Glauben ≠ Wissen (Ausschnitt)
Wer weiss, muss nicht glauben. Dumm nur, dass es absolute Wahrheiten in der Wissenschaft nicht gibt.
Als ich 1987 begann, Physik zu studieren, hatte ich die gleiche Motivation wie Goethes Faust: Ich wollte wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Gibt es einen Anfang? Gibt es ein Ende? Verringert sich die Lichtgeschwindigkeit, wenn man sie durch eine Behörde lenkt?
Ich wurde herb enttäuscht, denn bedauerlicherweise lernt man in einem naturwissenschaftlichen Studium vor allem eines: Was wir alles nicht wissen. Der am besten gesicherte Teil unseres Wissens, so lernte ich, besteht aus dem, was wir nicht wissen. Die meisten Dinge, die wir wissen, glauben wir also nur zu wissen. Bis heute weiss ich nicht wirklich, ob es schwarze Löcher gibt. Oder ob der Kanton Aargau schon als eines durchgeht. Der Wissenschafter muss, um das herauszufinden, mit einem gnadenlosen Testverfahren arbeiten – ganz im Gegensatz zum Pfarrer, Mystiker, Esoteriker oder Astrologen. Die harte, aber gerechte Regel für jedes wissenschaftliche Verfahren heisst: Wenn eine Idee nicht funktioniert, muss sie über Bord geworfen werden. In den Naturwissenschaften gibt es demnach keine absoluten Wahrheiten. Man kennt allenfalls den aktuellen Stand des Irrtums und irrt sich sozusagen nach oben.
Dazu ein paar schöne Beispiele: Als man vor 200 Jahren zum ersten Mal unter dem Mikroskop männliche Samenzellen sah, glaubte man, es seien Parasiten (was in gewisser Weise ja auch stimmt). Noch vor wenigen Jahrzehnten hielt man Ärzte, die sich vor einer Operation die Hände wuschen, für Spinner. Und in manchen Provinzkrankenhäusern ist das mitunter immer noch so.
Viele grosse Denker haben sich in fundamentalen Dingen geirrt. «Das Rebhuhnweibchen kann durch die Stimme des Männchens befruchtet werden», war Aristoteles überzeugt. «Die Strahlen dieses Herrn Röntgen werden sich als Betrug herausstellen», wetterte der grosse Lord Kelvin. «Lolita und ich bleiben für immer zusammen», hoffte Lothar Matthäus.
Selbst die Relativitätstheorie ist nur so lange richtig, bis es jemand gelingt, sie zu widerlegen. Wenn Sie nur ein einziges Experiment finden, das eindeutig nachweist, dass sich Einstein irrte, dann hätte Einstein ein grosses Problem. In Glaubenssystemen ist es oft genau umgekehrt. Galilei wies eindeutig nach, dass sich die Kirche irrte. Und somit hatte Galilei ein grosses Problem.
Das bedeutet natürlich keineswegs, dass alles, was wissenschaftlich nicht 100prozentig widerlegt werden kann, automatisch der Wahrheit entspricht. In der Wissenschaft gilt: Wer etwas behauptet, ist beweispflichtig. Und je aussergewöhnlicher eine Behauptung ist, desto klarer und eindeutiger muss der Beweis dafür sein. Eine Vorgehensweise, die in aktuellen Diskussionen oftmals ignoriert wird.
Grenzwerte
Zu viel Dioxin in Frühstückseiern, erhöhte Asbestwerte in Grundschulen, zu hohe Vakuumkonzentrationen in menschlichen Gehirnen – alle paar Wochen informieren uns die Medien, dass irgendwo wieder irgendein Grenzwert überschritten worden ist und uns alle ins Verderben stürzen wird. Vereinfacht dargestellt wird ein Grenzwert nach folgendem Szenario festgelegt: Man gibt einem Meerschweinchen so lange einen bestimmten Schadstoff, bis es daran verendet. Dann rechnet man die tödliche Dosis auf einen Bruchteil herunter und multipliziert diesen Wert mit einem speziellen Umrechnungsfaktor Mensch/Meerschweinchen.
Obwohl diese Art der Berechnung mit das Beste ist, was wir haben, birgt sie eine Reihe von Schwierigkeiten: So weiss man, dass die Giftigkeit von Stoffen für unterschiedliche Lebewesen recht unterschiedliche Auswirkungen haben kann. Die Menge an Dioxin, die ein Meerschweinchen über den Jordan schickt, ist für einen Hamster beispielsweise relativ harmlos. Von einer Kakerlake gar nicht erst zu sprechen. Die können Sie mit Dioxin vollpumpen bis in die Fühlerspitzen, das kümmert die überhaupt nicht.
Um kein Risiko einzugehen, nimmt man selbstverständlich als Referenztiere nicht den robusten Hamster oder gar die Kakerlake, sondern das sensible Meerschweinchen. Was eventuell zur Folge haben könnte, dass wir bei den daraus errechneten Grenzwerten nicht unbedingt den Menschen schützen, sondern das Meerschweinchen. Denn nach allem, was die Toxikologie weiss, scheint der Mensch zu den eher unempfindlicheren Spezies zu gehören und tendenziell näher am Hamster als am Meerschweinchen zu sein.
Einen weiteren Unsicherheitsfaktor bei der Grenzwertberechnung stellt die Frage dar, wann eine bestimmte Dosis tatsächlich gesundheitsschädlich ist. Angenommen, von 10 000 Menschen, die einen drei Meter tiefen Fluss durchqueren, würden 100 ertrinken. Wäre dann die Schlussfolgerung richtig, dass in einem drei Zentimeter tiefen Wasser immer noch ein Mensch ums Leben kommt? Natürlich ist das Quatsch. Aber mit Hilfe solcher Kalkulationen werden Grenzwerte festgelegt. Das liegt keineswegs daran, dass die zuständigen Institute und Behörden zu doof sind, ganz im Gegenteil. Man hat einfach keine andere Möglichkeit, Grenzwerte zu berechnen. Die Krux ist: Wir wissen oft nicht, bei welcher Konzentration ein bestimmter Schadstoff noch gefährlich oder bereits komplett unbedenklich ist.
«Die Dosis macht das Gift», sagte schon vor rund 500 Jahren der Arzt Paracelsus. Doch genau diese Dosis ist oftmals nicht bekannt, und manchmal ist es sogar unmöglich, sie zu bestimmen. Deswegen geht man im Zweifel auf Nummer sicher und setzt die gesetzlich zulässige Dosis so weit herunter, dass man keine Gefährdung mehr nachweisen kann. Um im Bild zu bleiben: Um garantiert nicht zu ertrinken, darf der Fluss nicht tiefer sein als drei Millimeter!
Die Einführung von Grenzwerten ist als Orientierungshilfe notwendig und sinnvoll. Allerdings basiert deren Festlegung oftmals eher auf schlichter Mathematik als auf echten medizinischen Grundlagen. Deshalb sollten wir Grenzwertdiskussionen mit einem gesunden Mass an Skepsis betrachten. Denn nicht immer, wenn ein Grenzwert überschritten ist, bedeutet das automatisch, dass auch tatsächlich eine Gesundheitsgefährdung vorliegt. Die damit verbundene Panik kann mitunter sogar mehr schaden als nützen. Das Wissenschaftsmagazin «Science» hat errechnet, dass in US-amerikanischen Schulen pro Jahr ein Schüler von 10 Millionen durch eine erhöhte Asbestbelastung ums Leben kommt.1 Während der daraufhin durchgeführten Asbestsanierungen mussten viele Schüler die Schule wechseln und einen längeren Schulweg auf sich nehmen. Dabei verunglückten über 300 von ihnen tödlich.
Grenzwerte sind zweifellos ein wichtiges Instrument. Und zwar in den Händen von Wissenschaftern, die einschätzen können, was die jeweiligen Grenzwerte wirklich aussagen. In den Händen von Politikern und Journalisten werden sie leider oftmals in zu hohen Dosen verwendet.
Bei diesem Ausschnitt handelt es sich um eine gekürzte Version von Vince Eberts Essay «Glauben ≠ Wissen». Den ungekürzten Artikel lesen Sie in der März-Ausgabe des MONATS. Seit September 2013 tourt Vince Ebert auch mit seinem sechsten Soloprogramm «Evolution» durch Europa.
Seine nächsten Termine in der Schweiz:
7.3. ab 18 Uhr: Kul-tour auf Vögelinsegg, Speicher
8.3. ab 20 Uhr: Miller’s Studio, Zürich
1 B.T. Mossmann, J. Bignon, M. Corn, A. Seaton, J.B.L. Gee: Asbestos: Scientific Developments and Implications for Public Policy. In: Science. Nr. 247, 1990.