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Der letzte Moment, als die  Liberalen das Heft in der Hand hielten

Der letzte Moment, als die
Liberalen das Heft in der Hand hielten

Der NZZ-Chefredaktor erklärt im Mai 1968 Studenten, dass es in der Schweiz keine Opposition brauche. Heute ist das anders.

Ronnie Grob kommentiert «Aufgaben und Möglichkeiten einer Opposition in der Schweiz heute» von Fred Luchsinger.


 

Es ist der 7. Mai 1968, und der NZZ-Chefredaktor Fred Luchsinger tritt an der Universität Basel vor die Studentenschaft. Vier Tage davor hatten linke Studenten in Paris die Universität Sorbonne besetzt – es folgten Strassenschlachten mit der Polizei, die wenige Tage nach dem Vortrag eskalieren sollten, eine Schliessung der Sorbonne und ein Hochschulstreik.

Luchsingers Botschaft an die Studenten – sie wird später in den «Monatsheften» abgedruckt – ist so simpel wie einleuchtend: In der Schweiz brauche es gar keine Opposition. Denn Opposition, das mache die Bundesverfassung klar, sei «in Letztinstanz» Sache des Volkes selber. Es gebe keine Verfassung, stellt Luchsinger fest, die es dem Volk von den Institutionen her so leicht mache, seine Regierung und gegebenenfalls die ganze kompakte Majorität seines Parlamentes zu desavouieren, wie die schweizerische.

Wer etwas verändern will hierzulande, bringt sich als Bürger ein im Milizsystem und erarbeitet Lösungen. Opposition gegen das System, findet Luchsinger, führe nur in die Utopie und damit in die Isolierung. Dass die Schweiz von innen her mit revolutionären Methoden umgespatet und transformiert werden könnte, sei eine Illusion. Auch die Taktik der Provokation werde nicht fruchten. Der oppositionelle Widerspruch gehe an der Sache vorbei und vermöge keine Wirkung auszuüben, wenn er beim sehr allgemeinen, grundsätzlichen, ideologischen Nein aus einer resignierten oder trotzigen Abseitsstellung heraus bleibe.

Der selbstsichere Auftritt Luchsingers zeugt vom ungetrübten Verhältnis der damaligen Bürgerlichen zum Schweizer System sowie zur eigenen Macht beziehungsweise Ohnmacht. Dass ein paar radikale Studenten dieses System mit einem Nein aus dem Abseits in ein Ungleichgewicht bringen könnten, war undenkbar; nicht nur für ihn, sondern auch für viele andere seiner Generation. Seine Zeilen zeigen auf, dass träge werden kann, wer lange an der Macht ist – der Freisinn ist es mehr oder weniger seit 1848.

Nach und nach fruchtete nämlich die radikale Obstruktionspolitik der linken Studenten. Der von ihnen geplante Marsch durch die Institutionen begann und ist ein halbes Jahrhundert später am Ziel angekommen. Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass sich die Liberalen das Heft damals aus der Hand haben nehmen lassen: Die Schweiz von heute ist sozialdemokratisiert, und auch ehemals bürgerliche Städte sind fest in grün-linker Hand – viele der Erben der klassisch Liberalen finden das nicht mal schlecht, sondern, noch schlimmer, den richtigen Weg. Was die Deutungshoheit über bürgerliche Politik angeht, hat es die von Christoph Blocher geführte SVP zwar nicht geschafft, der FDP das ganze Heft aus der Hand zu reissen, aber einige Seiten hält sie schon in der Hand. Und das, obwohl vieles, was die SVP vertritt, alles andere als liberal ist.

Stark ist der Text von Luchsinger da, wo er aufzeigt, wie oppositionelle Ideen eingebracht werden in einer liberalen Schweiz, nämlich im Kleinklein der Detailarbeit, die den Kompromiss erst finden muss: «Das Einsteigen in die Realitäten und in die Kenntnis der Realitäten ist eine mühsame Angelegenheit. Jeder weiss das, der einmal mit einem Kopf voll Ideen oder voll von einer Idee eine Kommission hat überzeugen wollen – und Kommissionen sind die abgesteckten Kampfstätten der Konfrontation mit der Meinung der anderen in unserem Lande.»

Denke man über Aufgaben und Möglichkeiten von Opposition in diesem Lande nach, sei Resignation keine Wahl, konkludiert Luchsinger: «Gerade die Konkordanzdemokratie braucht das treibende Element des Widerspruchs, wenn sie nicht in blosser Verwaltung und Schonung von Interessen versinken, sondern Leistungen produzieren soll.»

Es sind die Liberalen, von denen heute Widerspruch kommen muss, denn sie finden sich in Opposition zu einer Obrigkeit, die ihnen das freie Arbeiten und Geschäften in eigener Verantwortung mit immer neuen Verordnungen verunmöglicht. «Man kann in diesem Land nicht wie in einem Zen­tralverwaltungsstaat, womöglich noch mit autoritärer Führung, dekretieren», belehrte Luchsinger die Basler Studenten. 53 Jahre später wird er vom Bundesrat widerlegt, mitgetragen von der FDP. Hoffen wir darauf, dass Luchsinger auf lange Frist recht behält.

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