Das Establishment ist empört
Die Rollen von ’68 sind vertauscht: Die Kritik, das Aufbegehren, die Aussenseiter, sie stehen heute rechts.
Seit 25 Jahren macht die Schweiz vor, wie man den Rechtspopulismus engagiert und erfolglos bekämpft. Damit bildet sie heute eine Art internationale Avantgarde. Denn blickte das Ausland jüngst noch mit erhobenem Zeigefinger auf den Aufstieg der SVP, so herrscht heute fassungsloses Entsetzen angesichts der Wahltriumphe von Trump, Petry, Hofer, Farage, Le Pen, Wilders & Co.
Höchste Zeit also, dass die Besorgten in Medien, Politik, Kultur und Kirchen auch vor der eigenen Haustüre Widerstand leisten. Jakob Augstein, «Spiegel»-Erbe und Salonsozialist, raunt mit Blick auf die AfD: «Die Bande fallen ab. Die Fesseln. Die AfD hat in Deutschland etwas freigesetzt, das lange Zeit gebändigt war.» Stefan Niggemeier, respektierter Medienkritiker, fragt zweifelnd, ob es geschickt sei, wenn Journalisten in ihren Texten die AfD offen als «den Gegner» bezeichneten. Wie aber sonst sollten die Wohlmeinenden den Kampf gegen rechts aufnehmen? Seit 1968 sehen sie sich in der Rolle der Empörten, der mutigen Verteidiger der kleinen Leute gegen bourgeoise Anmassungen. Wo stünde die bunte und nachhaltige Zivilgesellschaft mit all ihren schützenswerten Minderheiten heute ohne die lautstarke Courage der «Kritischen»?
Doch genau in dieser Perspektive findet sich der Keim des Scheiterns: Die vertrauten Kämpfer für das Gute sind heute eben längst nicht mehr Kritiker des Establishments. Heute, im Jahr 2016, sind sie das Establishment. Der Marsch durch die Institutionen ist längst vollzogen, die «Mitte der Gesellschaft» steht heute links, das Herz schlägt rot-grün. Das Pendel der Geschichte hat den Wendepunkt erreicht, die Rollen von ’68 sind vertauscht: Die Kritik, das Aufbegehren, die Aussenseiter, sie stehen heute rechts. Diese Verkehrung der Lage hat das politmediale Establishment der Schweiz nie begriffen – und der SVP so den roten Teppich ausgerollt. Betrachtet man international die empört-selbstgerechten Reaktionen auf Trump, AfD & Co., so muss auch dort dem Rechtspopulismus eine rosige Zukunft prognostiziert werden.