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Vom Zählen der Tassen im Schrank

Intelligenz zeigt sich nur im Vollzug Der Blick in den Werkzeugkasten eines Handwerkers sagt wenig über seine tatsächlichen Leistungen. Ebenso wenig, so argumentiert der Autor im folgenden Beitrag, prognostizieren die Ergebnisse der Intelligenz-Tests, ob jemand sich im Leben und Beruf auch tatsächlich intelligent verhält.

Nicht der Geist, wie Gottfried Benn hochfliegend mutmasste, ist immer schon da, das Erstgeburtsrecht gehört der Dummheit. Sie ist das ewige Prinzip; der Geist kam ziemlich spät erst in die Welt und ist darin nie recht heimisch geworden. Die selbsternannten Sachwalter des Geistes auf Erden versuchen seit eh und je, diesen peinlichen Sachverhalt zu vertuschen, ja, die Dinge geradezu in ihr Gegenteil zu verkehren, uns weiszumachen, am Anfang sei Vollkommenheit gewesen und Dummheit nur eine späte Entartung. Platon entwickelte mit seiner Ideenlehre ein instruktives Exempel für diesen abwegigen Gedanken; aber auch die Theologen aller Couleur haben dieses Problem: Wie und vor allem warum sollte aus dem schon Vollkommenen noch das Unvollkommene hervorgehen? (Freilich, so weit ist noch keiner gegangen zu behaupten, dass am Anfang das Licht gewesen sei und die Dunkelheit erst habe dazu erfunden werden müssen…)

Am Anfang war das Leben dumm

Nun ist in der Tat der Himmel der Ideen nicht der Platz, wo Intelligenz zum Ereignis werden könnte, weil in der ewigen Unveränderlichkeit nichts Ereignis werden kann. Das Kluge aber, wie auch das Böse, existiert erst, wenn wir es tun. (Darum muss der Schurke bei seinem ersten Auftritt auf der Leinwand, die die Welt bedeutet, seine Bosheit immer gleich durch eine gemeine Tat demonstrieren.) Von daher versteht sich, dass vor der Entstehung des Lebens von Intelligenz in der Welt nicht die Rede sein konnte. (Von Bosheit übrigens auch nicht; aber das ist ein anderer Diskurs.) Die Dinge geschahen einfach, wie sie geschehen mussten. Erst mit dem Leben ist die Intelligenz in die Welt gekommen – und mit ihm wird sie eines Tages auch wieder daraus verschwinden.

Die Anfänge waren freilich bescheiden. Das erste Leben war noch taub, blind und auch verhältnismässig dumm; konnte aber alles das nicht bleiben, wenn es am Leben bleiben wollte. Es musste also lernen, die Dinge zu betasten, ihnen nachzuschmecken, ihnen entgegenzuriechen, sie abzuhorchen und zu besehen, am Ende, sie zu begreifen (zunächst noch im ganz eigentlichen Sinne dieses Wortes) und aus alledem sich ein Bild zu machen davon, was auf der Erde vorhanden ist, wo oben ist und wo unten und wie die Dinge so laufen. Erkenne die Lage, das war, um noch einmal auf Gottfried Benn zurückzukommen, die erste Maxime, die zweite: Was ist zu tun?

Es ging darum, die Dinge eben nicht einfach laufen zu lassen, wie sie laufen wollten, sondern einzugreifen in den Lauf der Welt, beabsichtigt und gezielt die Ereignisse in bestimmte Richtungen zu lenken, um gewünschte und gewollte Ergebnisse zu erzielen. Das ist intelligentes Handeln. Ob ein Verhalten intelligent ist, hängt also vom Ziel ab, das erreicht werden soll und davon, ob die dazu eingesetzten Mittel tatsächlich zielführend sind. Intelligenz, so verstanden, ist primär die Eigenschaft eines Prozesses und nicht, wie wir es gewohnt sind zu sagen, einer Person. Dennoch ist auch diese Redeweise nicht abwegig, wenn wir damit zum Ausdruck bringen wollen, dass ein Mensch disponiert zu sein scheint, immer wieder intelligentes Verhalten zu zeigen. Problematisch wird diese Redeweise erst, wenn wir Intelligenz dadurch verdinglichen, sie zu einer Sache machen, die man dann konkret nicht nur suchen kann, sondern zählen wie die Bücher im Regal oder die sprichwörtlichen Tassen im Schrank.

Die Verdinglichung der Intelligenz

Ist aber nun nicht gerade das Messen von Intelligenz eine der am sorgfältigsten ausgearbeiteten Methoden der psychologischen Diagnostik? – Sicher, dass mit Hilfe von Intelligenz-Tests etwas zuverlässig gemessen werden kann, ist keine Frage, wohl aber, was da eigentlich genau gemessen werden kann. Wir können mit Hilfe solcher Test herausfinden, wieviele Zahlen ein Proband sich nach einmaligem Hören merken kann, wie umfangreich sein allgemeines Wissen ist, wie leicht er mit Wörtern umgeht, ob er komplizierte Regeln erkennen kann, wie es um sein räumliches Vorstellungsvermögen bestellt ist, mit einem Wort: Wir testen Sach- und Regelwissen und das Funktionieren bestimmter kognitiver Fähigkeiten.

Das alles ist fraglos nicht wenig; aber reicht es schon aus, einem Probanden Intelligenz in genau bestimmter Quantität zu bescheinigen? – Mir scheint, dass wir auf diese Weise allenfalls das Vorhandensein der Mittel prüfen, die in vielen Fällen notwendige, aber noch keineswegs schon hinreichende Bedingungen intelligenten Verhaltens darstellen. Dabei stehen zu bleiben, wäre so, als wollte man einem Handwerker einen Meisterbrief ausstellen allein in Hinblick auf die Sichtung seines Werkzeugkastens. Die Frage kann doch nicht sein, ob alles drin ist, was man braucht, die Frage ist doch: Was kann er damit machen? Wie berechtigt diese Frage ist, belegt die Tatsache, dass Intelligenz-Test-Werte erstaunlich wenig mit tatsächlich erbrachten Berufs- und Lebensleistungen korrelieren. Dass einer eine von den Ahnen überkommene exquisite Waffensammlung besitzt, heisst ja noch lange nicht, dass er deshalb auch ein guter Schütze sein muss.

Der Beweis des Kuchens liegt im Essen

Das leitet zurück zu der Feststellung, dass Intelligenz das Prädikat eines Verhaltens, also eines Prozesses ist und daher auch nur im Vollzug feststellbar wird. Hier bestätigt sich einmal mehr die Regel, dass der Beweis des Kuchens im Essen liegt. Ob ein Material brennbar ist, kann ich durch keinerlei vorgängige Tests und Analysen herausfinden, sondern allein dadurch, dass ich es anzünde. Das ist mit anderen Dispositionen nicht anders: Ob ein Stoff in Wasser löslich ist, ein Auto eine gute Strassenlage hat oder ein Mensch eine hohe Intelligenz, das alles sind in letzter Konsequenz Fragen der Empirie. Wie gut ein Auto im Gelände geht, zeigt sich beim Fahren im Gelände; und der Elch-Test hat da schon denkwürdige Überraschungen gebracht. Der Mensa-Club, jener Verein, dessen Mitglieder stolz darauf sind, ein «IQ 140» auf ihre Visitenkarten drucken zu dürfen, ist voll von Leuten, die dann beim Elch-Test umgefallen sind.

Soll man deshalb den Wechsler-Test (und andere seiner Art) verbrennen? – Das hiesse wohl, das Kind mit dem Bade ausschütten. Im Kontext mit anderen Test-Ergebnissen kann ein Intelligenz-Test-Wert Fachleuten bei Fragen der Schul- und Laufbahnberatung oder Erziehungsproblemen wertvolle Aufschlüsse liefern. Als nackte Zahl jedoch und ausser Zusammenhang hat er nur geringen prognostischen Wert; und wenn, dann noch am ehesten für Schulleistungen von Kindern und Jugendlichen. Ein IQ-Wert ist gewissermassen eine begründete Vermutung über ein Potential. Da aber im richtigen Leben nicht zählt, was möglich wäre, sondern nur, was wirklich wird, ist es eher abwegig, mit einer solchen Zahl zu prahlen – vor allem dann, wenn entsprechende Leistungen ausgeblieben sind.

IQ: Vorsicht beim Prahlen

Von daher versteht es sich, dass eine Wette auf die Zukunft, und das ist ja jede Feststellung eines Potentials, nur dann sinnvoll sein kann, wenn noch Zukunft da ist. Kann man bei einem Zehnjährigen feststellen, er habe das Zeug dazu, einmal acht Meter weit zu springen, macht das Sinn; denn er kann noch entscheiden, ob er darauf hinarbeiten will, diese Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen. Bei einem Dreissigjährigen ein solches Potential zu diagnostizieren, wäre eine absurde Wette auf die Vergangenheit; denn entweder hat er eine solche Leistung schon erreicht, und dann wäre die Bescheinigung des Potentials dazu nur ein Anachronismus, oder er hat eine entsprechende Leistung nicht erreicht und wird sie auch nicht mehr erreichen. Wollte er sich in diesem Falle auf die Visitenkarte drucken lassen «Ich bin ein potentieller Acht-Meter-Springer», würde das wohl wenig beeindrucken, vor allem, wenn er in Tat und Wahrheit bisher nie weiter als fünf Meter gehüpft ist. Mit Intelligenz-Test-Werten verhält es sich nicht wesentlich anders. Sie sind Schecks, vordatiert auf die Zukunft, bei denen sich erst wird erweisen müssen, ob sie auch gedeckt sind, nichts also, was man sich bereits selbstzufrieden auf die Habenseite buchen kann. Vorschusslorbeeren müssen immer auch noch verdient werden.

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