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In der Stadt wird  Zukunft gemacht
Bernd Roeck, fotografiert von Priscilla Roeck.

In der Stadt wird
Zukunft gemacht

Städte brachten uns die Marktwirtschaft, den Wohlstand und die bürgerliche Gesellschaft. Der technologische Wandel wirft die klassische Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Umland jedoch gerade über den Haufen. Daher braucht die Stadt eine neue Identität.

Um die Jahresmitte 2021 lebten etwa 57 Prozent der Weltbevölkerung in Städten. Im Jahr 2030 dürfte dieser Anteil bei 60 Prozent liegen. Wahrscheinlich wird sich dieser Trend weiter verstärken. Urbanisierung hat also Zukunft, ob man das nun will oder nicht. Vergleiche zeigen ein wichtiges Faktum: Weite Regionen des Globus kannten bis an die Schwelle der Moderne kaum Urbanisierung. Um 1600 gab es in ganz Afrika kaum mehr als 30 Städte, deren Einwohnerzahl 20 000 erreichte. Ausnahmen finden sich vor allem an den Küsten.

Aber auch in Europa waren Städte, die mehr als ein paar tausend Einwohner zählten, die grosse Ausnahme. Zürich brachte es im 17. Jahrhundert auf 10 000 bis 13 000; 1836 ermittelte eine Volkszählung etwa 14 000. So ist auch der Stadtbegriff relativ. Das demografische Übergewicht Asiens spiegelt bis heute der dort gültige Stadtbegriff. In Japan zum Beispiel muss eine Stadt mindestens 50 000 Menschen zählen, in der Schweiz 10 000, in Deutschland nur 5000.

Die Faktoren, welche die Urbanisierungsintensität bestimmen, waren bis in die industrielle Zeit stets dieselben. Wichtig war die Lage – etwa am Meer oder an einem gut schiffbaren Fluss –, von der die Versorgung abhing. Weiterhin konnte das Vorhandensein von Bodenschätzen Stadtentwicklungen begünstigen. Von grösster Bedeutung war stets das Klima. Die sogenannte mittelalterliche Warmzeit zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert führte zu einer Reihe von Stadtgründungen und Stadterweiterungen, da sie die Versorgungslage verbesserte.

Diese Entwicklung wurde durch die kleine Eiszeit beendet, einen globalen Temperaturumschwung, der im 14. Jahrhundert einsetzte und bis ins 19. Jahrhundert währte. Die Phase war durch lange, sehr kalte Winter und verregnete Sommer gekennzeichnet, was zeitweilig dramatische Folgen für die Versorgung der Bevölkerung hatte. Erst im industriellen Zeitalter entkamen die Städte Europas der Malthus’schen Falle, in der die verfügbaren Nahrungsressourcen der Bevölkerungszahl unüberwindliche Grenzen setzen. Eisenbahn und Dampfschiffe ermöglichten Versorgung über weite Entfernungen. Dies waren die Voraussetzungen für den demografischen Take-off, den die Moderne erlebte. Spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts fielen in den meisten Städten die mittelalter­lichen Mauern. Mit ihnen verschwanden rechtliche und kulturelle Grenzen. Wechselseitige Ressentiments aber blieben.

Unzivilisiertes Land

Sie hatten damit zu tun, dass die Stadt lange von ihrem Umland abhängig war, es nach Möglichkeit ausbeutete, zugleich aber verachtete. In vielen Texten erscheint das Land als unzivilisiert und reaktionär, als intolerant und von ­tiefer, naiver Frömmigkeit. Demgegenüber ist die Stadt ­zivilisiert; in dem Wort steckt schliesslich der lateinische Begriff civis, Bürger. Und schon die antike urbanitas – ­Urbanität, Weltläufigkeit, Coolness – hat urbs, «Stadt», zum Kern.

Im ausgehenden Mittelalter begegneten Chronisten und Literaten aus der städtischen Welt dem Land mit Verachtung und Spott. Ein Beispiel bieten die Invektiven des Zürcher Klerikers Felix Hemmerli in seinem 1451 niedergeschriebenen Dialog «Adel und Bauerntum». Gemäss ihm sind Bauern unfrei, sie machen Lärm, haben Sex mit ihrem Vieh und sind plumpe Kretins. Der uralte Gegensatz zwischen städtischer und ländlicher Mentalität zeigt sich bis heute im Wahl- und Abstimmungsverhalten.

Die Klagen über den Verlust von Natur und Schädigung der Umwelt lassen leicht übersehen, welch positive Bedeutung Städte in der Weltgeschichte hatten. Insbesondere sind sie Faktoren in einem Vorgang, der als Great Divergence bekannt ist: der wachsenden Kluft zwischen dem Westen und dem Rest, was Technologie, Wissenschaft und Wirtschaft, aber auch militärische Stärke anbelangt. Im Weltvergleich ergibt sich ein skandalös klingender Befund: Alle wirklich wichtigen Innovationen und wissenschaftlichen Paradigmenwechsel zwischen dem 13. und dem 19. Jahrhundert gelangen Männern weisser Hautfarbe und christlichen Glaubens.

Ohne städtische Kulturen, die als Konsequenz wachsender Arbeitsteilung entstanden, wären die Verschrift­lichung ökonomischer Prozesse, Bankwesen, Wechsel, doppelte Buchführung und andere Elemente kapitalistischen Wirtschaftens undenkbar gewesen. In einem städtischen Umfeld wurde der Buchdruck mit beweglichen ­Lettern und Spindelpresse erfunden. Hier und nur hier fanden Bücher und andere Druckwerke ihren Markt. Städtische Gesellschaften waren Wiege der modernen Kommunikationsgesellschaft. Sie boten Bildung und Wissenschaft Räume. Ein Grund für die Rückständigkeit Afrikas, was die Entwicklung neuer Technologien – und damit «Promethean Growth» (Deepak Lal) – anbelangt, liegt ohne Zweifel in der ausgefallenen Urbanisierung weiter Teile des Kontinents.

«Ein Grund für die Rückständigkeit Afrikas, was die Entwicklung neuer Technologien anbelangt, liegt ohne Zweifel in der ausgefallenen
Urbanisierung weiter Teile des Kontinents.»

Verstädterungsprozesse spiegeln eine Besonderheit der europäischen Geschichte, nämlich die Genese des Bürgertums als sozialer Schicht mit seinen kulturellen Ambitionen und Bildungsinteressen. Positiv wirkte sich aus, dass es im Westen aus verschiedenen Gründen bei moderaten Urbanisierungsprozessen blieb – anders als in Asien, wo sich bereits im frühen Mittelalter Millionen­metropolen formten. Hier überschattete die Herausforderung, Menschenmassen zu ernähren, alles andere und begünstigte die Genese autoritärer Herrschaftssysteme. Die bürgerlichen Mittelschichten des Westens waren bis an die Schwelle der Moderne einzigartig. In ihrem Ambiente blühten die Tugenden der Kritik und des Zweifels, fand der Machtanspruch der Religion seine Grenzen. Die liberale Demokratie westlichen Zuschnitts kommt aus den Städten, ebenso ihre Theorie.

Ein Blick auf die Schweiz zeigt die Dimension der grossen Divergenz. Was Patentanträge pro Kopf anbelangt, liegt die Schweiz in Europa mit grossem Abstand an der Spitze. Schweizer oder mit der Schweiz eng verbundene Wissenschafter errangen bisher 24 Nobelpreise in den Disziplinen Medizin, Chemie und Physik; die gesamte islamische Welt mit ihrer über zwei Milliarden zählenden Bevölkerung nur deren zwei. Die Gründe dafür sind dieselben, die Erfolge des Westens auch anderswo ermöglichten – unter anderem sind es neben Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität Offenheit für den Austausch mit anderen, Toleranz und Belohnung für kreative Leistungen. Die Sonderstellung der Schweiz dürfte nicht zuletzt damit zu tun haben, dass hier keine Megametropole dominiert, sondern vielmehr kleinere Zentren miteinander konkurrieren. Damit stehen auch deren Bildungseinrichtungen, darunter die Universitäten, in Wettbewerb. Und Konkurrenz ist gut für Innovationen.

Allerdings verlieren die Städte allmählich ihre alten Zen­tren und damit ein Stück weit ihre Identität. Auch die Unterschiede zwischen Stadt und Land nivellieren sich. Ungeachtet aller Versuche, der Verstädterung des Landes Einhalt zu gebieten, wird sich diese Entwicklung fortsetzen. Im Zeitalter des Internets ist der Ort, an dem man arbeitet, wenigstens für bestimmte Berufe nicht mehr so wichtig wie früher; die Pandemie hat die Vorteile von Home offices schlagend demonstriert.

Erosion des Bürgertums

Die Verödung unserer Innenstädte ist die Folge, wenngleich natürlich nur ein Aspekt der eskalierenden Moderne. Das Internet steigert zudem durch die Überfülle an Informationen, die es bietet, die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse und hat so Anteil daran, dass sich Menschen nach einfachen Lösungen sehnen, Populismen verfallen und sich von neuem Autoritarismus faszinieren lassen. Damit korrespondiert ein soziologischer Trend, dessen Folgen gegenwärtig nicht absehbar sind: die Erosion der alten sozialen Formationen des Bürgertums.

Und die Zukunft unserer Städte? Es ist absehbar, dass Denkmalschutz und überhaupt die Pflege des überkommenen architektonischen Erbes in der Zukunft noch wichtiger werden, als sie es bisher schon waren. Veranstaltungen aller Art, etwa historische Feste, sind Versuche, verlorene Identitäten zurückzugewinnen. Wo immer möglich, holen wir zudem Natur – jene Natur, die einst chaotisch, bedrohlich und voller Dämonen war – in die Städte, setzen zum Beispiel auf Vertical Greening, während der alte Traum von Arkadien verweht. An Visionen mangelt es nicht. Ob sie erfüllt werden können, ist offener denn je.

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