

Die gegenwärtige Bewegung der Dekadenz in Europa hat ein einziges Ziel: Verdinglichung. Diese Verdinglichung besteht darin, alles in eine Ware zu verwandeln, die gehandelt, zu Geld gemacht, gekauft und verkauft werden kann. Pyramiden, Agoren, Foren und Kirchen müssten demnach eigentlich durch riesige Rechenzentren ersetzt werden, welche die von den Internetnutzern freiwillig bereitgestellten Informationen mit Hilfe gut programmierter Algorithmen nutzen, um Zustimmung herzustellen.

Die Diktatur wird sich nicht wie in Orwells «1984» oder Huxleys «Schöner neuer Welt» breitmachen, sondern dank der Manipulation des Bewusstseins durch Daten. Das geschieht bereits heute. Toby Haynes’ grossartiger Film «Brexit» aus dem Jahr 2018 zeigt es schonungslos auf. Emmanuel Macron wurde dank solcher Methoden bereits zweimal zum Präsidenten Frankreichs gewählt. Es sind die Anfänge einer neuen totalitären Strategie.

Der Krieg, der derzeit in der Ukraine stattfindet, ist Teil dieser Konfiguration: Es ist ein Krieg, den die USA und Russland gegeneinander führen, darüber sollten wir uns nicht täuschen lassen. Es ist ein Zivilisationskrieg zwischen Russland, welches das europäistische, aus dem deutschen und nordischen Protestantismus hervorgegangene Modell ablehnt, und der Ukraine, die sich diesem Modell verschrieben hat. Die USA haben den Zusammenbruch der Sowjetunion genutzt, um ihre Schachfiguren so zu ziehen, dass sie eines Tages sagen können: schachmatt für das alte Europa.

Ihrem imperialistischen Ansatz treu bleibend, haben die USA viele Länder der ehemaligen Sowjetunion in Europa zu Vasallen gemacht. Wie Figuren, die so auf dem Schachbrett positioniert und verschoben werden müssen, dass man den Gegner mattsetzen kann. Putin sagt, er kämpfe gegen einen dekadenten, korrupten und unmoralischen Westen. Er übersieht nur, dass diese Beschreibung auch auf ihn zutrifft!

Selensky hat seine Seite gewählt: Es ist die der Vereinigten Staaten und des konsumorientierten Maastricht-Europas. Sicher, er verteidigt eine Nation, allerdings hat er diese Nation erst geschaffen, indem er den Widerstand seines Volkes gegen die Invasion orchestrierte. Dieser ehemalige Medienclown, der einst als Oligarch veruntreute Milliarden in Steuerparadiese verschob, tut alles dafür, dass diese Nation überlebt, aber nur, um sie zu gegebener Zeit durch einen Beitritt zur Europäischen Union an die USA zu verkaufen.

Dieses Europa wird künftig das Urlaubsziel der GAFAM-Milliardäre sein – mit seinen Weinen, seiner Küche, seiner Gastronomie, seinen Landschaften und seinem Klima.

Widerstand durch Redlichkeit

Nichts wird diese nihilistische Bewegung der Geschichte verhindern. Wir erleben den Untergang des jüdisch-christlichen Imperiums in Europa. Den einzig möglichen Widerstand, den wir gegen diese Entwicklung leisten können, würde ich als römisch bezeichnen: Das Rom, auf das ich verweise, ist das Rom Catos des Älteren, der das Ende einer Welt, der tugendhaften Republik und das Aufkommen einer anderen, korrupten Welt erkannte. An diesem Punkt stehen wir gerade.

Man kann die Welt nicht allein verändern, niemand vermag den Lauf der Geschichte umzukehren. Hegel – wieder er – lehrt uns, dass grosse Menschen nicht so sehr Geschichte machten, als dass sie von der Geschichte gemacht wurden. Und in diesen Zeiten wird die Geschichte grosse Figuren ohnehin nur im Kontext der Beschleunigung ihres nihilistischen und dekadenten Fortgangs hervorbringen.

«Das Schiff schwankt schon, wir befinden uns auf der ‹Titanic›. Wir

werden weder die Kollision mit dem Eisberg noch den Untergang

verhindern können.»

Das Schiff schwankt schon, wir befinden uns auf der «Titanic». Wir werden weder die Kollision mit dem Eisberg noch den Untergang verhindern können. Das jüdisch-christliche Europa wird auf den Meeresgrund sinken. Lassen Sie uns zumindest wie Cato der Ältere würdevoll, aufrecht und ehrlich auf der Brücke stehen: Der Nihilismus darf nicht von uns Besitz ergreifen. Redlichkeit ist der einzige Widerstand, der uns bleibt.

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