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Julian Kamasa, zvg.

Chips gehören ins Pflichtlager

Die Produktionsketten von Halbleitern sind komplex und ausserordentlich fragil. Kein Land kann in diesem Bereich völlig unabhängig sein. Dennoch gibt es für die Schweiz Wege, die Versorgung mit Mikrochips resilienter zu machen.

 

Mikrochips, auch Halbleiter genannt, sind rund einen Zentimeter dünn und werden im Alltag erst durch ihre Abwesenheit sichtbar. Dies war im vergangenen Jahr in der Automobilindustrie in Deutschland und zahlreichen weiteren Staaten der Fall. Die auf Just-in-Time-Produktionsketten basierende Branche hatte nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie mit einem starken Nachfrageeinbruch nach Neuwagen gerechnet und sämtliche Bestellungen für Mikrochips storniert. Der Einbruch dauerte kürzer als angenommen, allerdings waren die ohnehin knappen Mikrochips zu diesem Zeitpunkt bereits an anderen Orten in Verwendung, da diese nicht nur in Autos verbaut werden. Als Folge kam es im Spätsommer 2021 zu monatelangen Wartezeiten auf bestellte Neuwagen. Teilweise musste in Europa sogar die Produktion für einige Wochen ausgesetzt und Angestellte in Kurzarbeit geschickt werden.

Diese Krise steht sinnbildlich für fehlende strategische Weitsicht der Automobilindustrie, welche nicht auf Lagerhaltung gesetzt hatte. Dazu kommt, dass Chips stark nachgefragt werden, da ohne sie sämtliche Elektronik- und Haushaltsgeräte oder auch die Energieversorgung nicht funktionieren würden, weil diese essenzielle Steuerungs-, Rechen- und Speicherfunktionen ermöglichen. Die Chipindustrie kann aufgrund des komplexen Produktions­prozesses kaum auf plötzliche Nachfragesteigerungen wie jene der Automobilindustrie reagieren.

Ein Mikrochip besteht aus Halbleitermaterial wie ­Silizium, das kleine Strommengen leiten kann. Dieses Material wird in mikroskopisch kleine kreisförmige Scheiben geformt, auf denen schichtweise bis zu 50 Milliarden Transistoren und Schaltkreise aufgetragen werden. Der für die Leitung von Strom verantwortliche Transistor ist rund 700mal kleiner als die Breite eines menschlichen Haars. Damit ein Chip brauchbar ist, muss er in Räumen mit stabiler Temperatur und staubfreier Luft produziert werden. Aufgrund dieser hohen Produktionsanforderungen kann der gesamte Prozess von der Forschung bis zur Verpackung Jahre in Anspruch nehmen. Dabei muss stets die technologische Entwicklung antizipiert werden.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass die Chipindustrie die Marktbedürfnisse in einem aussergewöhnlichen Jahr wie 2021 nicht stillen konnte. Die Covid-19-Pandemie hat sämtliche Lieferketten aus den ­Fugen gebracht und zu zahlreichen Ungleichgewichten zwischen Angebot und Nachfrage geführt. Unsicherheiten entlang globaler Lieferketten gab es aufgrund geopolitisch motivierter Rivalitäten zwischen den USA und China schon vor der Pandemie, beispielsweise in Form von Export­kontrollen. Dazu kommt, dass mit Taiwan ein zen­traler Chipproduktionsstandort zum Brennpunkt der Rivalitäten zwischen Peking und Washington geworden ist. ­Ex­­treme Wetterereignisse, welche in den letzten Jahren zugenommen haben und oft zu unkontrollierbaren Stromausfällen führen, treffen die auf konstante Temperaturen und reine Luft angewiesene Chipproduktion besonders hart. Solche Probleme gab es 2021 in Taiwan aufgrund eines Wassermangels und in Texas durch einen plötz­lichen Kälteeinbruch.

Mangel führt zu «Chipageddon»

Der sich im Frühjahr 2021 bereits abzeichnende Mangel an Mikrochips hat im Herbst zu einem Zustand geführt, der auch als «Chipageddon» bezeichnet wurde. Diese Versorgungskrise zeigt auf, welche Herausforderungen sicherheitspolitischer Natur auf Staaten zukommen können, wenn Ressourcen knapp und zentrale Produktionsstandorte von Chips Brennpunkt der Geopolitik sind. Die Lieferkette der Chipindustrie ist stark fragmentiert und spezialisiert. Einzelne Unternehmen haben in Teilbereichen eine Monopolstellung, teilweise unfreiwillig.

So ist beispielsweise der japanische Konzern Ajinomoto der einzige Hersteller einer speziellen Isolierfolie, ohne die der letzte Produktionsschritt unmöglich ist. ­Ajinomotos Kerngeschäft ist jedoch die Produktion des Würzmittels Glutamat, während die Isolierfolie ein wenig lukratives Nebengeschäft ist. In den Niederlanden wieder­um haben sich 30 Jahre Investition in Forschung und Entwicklung bezahlt gemacht. Der dort ansässige Konzern ASML ist der alleinige Zulieferer von Produktionsmaschinen für die modernsten Chips. Diese werden vom Weltmarktführer der Auftragsfertigung, TSMC in Taiwan, benötigt, beispielsweise für die Herstellung von Chips für Apple-Produkte. Dieses stark vereinfachte Beispiel verdeutlicht, dass sich kein Staat mit Chips selbst versorgen kann.

Es gibt auch keine Weltregion, in der Unternehmen alle Aufgaben von Rohstoffabbau, Design, Forschung und Entwicklung, Maschinenbau, Auftragsfertigung, Tests, Montage und bis hin zur Verpackung übernehmen. Defizite in der Produktion, die vorwiegend in Ostasien stattfindet, haben vor allem die USA und die EU dazu veranlasst, milliardenschwere Förderprogramme zu lancieren. Ob ein Ausbau an Produktionskapazitäten die industrielle Nachfrage nachhaltig stillen wird oder eher Teil eines geopolitisch motivierten Subventionswettlaufs ist, ist unter Fachleuten umstritten.

Die Eintrittsbarrieren in die Produktion modernster Chips sind extrem hoch, da der Kapazitätsaufbau sehr viel Zeit und Geld kostet. Und was wäre der Nutzen? Die Elek­tronikindustrie, die auf derartige Chips angewiesen ist, fristet in Europa ein Nischendasein. Die Automobilbranche wiederum benötigt grössere und weniger moderne Chips. Daher ist fraglich, inwiefern ein Aufbau von Produktionskapazitäten modernster Chips der europäischen Industrie dient.

Fest steht, dass führende Nationen wie Taiwan, Japan, Südkorea, aber auch die USA die Entwicklung von Schlüsseltechnologien nicht mehr isoliert betrachten, sondern aufgrund der Rivalität mit China zunehmend in einen geopolitischen Kontext setzen. Auch europäische Staaten, insbesondere Frankreich unter der Macron-Regierung, schauen sich Technologien unter breiteren Gesichtspunkten an, was als Geo-Tech-Ansatz bezeichnet wird.

Die Schweiz braucht eine Strategie

Vor diesem Hintergrund globaler Vorgänge und dem Umstand, dass die Schweiz als kleine offene Volkswirtschaft stark auf funktionierende Lieferketten angewiesen ist, erstaunt es, wie wenig Beachtung diesem Thema bisher gewidmet wird. Sowohl die Covid-19-Pandemie als auch die russische Invasion in der Ukraine haben klar gezeigt, dass sich die Schweiz globalen und regionalen Krisen nicht entziehen kann und daher strategische Weitsicht und ein Denken in Szenarien gefragt wären.

Die Covid-19-Pandemie geht tendenziell zurück. Die geopolitische Rivalität zwischen demokratischen Staaten und Autokratien dagegen verschärft sich, was sich auf die Lieferkettensicherheit auswirkt. So fehlen etwa verschiedene Rohstoffe aus Russland auf dem Markt. Russland ist zudem infolge seines Angriffs auf die Ukraine von westlicher Technologie praktisch entkoppelt. China strebt mit «Made in China 2025» das ­strategische Ziel einer stärkeren Selbstversorgung auch im Hochtechnologiesektor an, hinkt aber den eigenen Ambitionen insbesondere bei Mikrochips noch weit hinterher.

«Taiwan, Japan, Südkorea,

aber auch die USA betrachten

Schlüsseltechnologien nicht mehr ­isoliert,

sondern setzen sie aufgrund

der Rivalität mit China in

einen geopolitischen Kontext.»

Hinzu kommt der Klimawandel als zentrale globale Herausforderung, für deren Bewältigung technologische Lösungen gefragt sind. Investitionen in Solar- und Windenergie haben im Kontext der Abkehr von russischen Energierohstoffen an Akzeptanz gewonnen, auch in der Schweiz. Für eine grünere Wirtschaft werden allerdings Komponenten wie Mikrochips und verlässliche Lieferketten für Hochtechnologie zentral sein.

Drohende Exportkontrollen

Aus diesem Grund sollten sich Akteure in der Schweiz eher früher als später damit befassen, welche Auswirkungen die Geo-Tech-Industriepolitik der USA und der EU auf die Schweiz hat und wie sie sich in diesem Politikfeld positionieren kann. Gerade der Chips Act der EU beinhaltet ein Element, das der EU-Kommission im Krisenfall Exportkontrollen für Chips ermöglicht. Während die Schweiz in einem Schönwetterszenario von mehr Chipproduktions­kapazitäten in EU-Staaten profitieren dürfte, läuft sie Gefahr, im Krisenfall als Drittstaat behandelt zu werden. Ein auf verbindlichen Regeln basierender Zugang zum EU-Binnenmarkt und damit auch zur Versorgung mit in der EU hergestellten Chips wäre daher im Interesse der techno­logischen Souveränität der Schweiz.

Die Schweiz wird keine 50 Milliarden Franken schweren Subventionsprogramme für den Auf- und Ausbau der Chipindustrie aufwenden können, wie es die USA oder die EU anstreben. Aber die Schweiz hat ein Ökosystem aus kurzen Wegen, einer innovativen Privatwirtschaft, exzellenten Hochschulen und politischer Stabilität vorzuweisen. Mit Unternehmen wie VAT, Comet oder Inficon sind Zulieferer für die Chipindustrie in der Schweiz angesiedelt. Mit ABB Power Grids Semiconductor befindet sich in Lenzburg ein Hersteller von Chips für essenzielle Anwendungen in der Stromversorgung. Darüber hinaus ist der ­Hauptsitz des französisch-italienischen Chipherstellers ST Micro­electronics im Kanton Genf. Die Vorzüge der Schweiz gilt es zu nutzen, denn sie könnten für die Chipindustrie, die eher in Jahren denn in Monaten denkt, längerfristig wichtiger sein als Subventionen. Die Schweiz könnte sich deshalb als Standort für Unternehmen dieser Branche ins Spiel bringen.

Eine weitere Stärke der Schweiz, die sich insbesondere in Krisen als wertvoll erwiesen hat, ist die traditionelle Pflichtlagerhaltung lebensnotwendiger Güter. Um die Resilienz gegenüber möglichen Lieferunterbrüchen zu erhöhen, sollte geprüft werden, welche Chips für die kritische Infrastruktur von heute und von morgen benötigt werden und wo es Sinn ergäbe, Chipreserven für den Krisenfall ­anzulegen.

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