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Schweizer – schlafende Wirtschaftsfreunde

Die Schweizer Bürger beweisen mehr wirtschaftlichen Sachverstand als ihre Politiker und die angeblichen «Eliten» der Nachbarländer. Die Erfolge der Schweiz beruhen jedoch stark darauf, dass sie oft mit Kranken und Fusslahmen verglichen wird. Illusionen sind weitverbreitet, das zeigen die harten Zahlen.

Schweizer – schlafende Wirtschaftsfreunde
Reiner Eichenberger, photographiert von Philipp Baer.

Gerne wird behauptet, die Schweizer seien in jüngster Zeit wirtschaftskritischer geworden. Das sehe ich anders.

Mit «1:12» und dem Mindestlohn kamen zwar zwei wirklich wirtschaftskritische Initiativen der Linken zur Abstimmung, und es wurde sehr viel über Wirtschaftsfeindlichkeit gesprochen und geschrieben. Aber die Bürger haben die Initiativen abgeschmettert und dabei viel Wirtschaftsverständnis gezeigt.

Anderseits ist alles eine Frage der Perspektive: Gemessen an den Wunschvorstellungen mancher Ökonomen stimmt es natürlich, dass die Schweizer wirtschaftskritisch sind. Gemessen an den relevanten Vergleichsgruppen ist die Aussage aber falsch. Die Schweizer sind wirtschaftsfreundlicher als die meisten Europäer.

Gerade haben in Deutschland als fast letztem europäischem Land Regierung und Parlament den schädlichen Mindestlohn eingeführt und dabei weniger Wirtschaftsverständnis als die Schweizer Wähler gezeigt. Die Schweizer Bürger sind auch wirtschaftsfreundlicher als viele ihrer eigenen Politiker und Chefbeamten. Gegenüber der Wirtschaft sind sie oft zu Recht kritisch, wenn es um staatsnahe Branchen wie Finanzen und Pharma geht, aber noch kritischer sind sie – ebenfalls zu Recht – gegenüber Politikern, Gewerkschaften, Medienschaffenden, Ärzten, Lehrern oder Kirchenvertretern. Kritisch sind sie oft auch gegenüber den Wirtschaftswissenschaftern, aber noch kritischer sind sie gegenüber Politikwissenschaftern, Soziologen und Psychologen.

Das grosse Vertrauen der Schweizer in die Wirtschaft ist weder gottgegeben noch genetisch, sondern institutionell bedingt. Die Schweizer Wirtschaft funktioniert vergleichsweise gut, weil sie sich dank besseren politischen Institutionen – insbesondere der direkten Demokratie und dem kleinräumigen Föderalismus – in einem gesünderen gesetzlichen Umfeld befindet. So ist in der Schweiz das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu Wechselkursen umgerechnet rund 80 Prozent höher als in Deutschland und mehr als doppelt so hoch wie etwa in Italien, und auch unter Berücksichtigung der hohen Schweizer Preise ist der Vorsprung noch erstaunlich gross.1 Genauso hat die Schweiz eine sehr tiefe Arbeitslosigkeit und erscheint in allen Rankings zur Wettbewerbsfähigkeit in der absoluten Spitzengruppe und ist fast immer das führende europäische Land. Die komfortable wirtschaftliche Lage der Schweiz spiegelt sich in der hohen Lebenszufriedenheit der Schweizer, die – zusammen mit Dänemark – weltweit Spitze ist. Die Abwanderung ist im internationalen Vergleich sehr tief und die Zuwanderung riesig. Die Bürger legen ihr Geld vorzugsweise in Schweizer Aktien und Anlagen an, und in Abstimmungen stimmen die Bürger zumeist wirtschaftsfreundlich und oft gewerkschaftsfeindlich.

Das zeigt sogar die zuweilen als Gegenbeispiel angeführte Minder-Initiative. Da haben die Bürger für den marktwirtschaftlichen Umgang mit überhöhten Gehältern gestimmt: Die Aktionäre als Zahler sollen über die Gehälter entscheiden. Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse war dagegen, weil er nicht «die Wirtschaft» oder die Aktionäre, sondern die Interessen der Manager und Verwaltungsräte vertritt.

 

 Die Gefahr falscher Vergleiche

Leider aber ist in der Schweiz dennoch nicht alles zum besten bestellt. Ihr geht es gut – aber nur im Vergleich mit Kranken und Fusslahmen. Die meisten EU-Länder, die USA und Japan leiden an frivoler Überschuldungspolitik.2 Die EU-Länder leiden zudem an einer falsch konstruierten Währung, einem falsch konstruierten Altersvorsorgesystem mit riesiger impliziter Verschuldung3, an völliger Überregulierung ihrer Arbeitsmärkte4 sowie an einer fehlgeleiteten Bildungspolitik mit Überakademisierung und Geringschätzung der Berufslehre. Das alte Vorbild USA mit ihren einst vielgepriesenen Freiheiten erscheint heute als Überwachungsstaat mit ausbeuterischer Besteuerung der eigenen Bürger im Ausland und imperialistischer Überstülpung eigenen Rechts auf die ganze Welt. Auch die aufstrebenden Nationen China, Indien und Brasilien sind nicht wirklich Erfolgsgeschichten. Ihr Wachstum beruht nicht darauf, dass ihre Politik besonders gut ist, sondern darauf, dass sie weniger schlecht ist als früher. Jede Verbesserung der Politik führt zu Wachstum, weil dann die knappen Ressourcen – Arbeit, Kapital, Land, Umwelt, Infrastruktur – besser genutzt und entwickelt werden können. 

Der Erfolg der Schweiz relativiert sich stark, wenn sie mit Ländern verglichen wird, die die grundsätzlichen Weichenstellungen wenigstens halbwegs richtig vorgenommen haben. Das gilt zum Teil für Deutschland, Österreich und die Niederlande sowie die skandinavischen Staaten, ganz besonders Dänemark. Dieses Land mit 5,6 Millionen Einwohnern hat ähnlich wie die Schweiz eine recht gesunde Finanzpolitik (mit einer Schuldenquote von 47 Prozent im Jahre 2011), einen flexiblen Arbeitsmarkt, eine gut besicherte Altersvorsorge, ein duales Bildungssystem und einige wichtige fruchtbare politische Institutionen bewahrt, insbesondere eine wenigstens im internationalen Vergleich bemerkenswerte Gemeindeautonomie und das Vernehmlassungsverfahren, das von grösster Bedeutung für ausgewogene und nachhaltige politische Entscheidungen ist.5 Solche Länder sind wirtschaftlich ähnlich erfolgreich wie die Schweiz, und deren erfolgreichste Regionen sind sogar erfolgreicher als viele Regionen in der Schweiz.

 

Falsches Selbstbild und Illusionen

Angesichts der wirtschaftlichen Situation der Schweiz sind eine gewisse Ratlosigkeit und Selbstzweifel nur zu gut verständlich. Denn viele ahnen bzw. wissen: Es geht uns gut, aber es geht uns vor allem gut, weil wir uns an Ländern mit offensichtlichen Problemen messen. Mit der Schuldenkrise in der EU ist der Vorsprung der Schweiz sogar noch gestiegen. Je komfortabler die eigene Situation wird, desto schwächer werden die Anstrengungen für weitere Verbesserungen. Zudem erscheinen Vergleiche mit dem Ausland wenig lehrreich. In vielen Ländern ist die Politik so schlecht, dass sie der Schweiz kaum interessante Anregungen geben kann. Das schlägt sich auch darin nieder, dass es den Schweizer Parteien und Interessengruppen offensichtlich schwerfällt, fruchtbare Vorschläge zur Verbesserung der Schweizer Politik zu entwickeln. So ist es mehr als bekümmernd, dass die Linken und Gewerkschaften nur so offensichtlich schädliche statt wirksame und realistische Vorschläge zur Verbesserung der Situation der wirtschaftlich weniger gut Gestellten an die Urne bringen. Wie viel einfacher wäre es doch, wenn man leicht gute Konzepte aus dem Ausland übernehmen könnte und nicht selbst denken müsste. 

Wer sich nicht mehr intensiv und systematisch mit anderen vergleicht, die es besser machen, entwickelt leicht ein falsches Selbstbild. Und in der Tat – heute haben viele Bürger und Politiker ein völlig falsches Bild der Schweiz. Die herrschende Wahrnehmungsverzerrung muss auch den Medien angelastet werden, die oft unfähig sind, den Wahrheiten ins Auge zu schauen. Das sollen die folgenden Beispiele aus der aktuellen Politik illustrieren:

1. «Die Schweiz ist ein Steuerparadies und Tiefsteuerland.» Das glauben viele, und die Regierung sagt es uns dauernd. Aber leider ist es völlig falsch.6 Zwar ist die Gesamtsteuerbelastung in der Schweiz tatsächlich eher tief.7 Doch für Gutverdienende sind die meisten Kantone unattraktiv. Erstens hat die Schweiz die progressivsten Steuertarife Europas. Während die Steuersätze für Durchschnittsverdiener deutlich tiefer als in den meisten EU-Ländern sind, sind die Spitzensteuersätze in vielen Kantonen praktisch europäischer Durchschnitt oder sogar höher8. Hinzu kommen die AHV-Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Während sie in der Schweiz für Gutverdienende nichts anderes als Steuern sind9, werden die entsprechenden Rentenbeiträge in den meisten anderen Ländern nur bis zu einer gewissen, zumeist nicht sehr hohen Einkommensgrenze erhoben. So beträgt dann die tatsächliche Einkommenssteuerspitzenbelastung auf Arbeitseinkommen zum Beispiel in der Stadt Zürich rund 50 Prozent, was knapp über dem europäischen Durchschnitt von 47 bis 50 Prozent liegt.

Zweitens haben viele Kantone eine aussergewöhnlich hohe Besteuerung der persönlichen Vermögen mit einem Grenzsteuersatz für Vermögen von über einigen wenigen Millionen von bis fast 1 Prozent.10 Ähnliche Vermögenssteuern gibt es im OECD-Raum nur noch in Norwegen und Frankreich, wobei auch in diesen Ländern die Gesamtbelastung der Vermögen deutlich tiefer als in der Schweiz ist. Hingegen erheben die immer wieder als besonders «sozial» gepriesenen Schweden und Dänemark oder auch Deutschland und Österreich keine Vermögenssteuern. Zugleich werden in diesen Ländern auch die Vermögenserträge deutlich tiefer besteuert, weil sie dort anders als in der Schweiz nur einem weit tieferen Satz als Arbeitseinkommen unterliegen. Zumeist werden sie mit rund der Hälfte des normalen Spitzensteuersatzes besteuert. So gilt heute in Österreich ein Steuersatz von 25 Prozent, in Deutschland von rund 27 Prozent und in Schweden von 30 Prozent, wohingegen ein Stadtzürcher rund 43 Prozent bezahlen muss.

Damit ist die Schweiz steuerlich praktisch nur noch für Personen attraktiv, die ihre Steuern in Tiefsteuerkantonen zahlen oder so wie nicht wirtschaftlich tätige Ausländer der Pauschalbesteuerung unterliegen. Für gutverdienende Normalbesteuerte hingegen sind die meisten Kantone nichts anderes als Steuerhöllen.11

2. «Die Gesundheitskosten explodieren.» Dies wird allgemein als grosses Problem wahrgenommen und dient auch als wichtigstes Argument für die im Herbst dieses Jahres zur Abstimmung kommende Einheitskasse. Tatsächlich aber sind in der Schweiz die realen Gesundheitskosten pro Einwohner in den letzten
15 Jahren weniger stark gestiegen als in fast allen anderen industrialisierten Ländern.12 Zudem hat ihr Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung seit 2004 nicht mehr zugenommen. Von der Gesamtkostensteigerung von durchschnittlich gut 3 Prozent jährlich gehen rund 1 Prozent auf die allgemeine Teuerung, 1 Prozent auf das Bevölkerungswachstum und der Rest zu einem guten Teil zulasten der Alterung. Aber Vorsicht, das Problem der Alterung besteht grossenteils nicht in der Zunahme medizinischer Probleme – wir werden ja älter, weil wir immer gesünder werden. Vielmehr haben die Alten wegen der Zwangspensionierung mit spätestens 65 viel Zeit für den Konsum von Gesundheitsleistungen. Unser wahres Problem ist also nicht das Wachstum, sondern das Niveau der Gesundheitskosten. Zwar sind die Gesundheitskosten relativ zum gesamtwirtschaftlichen Einkommen ähnlich hoch wie in vielen EU-Ländern wie etwa Deutschland oder auch Frankreich, aber wie bereits erwähnt ist ja auch unser Einkommen zum Wechselkurs umgerechnet sehr viel höher. Deshalb sind unsere Gesundheitskosten pro Einwohner zu laufenden Wechselkursen umgerechnet gut 80 Prozent höher als etwa in Deutschland. Folglich brauchen wir nicht weniger Kostenwachstum, sondern echte Kostensenkungen. Die ganze Politik ist aber heute auf dem Holzweg, weil sie – Don Quijote lässt grüssen – gegen die nicht existierende Kostenexplosion kämpft.

3. «Die Zuwanderung bringt Wirtschaftswachstum.» Das ist die Dauerleier unserer Regierung. Natürlich ist das richtig – aber halt völlig unwichtig. Entscheidend ist die Wirkung der Zuwanderung auf das Einkommen pro Kopf der bisherigen Einwohner. Leider gibt es kaum gute Argumente für eine positive Wirkung der Zuwanderung auf das Einkommen pro Kopf, aber sehr viele gute Argumente für eine negative Wirkung. Sehr hohe und freie Zuwanderung wirkt weniger über den Arbeitsmarkt als über die Verknappung der natürlich oder politisch fixierten Faktoren wie Boden und Infrastruktur. Dadurch steigen die Wohn-, Energie-, In­frastruktur- und Verkehrskosten, wodurch das Niveau unseres realen Wohlstands sinkt. Die Verlierer der Personenfreizügigkeit sind die bisherigen Arbeitnehmer. Die Gewinner sind diejenigen, die mehr Immobilien besitzen, als sie zum Eigenbedarf benötigen. Damit ist die Personenfreizügigkeit ein gigantisches Umverteilungsprogramm. Wirklich ärgerlich ist jedoch, dass unsere Regierung und unsere Spitzenverbände nicht auf die so offensichtlichen Probleme eingehen. Das tun sie nicht nur aus Eigeninteresse nicht, sondern weil sie in vielerlei Denkfallen stecken.13 In diese Denkfallen sind sie geraten, weil eine so starke längerfristige Zuwanderung unter Personenfreizügigkeit, beschränktem Siedlungsraum und ohne Abschöpfungsmöglichkeit für die Gewinne der Zuwanderung ein fast rein schweizerisches Problem ist. Die anderen Zuwanderungsländer haben entweder keine Personenfreizügigkeit oder aber Mechanismen zur diskriminierenden impliziten Besteuerung der Zuwanderer.14 So werden etwa in Singapur der grösste Teil der wegen der Zuwanderung nötigen Neubauten auf Land im Staatsbesitz errichtet, wobei dann die Einheimischen Wohnungen zu günstigen Vorzugspreisen kaufen können, aber die Zuwanderer den hohen Normalpreis bezahlen müssen. Wiederum gilt, dass von einfachen Vergleichen mit EU-Ländern und einfacher Sichtung der wissenschaftlichen Literatur wenig zu lernen ist, weil die Schweiz hier ein spezielles Problem hat. Sehr lehrreich sind aber Vergleiche mit sorgfältig gewählten Vergleichsländern, hier insbesondere Singapur, Hongkong und Luxemburg.

4. «Die Einkommensverteilung wird immer ungleicher.» So werden Forderungen wie Mindestlöhne und 1:12, aber auch viele andere Umverteilungsanliegen und Markteingriffe begründet. Aber: nach OECD ist in der Schweiz die Ungleichheit der Einkommen nach Steuern etwa gleich hoch wie im Durchschnitt der EU-15-Länder.15 Hingegen ist die Einkommensverteilung vor Steuern weit ausgeglichener als in allen EU-Ländern. Bei den selbstverdienten Einkommen der Bevölkerung im Erwerbsalter ist die Schweiz sogar extrem egalitär und hat im ganzen OECD-Raum zusammen mit Südkorea die weitaus ausgeglichenste Einkommensverteilung. Die Ungleichheit vor Steuern ist besonders wichtig. Zum einen ist für viele Menschen wichtiger, was sie aus eigener Leistung erreichen können als durch Umverteilung und Almosen vom Staat. Zum anderen führt starke staatliche Umverteilung fast zwangsläufig zu hohen volkswirtschaftlichen Kosten.16

5. «Öl wird immer knapper. Deshalb ist der Ölpreis heute mit rund 105 bis 110 Dollar pro Fass so hoch und steigt dauernd.» Die zunehmende Knappheit fossiler Energien dient stereotyp als Argument für Energiesparmassnahmen und auch als wichtiges Argument für unsere unsäglich teure und völlig ineffizient aufgegleiste Energiewende. Dabei ist die Behauptung nur falsch: Heute sind 105 bis 110 Dollar rund 95 Franken. Schon in den 1980er Jahren war Öl real praktisch gleich teuer. Zwar kostete es nur 30 bis 35 Dollar, aber bei einem Dollarkurs von 1.60 bis 2.00 Franken und einer Frankeninflation von seither über 60 Prozent macht das rund 95 Franken pro Fass.

Solche grundlegenden Fehleinschätzungen sind heute in der Schweizer Politik allgegenwärtig (aber natürlich gibt es im Ausland noch schlimmere Illusionen). Die Fehler sind immer die gleichen: Insbesondere wird zu wenig und mit den falschen Ländern verglichen, es werden oft grosse Aggregate betrachtet statt «kopfgerechnet» (also das interessierende Phänomen pro Einwohner gerechnet), und es wird nicht hinreichend deflationiert.

 

Konkrete Lösungsansätze

Wie bringen wir die Politik dazu, trotz der relativ guten Position der Schweiz aktiver zu sein und neue Lösungen zu suchen? Langfristig ist entscheidend, die grundlegenden politischen Institutionen der Schweiz zu verbessern. Der entscheidende Ansatzpunkt ist die Stärkung des politischen Wettbewerbs, sowohl des repräsentativdemokratischen, des direktdemokratischen und des föderalistischen Wettbewerbs als auch desjenigen zwischen verschiedenen Regierungsgremien. Entsprechende Vorschläge wurden in diesem Magazin schon verschiedentlich entwickelt.17 Im folgenden sollen deshalb zwei neue schnell umsetzbare Massnahmen diskutiert werden. 

Erstens muss der gefühlte Wettbewerbsdruck aus dem Ausland erhöht werden. An der Politik des Auslandes können wir kaum etwas ändern. Wir können aber wählen, an wem wir uns orientieren. Solange wir uns vor allem mit unseren Nachbarländern vergleichen, messen wir uns mit Ländern mit nur allzu offensichtlichen Problemen aufgrund von schlechter Politik, unzureichenden Institutionen, grossen Unterschieden zwischen den Regionen sowie riesigen Belastungen durch Umverteilungsmassnahmen, sei es wie zwischen Nord- und Süditalien oder zwischen dem ehemaligen Westen und Osten Deutschlands. 

Richtige Vergleiche müssten sich für die Schweiz auf ähnlich grosse Räume wie die Schweiz und für die Schweizer Kantone auf ähnlich grosse Regionen wie die betreffenden Kantone beziehen. Dazu müsste der Bund ein Programm zum intelligenten Benchmarking der Schweiz aufgleisen. In der Schweiz könnten wohl ungeahnte Kräfte geweckt werden, wenn der Bund die Schweiz vor allem mit Ländern wie Dänemark, Schweden, Österreich, den Niederlanden, Singapur und Hongkong sowie mit den erfolgreichen Regionen Bayern, Baden-Württemberg, Lombardei, Piemont, Isle de France und Greater London vergleichen würde. Genauso müssten einzelne Kantone an Vorarlberg, Salzburg, Luxemburg, Liechtenstein und besonders erfolgreichen Regionen in Skandinavien gemessen werden. So würde plötzlich klar: Die Schweiz ist schon gut, aber eben nicht so gut wie oft behauptet, und es gibt viele Ideen, die es wert sind, genau studiert und auch übernommen zu werden. Viele Illusionen würden platzen oder zumindest in einem ganz neuen Licht erscheinen. Ein Beispiel ist die oben noch gerühmte hohe Gleichheit in der Schweiz. Im Vergleich zu grossen Ländern wie etwa Deutschland ist es für die Schweiz oder auch die skandinavischen Staaten viel leichter, eine kleine Ungleichheit zu erreichen, weil die Gleichheitsmasse auch die teils riesigen Unterschiede zwischen den Regionen mitmessen. Dass also Italien und Deutschland und erst recht die USA eine relativ grosse Ungleichheit aufweisen, heisst nicht notwendigerweise, dass die Ungleichheit zwischen den Personen der gleichen Region gross ist. Ein fruchtbarer Vergleich sollte deshalb auf etwa gleich grosse Einheiten abstellen oder die regionalen Unterschiede herausrechnen. Bemerkenswerterweise ist in der Schweiz das Einkommen vor Steuern sogar in einem solchen Vergleich mit ähnlich grossen Staaten sehr egalitär verteilt.

Die Erarbeitung und Bereitstellung solcher Vergleiche sind ein öffentliches Gut oder in Neuschweizerisch: wahrer Service public. Heute werden sie wenigstens teilweise von privaten Organisationen wie Avenir Suisse oder BAK Basel in verdienstvoller Weise erbracht, sind jedoch aus Kostengründen zu wenig breit abgestützt und bei vielen Organisationen (Avenir Suisse ist eine löbliche Ausnahme) oft nur zu hohen Preisen einsehbar. Deshalb wäre es wichtig, dass der Staat hier unterstützend eingreift. Er sollte verschiedene geeignete Institutionen beauftragen, regelmässig vernünftige, konkurrierende Vergleiche aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. 

Zweitens muss der interne Wettbewerb gestärkt werden. Der föderalistische Wettbewerb zwischen den Kantonen und Gemeinden war einst das treibende Element hinter der erfolgreichen Entwicklung der Schweiz. Mittlerweile ist dieser Wettbewerb durch die Finanzausgleichsmechanismen auf Bundes- und Kantonsebene stark abgeschwächt. Sie nehmen den erfolgreichen Kantonen und Gemeinden einen grossen Teil ihres Erfolgs weg und entschädigen die weniger erfolgreichen für einen sehr grossen Teil ihres Misserfolgs. Auf Bundesebene sind insbesondere die Entschädigungen für die weniger erfolgreichen Kantone problematisch. Den Nehmerkantonen werden bei einer Verbesserung ihrer Lage die Ausgleichszahlungen gekürzt. Heute müssen die Nehmerkantone bis zu 80 Prozent der Steigerung ihres Leistungspotentials an die anderen Kantone abgeben. Für die betroffenen Kantone kann das jeden Anreiz zur Verbesserung der eigenen Lage zerstören. Schafft es beispielsweise ein bisher finanziell leistungsschwacher Kanton, dank einer Senkung der Steuersätze Firmen aus dem Ausland anzuziehen und so die Gewinnsumme im Kanton stark und die Steuereinnahmen trotz tieferer Steuersätze ein wenig zu erhöhen, beträgt die Senkung der Ausgleichszahlung – weil die Ausgleichszahlungen indirekt aufgrund der Gewinnsummen im Kanton berechnet werden – leicht ein Vielfaches der zusätzlichen Steuereinnahmen. Deshalb lohnen sich innovative Politiken zur Steigerung der Standortattraktivität heute kaum noch. Eindrücklich illustriert dies der Streit der Schweiz mit der EU und der OECD um die Besteuerung von Spezialgesellschaften. Der Bundesrat schlägt nun vor, dass die Schweizer Kantone nicht mehr so wie bisher ausländische und inländische Gewinne unterschiedlich und damit diskriminierend behandeln sollten, sondern so wie die Niederlande und mittlerweile viele andere Länder sogenannte Lizenzboxen einrichten sollten, also Gewinne aus Lizenzeinnahmen anders als andere Gewinne behandeln und so international mobile Firmen anziehen sollten. Die entscheidende Frage wird aber kaum je gestellt: Weshalb haben die Holländer und nicht die Schweizer die Lizenzboxen erfunden? Die Antwort ist einfach: Wegen dem Finanzausgleich lohnen sich solche Innovationen für den potentiellen Innovator kaum noch oder schaden ihm sogar. Folglich gilt es, den Finanzausgleich möglichst schnell zu verbessern.

Sinnvoll wären drei Massnahmen: Erstens sollten die Kantone, wenn sie ihre Situation dank innovativen Massnahmen verbessern, nicht sofort durch die Anpassung der Finanzausgleichszahlungen bestraft werden. Sinnvoll wäre es, die Ausgleichszahlungen erst mit einer Karenzfrist von acht bis zehn Jahren der finanziellen Situation der Kantone anzupassen. So hätten die Regierungen trotz Finanzausgleich Anreize, die finanzielle Situation ihres Kantons zu verbessern. Zweitens sollten diese Anreize noch gestärkt werden, indem Kantone, die ihre Situation verbessern, nicht wie heute nur mit einem Malus in Form einer Kürzung der Ausgleichszahlung bestraft, sondern schnell mit einem Bonus belohnt werden. Drittens sollte zwischen Ressourcen unterschieden werden, die Konzerne aus anderen Kantonen anlocken, und solchen, die sie aus dem Ausland anlocken. Für letztere sollte es grössere Boni und kleinere Kürzungen der Ausgleichszahlungen geben. Dank diesen Massnahmen ginge es den heute finanzschwachen Kantonen bald besser, so dass auch die gesamte Umverteilung zwischen den Kantonen gesenkt werden könnte und so ihre Anreize und schliesslich ihre wirtschaftliche und finanzielle Situation weiter verbessert würde. 

 

 


1 Die hier angegebenen Zahlen finden sich in OECD.StatExtracts auf http://stats.oecd.org/.

2 Die explizite Schuldenquote (explizite Staatsschulden relativ zum Bruttoinlandsprodukt) beträgt heute in der EU durchschnittlich rund 90 Prozent, in den USA 105 Prozent und in Japan 240 Prozent. In der Schweiz liegt sie bei 35 Prozent.
3 Die ungedeckten Versprechungen in der Sozialpolitik insbesondere an die
zukünftigen Rentner belaufen sich in Deutschland auf nochmals rund 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in vielen Ländern wie Grossbritannien, Frankreich oder auch den Niederlanden aber auf 300 bis 500 Prozent und in manchen
EU-Ländern auf über 1000 Prozent (vgl. Moog, Stefan und Raffelhüschen, Bernd [2014], Ehrbare Staaten? Update 2013. Die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen in Europa. Argumente zu Marktwirtschaft und Politik 125, Mai 2014).
Allerdings beruhen die Zahlen auf Schätzungen, die von vielen Annahmen (z.B. zukünftige Wachstumsraten, Zinssätze, Bevölkerungsentwicklung) abhängen
und bei kleinen Änderungen der Annahmen stark variieren.
4 Neue Studien zeigen die grosse Bedeutung von regionaler und branchenspezifischer Flexibilität der Arbeitsbedingungen auf. Vgl. Dustmann, Christian, Fitzenberger, Bernd, Schönberg, Uta and Spitz-Oener, Alexandra (2014). From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s Resurgent Economy. Journal of
Economic Perspectives, 28(1): 167–188.
5 Vgl. Chistoffersen, Henrik, Beyeler, Michelle, Eichenberger, Reiner, Nannestad, Peter und Paldam, Martin (2014), The good society – A comparative study of
Denmark and Switzerland. Berlin: Springer.
6 Vgl. Eichenberger, Reiner (2013). Erbschaftssteuern für direkte Nachkommen: Die schlechteste Steuer. In Pierre Bessard (Hrsg.), Nachteil Erbschaftssteuer,
Zürich: Liberales Institut: 45–71.
7 Aber Vorsicht: Die oft für die Schweiz herumgereichten sehr tiefen Abgabenquoten vernachlässigen normalerweise die Krankenkasse und die zweite Säule der
Altersvorsorge, die in vielen andern Ländern über die Steuern finanziert werden. Wenn die Daten für die Schweiz um diese Grössen korrigiert werden, erreicht
die Schweiz Gesamtabgabenquoten von um die 50 Prozent, was ähnlich ist wie
in vielen anderen europäischen Ländern. Allerdings muss dann wiederum berücksichtigt werden, dass darin die ganze Kapitalbildung der zweiten Säule enthalten ist, wohingegen in den meisten anderen Ländern diese Kosten erst in Zukunft
anfallen.
8 In Ländern wie Österreich, Deutschland und Dänemark, ja ganz generell in der EU setzt der höchste Steuersatz schon bei Löhnen an, die vollzeitarbeitende
Normalverdiener erreichen (in Österreich z.B. gilt der höchste Satz von 50 Prozent ab 60 000 Euro). In der Schweiz hingegen setzen die höchsten Steuersätze
zumeist bei Einkommen von deutlich über 200 000 CHF ein.
9 Da die AHV-Rente von den Einzahlungen über das Leben abhängt, gibt es keine eindeutige Einkommensschwelle, ab der die AHV eine Steuer ist. Da aber die meisten Vollzeitarbeitenden im Alter so oder so die volle AHV-Rente erhalten, bringen ihnen die AHV-Beiträge auf zusätzlichem Einkommen keine zusätzlichen
persönlichen Erträge und sind deshalb nichts anderes als eine Steuer.
10 Da Vermögenssteuern jährlich anfallen, belasten sie über mehrere Jahre die
Vermögen weit mehr als auch sehr hohe Erbschaftssteuern.
11 Auch hier muss natürlich wie immer zwischen der Total- und der Grenzbelastung unterschieden werden. Weil die ersten 150 000 bis 200 000 Franken deutlich tiefer als im Ausland besteuert werden, zahlen auch Personen mit höheren
Einkommen insgesamt lange weniger Steuern als im Ausland. Ihre Grenzbelastung auf zusätzlichem Einkommen ist aber derjenigen im Ausland sehr ähnlich und sogar deutlich höher, wenn sie Kapitaleinkommen haben.
12 Vgl. OECD (2013), Health at a Glance 2013. OECD Publishing, insb. S. 155.
13 Vgl. Eichenberger, Reiner (2014). Mehr als falsch (Personenfreizügigkeit: 21 Denkfallen). Weltwoche, Nr. 3/2014: 14–16.
14 Alle EU-Länder ausser Luxemburg und für einige Zeit Irland hatten eine viel
tiefere Nettozuwanderung als die Schweiz mit in den letzten Jahren 0,8 bis 1,1
Prozent. Über mehrere Jahre gerechnet hatten sie alle eine Nettozuwanderung von unter 0,6 Prozent und waren damit unter dem auch von vielen «harten
Zuwanderungsgegnern» und «Isolationisten» angestrebten Wert für die Schweiz. Insbesondere Deutschland hatte in letzter Zeit (abgesehen von den letzten zwei Jahren mit rund 0,4 Prozent) kaum Nettozuwanderung. Folglich gibt es in Europa kaum Erfahrung im Umgang mit grosser längerfristiger Nettozuwanderung.
15 So war der Gini-Koeffizient für das marktlich erzielte Einkommen als Mass für Ungleichverteilung in der Schweiz mit 0,35 und Südkorea mit 0,34 am tiefsten,
weit vor Finnland (0,39), Dänemark und Niederlande (je 0,42), Schweden (0,43), USA, Grossbritannien und Österreich (je 0,46), Frankreich (0,48) und Deutschland (0,51). Genauso war der Anteil des am besten verdienenden Dezils am Gesamteinkommen in der Schweiz mit 23,5% und Südkorea mit 23,4% am tiefsten, vor Frankreich (25,5), Dänemark (25,7), Österreich (26,1), Schweden (26,6), Finnland (26,9), Niederlande (27,5), Deutschland (29,2), Grossbritannien (32,3), USA (33,5) und Italien (35,8). (Vgl. OECD [2008]. Growing Unequal? Income Distribution and
Poverty in OECD Countries. Paris: OECD, Tabelle 4–5.)
16 Die Verteilungsmasse zeigen, dass in der Schweiz insgesamt relativ wenig
umverteilt wird. Umverteilung ist aber auch weniger nötig, weil eben die Einkommen vor Steuern im internationalen Vergleich sehr gleichmässig verteilt sind.
Die erwähnte starke Progression der Steuersätze würde eigentlich vermuten
lassen, dass die Umverteilung in der Schweiz auch sehr stark ist. Die Umverteilungswirkung der Steuern wird aber dadurch gemildert, dass die Gutverdienenden tendenziell in Kantonen und Gemeinden mit tieferen Steuern wohnen (dafür
haben sie dann dort wesentlich höhere Wohnkosten; die Hauptprofiteure des Steuerföderalismus sind nicht die Gutverdienenden, sondern die Bodenbesitzer
in den Tiefsteuerkantonen).
17 Vgl. Eichenberger, Reiner und Funk, Michael. Wider den politischen Heimatschutz. Schweizer Monat, Nr. 993, Februar 2012: 22–25.

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