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Unter­nehmen Nach­haltigkeit
Olga Dubey, Co­-Founder und CEO von AgroSustain, fotografiert von Laura Clavadetscher.

Unter­nehmen Nach­haltigkeit

Es braucht keine Revolution, um Ressourcen zu schützen und die Wertschöpfungskette der Nahrungsmittelindustrie effizienter zu organisieren. Längst sind unternehmerisch engagierte Weltverbesserer daran, die Probleme von morgen zu lösen. Einige Beispiele.

1 Die (Voll­kosten-)Rechnung, bitte!

Ohne Transparenz keine Konsumentensouveränität: Wie man Kostenwahrheit herstellt, mit Marktdruck die Food-Industrie umkrempelt und die Welt rettet. Zumindest fast.

Was kostet ein halbes Kilo Kartoffeln? Die Antwort scheint einfach: in der Schweiz in der Regel zwischen 2 und 6 Franken, je nach Qualität, Herkunft und Produktionsstandard. Dieser Supermarktpreis berücksichtigt alle Kosten zur Erzeugung, die für Hersteller und Händler regulär anfallen (vom Saatgut über den Feldunterhalt, den Wasserverbrauch, den Pflanz- und Ernteaufwand bis zur Verpackung und zum Transport usw.) – plus Marge. Was er aber nicht berücksichtigt, und damit büsst obige Antwort einen erheblichen Teil ihrer Schlagkraft ein: alle «externen» Kosten. Diese werden von den am Produktionsprozess Beteiligten zwar verursacht, aber nicht durch sie berappt, denn sie sind meist nicht monetärer Natur, lassen sich also schlecht direkt in Franken oder Euro beziffern. In ökologischer Hinsicht sind das zum Beispiel: Landübernutzung, durch Pestizide verunreinigtes Wasser, gerodete Waldflächen, CO2- und Schadstoffaus­stoss. Sie fallen potentiell in der ganzen Wertschöpfungskette an – von der Zulieferung der Saat- und Düngemittel über den eigentlichen Kartoffelanbau, die Feld- und Treibhauslogistik, den Transport zum Händler und schliesslich bis auf Ihren Tisch. Diese Kosten zahlt nicht der Konsument – der zahlt nur die 2 bis 6 Franken –, sondern sie werden auf die Allgemeinheit abgeschoben. Diese «Allgemeinheit» kann im Falle des Wegfalls von Naherholungsflächen oder einer Seeverschmutzung durch Pestizide, wie sie bis vor einigen Jahrzehnten auch in der Schweiz noch gang und gäbe war und heute in vielen weniger entwickelten Ländern noch ist, eine lokale begrenzte sein, im Falle der Luftverschmutzung eine regionale (man denke an chinesische Grossstadtregionen) und im Fall des heute vieldiskutierten CO2-Ausstosses eine globale, ja eine heute teilweise noch nicht einmal geborene.

Judith Ellens und Manuel Klarmann wollen das ändern: Mit ihrem Unternehmen Eaternity, das 2009 als Start-up an der ETH Zürich gegründet wurde, haben sie sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: den Konsumenten reinen Wein – bzw. reine Kartoffeln – einschenken! Und zwar, was den ökologischen Gesamtfussabdruck von Lebensmitteln angeht. Ihre neuste Entwicklung ist der Eaternity-Score, der von Lebensmittelanbietern auf ihre Produktverpackungen gedruckt werden kann, um Konsumenten bei ihrer Kaufentscheidung in eine ökonomisch und ökologisch souveräne Lage zu versetzen – bei jedem Lebensmittel mit monatlich aktualisierten, weil je nach Jahreszeit und Marktlage schwankenden Angaben. Ellens und Klarmann verfolgen das ambitionierte Ziel, über die freiwillige Änderung des privaten Konsumverhaltens aufgrund der dann herrschenden Kostentransparenz einen Teil zur Erreichung ehrgeiziger politischer Klimaziele beizutragen.

«70 Prozent des Frischwassers werden in der Nahrungsmittelindustrie verwendet, 40 Prozent unserer Landflächen dafür benutzt, und ein Drittel des CO2-Ausstosses kommt von hier. Wenn wir nachhaltiger mit unseren Ressourcen umgehen wollen, so sollten wir – jede und jeder von uns – bei unseren Essgewohnheiten damit anfangen!» Gerade beim CO2-Ausstoss ist einer der grössten und sicher der am leichtesten zu erreichende Hebel der menschliche Konsum: «Wenn wir anders – nicht zwingend weniger – essen, erreichen wir das Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens – maximal 2° C Erwärmung bis 2050 – viel eher und kostengünstiger als über teure Politprogramme oder Verbote», erklärt CEO Manuel Klarmann bei einem Besuch im Zürcher Seefeld, wo Eaternity aktuell auf der ersten Etage in einem Bürokomplex zur Zwischennutzung residiert. Damit das aber gelingt, so Judith Ellens, Wissenschaftschefin und Mitgründerin, brauche es Forschung und vor allem: Daten. Viele Daten. «Gemeinsam mit Wissenschaftern der ZHAW und der ETH begannen wir deshalb früh, eine Datenbank aufzubauen, die heute über 550 Lebensmittel und deren mannigfache Verarbeitungsformen über alle Stationen der Produktions- und Verwertungskette umfasst.» Die Datenbank ist der Schatz und der ganze Stolz des Unternehmens – sie ist erst knapp zehn Jahre alt und weiterhin weltweit konkurrenzlos: Von der 5-Kilo-Packung Biokartoffeln aus Deutschland (0,813 kg CO2) über 400 Gramm tiefgekühlten Seelachs aus dem Pazifik (3,08 kg CO2) oder 300 Gramm Rindshackfleisch (2,96 kg CO2) bis zur 200-Gramm-Packung Butterkekse (0,714 kg CO2) aus der Schweiz ist so ziemlich alles gelistet. «Für jedes dieser Produkte können wir nicht nur den CO2-Ausstoss angeben, sondern auch den Wasserverbrauch und die Art der Anbaufläche bzw. deren Waldverdrängung, sprich Regenwaldabholzung. Wenn es sich nicht um rein pflanzliche Produkte handelt, weisen wir auch noch aus, wie es um das Tierwohl bestellt ist», ergänzt Klarmann. «Bei Ihrem Rindssteak wird sogar noch der Verbrauch von Soja für die Tierfütterung mit dem eigens dafür errechneten Score eingerechnet.»

«Ein Stück Rindfleisch aus Brasilien – sogar bio, aber per Containerschiff in grossen Mengen nach Europa transportiert – kann eine bessere Gesamtklima­bilanz haben als das Simmentaler aus Mutterkuhhaltung.»

Klar: Für die Kaufentscheidung im Laden sind diese Informationen aktuell bei vielen Konsumenten noch nicht so ausschlaggebend wie der Preis, der Score ergänzt letzteren aber prominent. Wie sieht er genau aus? Kleine Piktogramme – etwa auf Lebensmitteln der Marke «Veganz», die bei Coop erhältlich sind – informieren die Kundschaft, wie Emissionen und Ressourcenverbrauch bei der Herstellung und beim Transport des Produkts im Vergleich zum Durchschnitt ausfallen. So können die Konsumenten entscheiden, ob sie diese Art der Produktion unterstützen möchten – oder nicht. Auf die Frage, ob es bei der aktuellen Lebensmittel-Labelflut denn wirklich noch ein weiteres Öko-Label aus Zürich brauche, antwortet Judith Ellens: «Das Problem an den bisherigen Labels ist, dass sie zwar einzelne mal mehr, mal weniger gut begründete Zertifizierungen anbieten und damit den Konsumenten orientieren – eigentliche Vollkostenrechnungen führen sie aber nicht durch. Das heisst: Natürlich können Sie Wert auf Bioprodukte im Laden legen und diese anderen vorziehen, mitunter sind aber einige Bioprodukte eben viel ressourcenintensiver bzw. klimabelastender als Nicht-Bio-Produkte. Und dann muss man sich schon fragen: Ist das ökologisch vertretbar?»

Diese zentrale Frage stellt sich nicht nur bei der Anbauzertifizierung, sondern auch beim Transport und der Jahreszeit: «Der CO2-Fussabdruck von Obst und Gemüse aus Gewächshäusern schwankt über das Jahr hinweg gewaltig. Von April bis Oktober haben Schweizer Radieschen eine hervorragende Ökobilanz – weil man bei uns im Sommer nicht heizen muss. Davor und danach kann es mitunter aber aufgrund der Ölheizungen vieler Schweizer und nordeuropäischer Treibhäuser viel klimafreundlicher sein, eben genau nicht ‹lokal› zu kaufen, sondern beispielsweise italienische oder spanische Radieschen.» Auch ein Stück Rindfleisch aus Brasilien – sogar bio, aber per Containerschiff in grossen Mengen nach Europa transportiert – kann eine bessere Gesamtklima­bilanz haben als das Simmentaler aus Mutterkuhhaltung. «Gerade mit Blick auf die Güte, die Produktionsbedingungen und die Transportwege haben sich bei vielen Konsumenten Vorstellungen verfestigt, die zumindest in ihrer Allgemeingültigkeit unhaltbar sind: Bio ist besser? Kommt drauf an! Nah ist besser? Kommt drauf an! Selbst die oft geschundene Avocado aus Übersee, deren Anbau für unglaublichen Wasserverbrauch berüchtigt ist, hat als Brotaufstrich am Ende – unter Einbezug aller Kriterien – oft eine bessere Ökobilanz als Schweizer Butter», meint Klarmann. Wenn etwa in einer Anbauregion zur Anbauzeit Wasser im Überfluss vorhanden ist, spielt der hohe Verbrauch eine vielleicht kleinere Rolle als die zum Aufbau für Alternativkulturen benötigten Waldrodungen.

Eaternity kämpft also auch gegen Vorurteile, die mit der «grünen Welle» in Politik, Wirtschaft und Kultur weit verbreitet, dem Klimaschutz aber mitunter nur bedingt dienlich sind – und natürlich gegen Lobbys von Nahrungsmittelindustrien, deren Interesse an Transparenz bezüglich des wahren Ressourcenverbrauchs oft eher beschränkt ist. Den grössten Mehrwert erzielt Eaternity, wenn die jungen Unternehmer aus Zürich es schaffen, mit ihren Daten mehr als nur die wachsende Schicht derer, die ohnehin auf ihren ökologischen Fussabdruck schauen, zu beeinflussen. In einem Pilotprojekt ist ihnen das recht eindrücklich gelungen: Bei einem Wettbewerb unter mehreren Zürcher Restaurants und Kantinen stellte die Firma letztes Jahr unter Beweis, dass nachhaltige Ernährungswirtschaft nicht mehr kostet und weniger schmeckt. Aus den von ihr zur Verfügung gestellten Daten konnten verschiedene Köche minimale Justierungen bei der Menügestaltung ableiten und damit den CO2-Ausstoss ihrer Gaststuben im Schnitt um 20 Prozent reduzieren und gleichzeitig – wie Umfragen zeigten – die Kunden zufriedener machen. Ist das der Vorgeschmack auf die effiziente und gleichzeitig ressourcenschonende Ernährung der Zukunft?

Die Ausgangslage für Eaternity, die Kombinationen aus Daten, Beratung und Score-Errechnungen anbietet, ist jedenfalls günstig: Immer mehr Konsumenten wird klar, dass sie hier, wie in jedem Markt, selbst gefragt sind, also enorme Macht haben, wenn es um Veränderungen geht, diese aber bisher – vom Kartoffelkauf bis zum Steakgenuss – viel zu wenig sinnvoll nutzten. Warum also auf politische Verbote und Regulierungen warten, wenn man individuell, gut informiert und sogar geniessend mitbestimmen kann, wohin die Reise gehen soll?


Michael Wiederstein ist Chefredaktor dieser Zeitschrift.

2 Neue Proteinquellen

Zwei Drittel aller pflanzlichen Proteine landen heute in Futtertrögen statt in Menschenmägen – clevere Alternativen zu Fleisch sind zum Glück im Kommen. Was bringen sie?

Warum auf Fleisch verzichten? Das fragen sich viele Menschen, für die Fleischprodukte ein natürlicher und kulinarisch wertvoller Teil ihrer Mahlzeiten sind. Allerdings provoziert diese Frage polemische Antworten unterschiedlicher Stossrichtungen – und das liegt nicht nur am Umgang mit natürlichen Ressourcen und gesundheitlichen Aspekten. Fleisch wirft, viel mehr als andere Lebensmittel, auch eine ethische Problematik auf. Steaks, Braten, Burger & Co. gelten einer wachsenden Zahl von Konsumenten nicht nur als Umweltsünden, sondern auch als Endprodukte unhaltbaren Tierleids.

Was die Ressourcen betrifft, stehen wir vor einer Rechnung, die nicht mehr lange aufgeht: Zwei Drittel aller weltweit produzierten pflanzlichen Proteine werden heute an Schlachttiere verfüttert. Gleichzeitig, so prognostiziert die Welternährungsorganisation, wird die Menge an Fleisch, die Menschen insgesamt verzehren, sich bis 2050 um 76 Prozent erhöhen. Dazu trägt nicht nur das generelle Bevölkerungswachstum bei, insbesondere der Aufstieg der Mittelschicht in Schwellenländern spielt eine tragende Rolle. Die Versorgung mit hochwertigen Proteinen ist definitiv eine globale Herausforderung für die Ernährungswirtschaft. Rund vier pflanzliche Proteine werden benötigt, um ein tierisches zu erzeugen, dabei entsteht – vor allem durch die Verdauungsprozesse von Wiederkäuern – Methan. Viel entscheidender allerdings sind die Treibhausgase, die bei der Flächengewinnung und dem Anbau von Futtermitteln anfallen: 70 bis 75 Prozent der weltweiten Sojaernte dienen als Tierfutter, dabei stammen 80 Prozent aus nur drei Ländern, in denen Monokulturen oftmals Regenwälder oder Savannen ersetzt haben.

Die gesundheitliche Bilanz belasten Hormone und Antibiotika in der Massentierhaltung. Wer nicht auf Biofleisch aus tierfreundlicher Haltung setzen will, sondern eine «fleischähnliche» Alternative sucht, findet in Schweizer Lebensmittelgeschäften seit Jahren pflanzliche Proteine in Form von Quorn, Tofu, Bratlingen oder Seitan – und dank technologischer Fortschritte in naher Zukunft auch einen Fleischersatz, der diesen Namen tatsächlich verdient: «Planted», entwickelt von den drei ETH-Lebensmittelwissenschaftern Lukas Böni, Pascal Bieri und Eric Stirnemann. Das Produkt auf der Basis von Erbsenprotein ist in Aussehen, Geschmack und Textur von Pouletfleisch kaum zu unterscheiden und spart nach Berechnungen des Trios rund zwei Drittel der Treibhausgasemissionen und landwirtschaftlichen Nutzfläche sowie die Hälfte der Energie, die für die Produktion von Geflügel erforderlich ist. Der ethische Aspekt spielte bei der Entwicklung dieses Fleisch-Analogons eine tragende Rolle: ohne Cholesterin, Antibiotika und Hormone – und: «ohne Grausamkeit», heisst es auf der Website des Unternehmens. Das Projekt hat durch die ETH Pioneer Fellowship 150 000 Franken erhalten, im kommenden Herbst soll eine Finanzierungsrunde stattfinden. Seit diesem Frühjahr wird «Planted» in ausgewählten Schweizer Restaurants serviert, geplant ist ein sukzessiver Ausbau und gleichzeitig eine Automatisierung der Produktion.

Mit ihrem Start-up sind die drei Jungunternehmer in bester Gesellschaft: Im April überraschte das fulminante Börsendebüt von Beyond Meat, einem amerikanischen Spezialisten für Fleischersatzprodukte. Bill Gates investierte 120 Millionen Dollar in das Unternehmen, nachdem er bei einer Verkostung den «Beyond Burger» im Geschmack nicht von Rindfleisch hatte unterscheiden können. Laut einer Studie spart er, ebenfalls auf Basis von Erbsenprotein, im Vergleich zum tierischen Original aber mindestens 90 Prozent Wasser, Land und Treibhausgase. Als der US-Fleischmagnat Tyson Foods 2016 in das Unternehmen investierte, horchte die Ernährungsindustrie auf. Tyson Foods selbst hat angekündigt, noch dieses Jahr fleischlose Pro­teinprodukte auf den Markt zu bringen, auch Nestlé und andere Grossunternehmen setzen neuerdings auf vegetarische Lebensmittel. Alternative Proteine wechseln offensichtlich gerade aus ihrem Nischendasein in den Mainstream: Zwischen 2013 und 2017 wurden weltweit rund 27 000 neue Produkte auf Hülsenfruchtbasis auf den Markt gebracht. An der Spitze stand Europa mit einer Wachstumsrate von fast 40 Prozent.

Wie wird «Planted» genau hergestellt? Die Bestandteile ähneln denjenigen des Burgers von Beyond Meat, der sich aus Erbsenprotein, Randensaft, Kartoffelstärke und Öl zusammensetzt. Auch die Verfahren decken sich und verdanken sich grossen Fortschritten im Bereich der Proteinverarbeitung: Beim sogenannten High-Moisture-Extrusionsverfahren wird – ähnlich wie bei einem Dampfkochtopf – mit Druck, Feuchtigkeit und Temperatur in verschiedenen Variationen gearbeitet. Durch den kontrollierten Prozess erfolgt eine Auffaltung und Streckung der Proteine, die sich anschliessend, durch eine Düse gespritzt, in einer fleischartigen Faserung neu anordnen.

Ob man als Fleischesser nun gelegentlich zu dieser Alternative greifen mag oder nicht, feststeht: Die Futtermittel werden nicht ausreichen, um heutige europäische Ernährungsstandards weltweit zu etablieren. Im Februar haben die ETH Zürich und die EFPL Lausanne in Kooperation mit Bühler, Givaudan und Nestlé das Forschungsprogramm «Future Food» lanciert, zu dessen Zielen die Suche nach neuen Proteinquellen gehört. Mikroalgen etwa, einer der Ansätze, liefern bis zu sechsmal mehr Protein pro Hektar als Soja. Als Allesfresser mit schnellem Lebenszyklus und hoher Nährstoffdichte sind zudem Insekten eine vielversprechende Alternative zu Futtermitteln auf herkömmlicher Sojabasis. Die Larven mancher Fliegenarten können aus organischen Abfällen bis zu 70 Prozent der enthaltenen Proteine zurückgewinnen, brauchen dafür sehr wenig Raum, kein fruchtbares Land und können lokal produziert werden. Bislang haben sich Insekten in unseren Breitengraden noch nicht als Futter für den Homo sapiens durchgesetzt. Es ist «Planted» zu wünschen, dass es mehr Erfolg hat.


Laura Clavadetscher ist Redaktorin dieser Zeitschrift.

3 Scheisse – pardon – zu Gold machen

Wie der natürliche Kohlenstoffkreislauf zur Energiegewinnung angezapft werden kann.

Bei der intensiven Schweinehaltung der Landwirtschaftsbetriebe der Region Luzern fallen erhebliche Überschüsse von Mist und Gülle an. Wie entsorgt man die am umweltfreundlichsten? Gar nicht! Denn neben ihrem Nährstoffgehalt steckt darin auch noch ein erhebliches Energiepotenzial. Die Swiss Farmer Power AG in Inwil (SFPI) hebt dieses. Wie das genau funktioniert, will ich vor Ort in Erfahrung bringen. Offenbar bin ich nicht der erste. Der Geschäftsführer Philip Gassner erklärt mir: «Wir haben öfters Besuch» – einerseits wolle man den Endkunden des hier produzierten Biogases zeigen, wie es hergestellt werde, andererseits habe man Anfragen von Feuerwehren, lokalen Parteien, «x Gruppierungen. Wir haben darum begonnen, 300 Franken für eine Firmenbesichtigung zu verlangen – zum einen als Entschädigung für die Zeit, die ich dafür einsetze, zum anderen um zu verhindern, dass jeder Kaninchenzüchterverein hier vorbeikommen will.»

Für den «Schweizer Monat» macht Gassner zum Glück eine Ausnahme. Er beantwortet meine offenen Fragen – vieles wird schon auf der Website, www.sfpinwil.ch, anschaulich erklärt – entspannt, nüchtern, auf den Punkt. Schnell ist klar: Die Gewinnung von Biogas aus den Abfallstoffen der regionalen Landwirtschaft ist nicht bloss ein Imageprojekt, sondern alltägliches Geschäft, das rentieren muss.

Initiiert wurde es vom kantonalen Bauernverband in Zusammenarbeit mit der Schweizer Agrargenossenschaft Fenaco und der Stiftung Innovationstransfer Zentralschweiz ITZ. Die Grundidee war, mit den überschüssigen Nährstoffen Treibstoff herzustellen. Schnell zeigte sich aber, dass sich dieses Konzept mit Gülle alleine nicht wirtschaftlich betreiben lässt, denn deren Energiedichte ist schlicht zu niedrig. Die Anlage musste also ausgebaut werden, um auch andere Arten von Biomasse verarbeiten zu können. Den Investitionsbedarf deckte die EWL (Energie Wasser Luzern), die sich als Hauptaktionärin an der dafür neu gegründeten AG beteiligte. Die Anlage lief zu Beginn, ab Oktober 2008, nicht wie erhofft; zu den 20 Mio. schon investierten Franken kam ein zusätzlicher Investitionsbedarf von 7 Millionen. Das führte zum Einstieg sechs weiterer Energieunternehmen.1

Diese Maschine produziert mittels Ultrafiltration und Umkehrosmose einen konzentrierten Flüssigdünger, fotografiert von Lukas Rühli.

Die SFPI verarbeitet heute neben dem Hofdünger (Gülle, Mist) der regionalen Bauern Grüngut (Haushaltsabfälle) aus der Agglomeration Luzern sowie Industrieabfälle – pro Jahr gesamthaft rund 60 000 Tonnen Biomasse. Daraus werden durch Fermentierung, Gärung und anschliessende Aufbereitung 3000 Tonnen Biogas gewonnen – und zwar nicht jenes Biogas, das auf Wikipedia mit einem Methangehalt von 50–60 Prozent beschrieben wird, sondern «Biogas», das Markenprodukt, das chemisch dem Erdgas gleichwertig ist, mit 99,2 Prozent Methangehalt. Der entscheidende Unterschied zum Erdgas: Biogas ist nicht fossilen Ursprungs. Der CO2-Aus­stoss bei der Verbrennung von Biogas ist zwar gleich hoch wie bei der Verbrennung von Erdgas, aber beim Erdgas wird CO2 in die Atmosphäre freisetzt, das zuvor über Jahrmillionen in der Erdkruste angereichert worden war, während das CO2 aus der Verbrennung des Biogases ohnehin beim Zersetzungsprozess dieser Biomasse frei würde und aus dem natürlichen CO2-Kreislauf stammt. Dieser wird also bloss «angezapft», um ihm noch ein bisschen Energie abzugewinnen. Die Verbrennung von Biogas ist somit – mal abgesehen vom Herstellungsaufwand – CO2-neutral. Die 3000 Tonnen Biogas haben einen Energiewert von 30 GWh, was etwa dem Energieverbrauch von 3500 Personenwagen mit einer Laufleistung von je 15 000 Kilometern oder dem Stromverbrauch von ca. 10 000 Durchschnittshaushalten – und also etwa 23 000 Personen – entspricht.

Mit dem Biogas erzielt die SFPI den Grossteil ihres Ertrags.2 Es wird nicht direkt an Endkunden verkauft, sondern an die an der AG beteiligten Energieunternehmen. Die Inhaber sind also gleichzeitig die Käufer? Führt das nicht zu Interessenkonflikten? Gassner beschwichtigt: «Der Verkaufspreis wird im Verwaltungsrat festgelegt. Es ist allen klar: Entweder sie haben günstiges Biogas, aber eine schlecht rentierende AG, oder sie zahlen ein bisschen mehr, damit die Rendite auch künftige Investitionen in sinnvollem Ausmass erlaubt. Die Aktionäre haben ja ein Interesse an der Zukunft der AG – es wäre ihr eigenes Geld, das dort verlorenginge.»

Gassner führt mich zum Schluss noch durch das Gelände: Verschiedene grosse Hallen, Silos, Röhren, Maschinen. Ein riesiger Radlader schüttet Grüngut auf, ein Lastwagen holt Nährstoffkonzentrat ab. Das alles wird unglaublicherweise von bloss vier Personen betrieben. Verständlich, dass man keine Zeit hat, sämtliche Schulklassen der Region durch den Betrieb zu führen. Hier muss gearbeitet werden!


Lukas Rühli ist Redaktor dieser Zeitschrift.

4 Verpackung war gestern

Natural Branding: Obst und Gemüse könnten mit Lasergravierern nicht nur beschriftet, sondern auch mit Barcodes versehen werden.

Wer hat nicht schon beim Obst- und Gemüsehändler verzweifelt in Plastiktüten geblasen, um sie zu öffnen? Und wer hat nicht schon eine gefühlte Ewigkeit mit zwei Peperoni vor der Waage mit den Klebeetiketten gewartet? Sollte sich Natural Branding weiterentwickeln, könnte das ein Ende haben: Barcodes können dann direkt auf Grapefruits oder essbare Verpackung eingebrannt werden, und Plastiksäckli und Kleber werden so obsolet. Eine Lasersoftware, die Barcodes oder QR-Codes dynamisch generiert, existiert bereits. So würde auch die Fälschungssicherheit (bei in Pastik eingeschweissten Bioprodukten etwa) erhöht, denn anders als bei Etiketten kann Gelasertes nicht mehr verändert werden.

Bei Trotec Laser im Industriegebiet von Lyss werde ich von Andreas Jucker empfangen. Er zeigt mir die Software, mit der die Lasergravierer angesteuert werden. Wir drucken und schneiden einige Muster auf Holz und beschriften Metall. Die Lasergravierer funktionieren so einfach wie Papierdrucker in den Büros: Egal ob eine Lasermaschine graviert, markiert oder schneidet, sie ist nur an den Strom angeschlossen und mit einem USB-Kabel an den Computer. Im Durchschnitt kosten die Maschinen rund 40 000 Franken, die kostengünstigsten 15 000, die teuersten 250 000 Franken. Eines der Trotec-Hauptprodukte ist der Speedy, ein Flachbett­laser mit einem Laserkopf, der zahlreiche Materialien gravieren und schneiden kann. Hergestellt werden alle Maschinen in Marchtrenk bei Linz, sie werden von dort aus direkt zum Kunden geliefert.

Unter dem Dach der Trodat Trotec Holding GmbH ist die Unternehmensgruppe mit der Marke Trodat im Bereich Stempelerzeugung sowie mit der Marke Trotec im Laserbereich weltweit führend tätig. Sie beschäftigt derzeit rund 1600 Mitarbeiter weltweit, neun davon in Lyss, zwei in Volketswil. Die beiden Standorte sind für den Support und den Vertrieb in der Schweiz zuständig.

Jucker ist ein junger Verkäufer, aber mit bereits acht Jahren in der Firma schon bald ein Veteran: «Lasertechnik wird dort angewendet, wo flexibel und detailreich markiert werden muss: Es ist eine schnelle Applikationsmethode, die eine Vorlage – sei es ein Text oder ein Bild – schnell, exakt in allen Details auf das Produkt überträgt.» Bereits jetzt werden Lebensmittel vielfältig per Laser gekennzeichnet. Grosskunden wie etwa Rheinobst in Au (SG) oder Bio­fruits in Vétroz (VS) setzen Früchte, beispielsweise Äpfel, je nach Kundenwunsch als Eyecatcher zu Market­ingzwecken ein. Eigentlich eignet sich für Natural Branding alles, was unter Hitzeeinfluss einen guten Kontrast erzeugt: Birnen, Zucchetti, Kürbis, Gurken, Orangen, Käse, aber auch Holz, Ostereier, Naturfasern. Auf Materialien wie Horn können Brillen beschriftet werden. Auch Stein kann via Laser dauerhaft graviert werden, etwa mit Bildern von Verstorbenen auf Grabsteinen.

Bei Lebensmittelhändlern wie Coop sind derzeit Versuche im Gange, heutige Etikettendrucker mit Lasergravierern abzulösen. Die Direktbeschriftung mit CO2-Lasertechnik erzeugt nämlich nicht nur keinen Abfall, sondern auch keine Schadstoffe. Die vom Laser bearbeitete Oberfläche verdampft, die evaporierten Partikel werden abgesaugt und wegtransportiert. Bei Äpfeln etwa erzeugt das lediglich Feinstaub, der von Feinpartikel- und Aktivkohlefiltern weggefiltert wird. Wichtig ist, dass die Lasersoftware dabei die Hitze exakt regelt, so dass der Laser nicht unter die Oberfläche eindringt. Erst wenn diese verletzt wird, kann das Produkt an dieser Stelle zu faulen beginnen.


Ronnie Grob ist stv. Chefredaktor dieser Zeitschrift.

5 Haltbarkeit verbessern

Aufgrund von Pilzbefall müssen jährlich tausende Tonnen Obst und Gemüse noch vor dem Verkauf vernichtet werden. Bald nicht mehr?

Olga Dubey, Co-Founder und CEO von AgroSustain, zählt in diesem Jahr laut dem Wirtschaftsmagazin «Forbes» zu den «30 under 30» unter den Wissenschaftern Europas. Das Start-up der jungen Molekularbiologin hat sich direkt aus ihrer Forschung herausentwickelt: Im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Universität Lausanne untersuchte sie eine Reihe von Pilzkrankheiten, die in Lebensmittellagern auftreten, und entdeckte dabei ein Molekül, das Früchte vor Grauschimmelfäule schützt. Daraus ergab sich schnell eine Produktidee: ein Mittel auf natürlicher Basis, das verhindert, dass Obst und Gemüse nach der Ernte Pilzkrankheiten zum Opfer fallen.

Denn grosse Mengen an Lebensmitteln gehen aufgrund von Food Waste oder beim Transport verloren, allerdings verursachen auch Pflanzenkrankheiten massive Verluste. Und die meisten von ihnen werden durch Pilze verursacht. Die Welternährungsorganisation schätzt, dass durch sie jedes Jahr Obst und Gemüse im Wert von 60 Milliarden US-Dollar vernichtet werden. AgroShelf+, das Mittel, das Dubey und ihre Kollegen entwickeln, soll als erste umweltfreundliche Lösung auf dem Markt Obst und Gemüse länger haltbar machen, indem es sie vor 27 Pilzkrankheiten schützt. Zugleich ist es für Menschen völlig unschädlich – im Gegensatz zu den Schimmelpilzen selbst, die krebsfördernde Sub­stanzen synthetisieren können.

AgroSustain hat seinen Sitz in den Gebäudekomplexen von Agroscope Nyon, dem Schweizerischen Kompetenzzentrum für Agrarforschung. Gegründet hat Dubey das Unternehmen zusammen mit ihrem Mann Sylvain und Jean-Pascal Aribot, mittlerweile zählt das Team neun Mitarbeiter. Sie teilen sich nicht nur Arbeitsräume und Gewächshäuser mit den Wissenschaftern von Agroscope, sondern arbeiten auch eng mit diesen zusammen. Das Mittel, so heisst es auf der Website von AgroSustain, sei plant-inspired – bedeutet das, die Wirkstoffe werden direkt aus Pflanzen gewonnen? Nicht mehr, sagt Dubey, und zwar aus ökologischen Gründen; aufgrund der dafür notwendigen Anbauflächen und Ressourcen werden sie mittlerweile synthetisch produziert. Und warum nicht ein Mittel entwickeln, das direkt am Baum oder auf dem Acker aufgetragen werden kann? Der Grund, erklärt Dubey schmunzelnd, sei in den geltenden Regulierungen zu finden: Schutzmittel, die nicht in die Natur gelangen, können sehr viel einfacher angemeldet werden. Ihr Team entwickelt aber bereits Ideen, die in diese Richtung gehen, denn viele der heutigen chemischen Antipilzmittel schädigen Wasserorganismen und letztlich auch den Menschen, wenn sie ins Grundwasser übergehen.

«Neue Lösungen werden nicht nur benötigt, um die Ernährungswirtschaft nachhaltiger zu gestalten, sondern durchaus auch, um die Ernährungssicherheit an sich zu gewährleisten.»

Für den biologischen Anbau liegt darin ein Grunddilemma: Obst und Kartoffeln anzubauen ist in Europa aufgrund des Klimas ohne eine effektive Pilzbekämpfung nahezu unmöglich, in der ökologischen Landwirtschaft sind dafür jedoch nur Schwefel und Kupfer zugelassen. Letzteres ist für die Umwelt alles andere als unbedenklich. Was den Anbau von Erdbeeren betrifft, kann ein einziger Pilzerreger zu massiven Ertragsausfällen führen, allerdings ist auch hier Biobetrieben die Verwendung von Fungiziden untersagt. Aus demselben Grund ist eines der grössten Probleme für den biologischen Weinbau die Bekämpfung von Mehltau.

Bevor Dubey und ihre Kollegen sich Problemen dieser Grössenordnung zu­wenden, konzentrieren sie sich auf die Lancierung ihres ersten Produkts, das das Pilzwachstum nach der Ernte auf rund hundert Obst- und Gemüsesorten hemmt, die einen festen Platz auf unserem Speiseplan haben. Die intensive Forschungsarbeit, die dafür notwendig war, wurde belohnt: 2018 hat das Start-up über Investoren, Venture Kick und den Kanton Waadt insgesamt 1,1 Millionen Franken an Startkapital gesammelt, eine zweite Finanzierungsrunde läuft gerade an. Gerade bei Privatinvestoren, sagt Dubey, komme die nachhaltige Geschäftsidee gut an, wobei natürlich nicht nur Idealismus mitspiele: «Ich bin mir sicher, dass auch die Konsumenten in Zukunft natürlichere Lösungen verlangen werden.»

Neue Lösungen werden nicht nur benötigt, um die Ernährungswirtschaft nachhaltiger zu gestalten, sondern durchaus auch, um die Ernährungssicherheit an sich zu gewährleisten: Weltweit geht durch Pilz­erkrankungen ein Sechstel der Ernten verloren, besonders hart trifft es Weizen, Kartoffeln und Reis. Bei letzterem betragen die Verluste gut 30 Prozent, davon gehen 9 Prozent auf das Konto einer einzigen Pilzart. Neuartige Antipilzmittel sind deswegen nicht der einzige Ansatz, der in der Wissenschaft verfolgt wird. Genetische Modifikationen sollen über kurz oder lang bestimmte Sorten gegen Pilze resistent machen. Intensiv geforscht wird in diesem Bereich auch in der Schweiz: Eine Gruppe der Universität Zürich untersucht ab diesem Jahr an einem der Standorte von Agroscope, wie sich Weizen, der sich aufgrund genetischer Anpassungen resistenter gegen Mehltau zeigt, auf dem Feld verhält.

Ein besonders aktuelles Problem ist auch die Panamakrankheit, eine Pilzseuche bei Bananenpflanzen, die sich weltweit rasant ausbreitet und die Bananenindus­trie lahmzulegen droht. Vor sechzig Jahren wurde die Sorte «Gros Michel» durch einen Verwandten des heutigen Erregers praktisch ausgelöscht, woraufhin die resistente Sorte «Cavendish» gezüchtet wurde, auf der heute 95 Prozent des globalen Bananenhandels beruhen. In vielen Entwicklungsländern sind die Früchte nicht nur eine wichtige Einnahmequelle, sondern ein Grundnahrungsmittel, auf dessen Kalorien die Bevölkerung angewiesen ist. Das Schutzmittel von AgroSustain verhindert bislang das Wachstum von Pilzen auf Bananen nach der Ernte, allerdings nicht während des Wachstums. Ob Olga Dubey und ihr Team auch dazu beitragen werden, diese drohende Katastrophe zu verhindern, wird sich zeigen. Ihre Arbeit ist jedenfalls ein wichtiger Schritt, der in diese Richtung führt.


Laura Clavadetscher ist Redaktorin dieser Zeitschrift.

6 Food Waste vermeiden

Frisch von gestern: Lebensmittel länger im Verkauf zu halten erhöht die Wertschöpfung und vermeidet unnötigen Ressourcenverbrauch.

«Öberall heds Pilzli draa, i hasse daa, i hasse daa», sang einst Peach Weber – doch was geschah mit Chäsli, Anke und Joghurt, die während den Ferien im Kühlschrank verrotteten? Sie landeten im Abfall. Wie zwei Millionen Tonnen andere Lebensmittel, die in der Schweiz jedes Jahr weggeworfen werden. Das sind rund ein Drittel aller Lebensmittel, die hier und im Ausland zur Deckung des hiesigen Nahrungsmittelkonsums produziert werden, oder anschaulicher: 140 000 gefüllte 15-Tönner-Lastwagen. Reiht man sie anein­ander, ergibt das eine Kolonne von Zürich bis nach Madrid. Unmengen unnötige Ressourcen zu verbrauchen, ohne einen Gewinn daraus zu schöpfen, ist in niemandes Sinne. Für die Herstellung von einem Pfund Brot beispielsweise – vom Anbau des Getreides bis zur Ladentheke – werden Hunderte von Litern Wasser benötigt. Wird es entsorgt statt gegessen, entsteht eine doppelte Verschwendung. Diese zu verringern, hat sich die «Äss-Bar» zur Mission gemacht.

An der Marktgasse 19, in einem der berühmten Berner Altstadtkeller, treffe ich Simon Weidmann, Geschäftsführer der Berner Filiale. Im kleinen Ladenlokal werden unter dem Motto «Frisch von gestern» Brot, Gebäck und Patisserie vom Vortag günstig verkauft. 2013 wurde die erste «Äss-Bar» in Zürich eröffnet, 2015 zog Bern mit dem gleichen Geschäftsmodell nach. «Unser Konzept ist ziemlich simpel», lacht Weidmann. «Wir fahren jeden Abend mit unserem Kühlfahrzeug und einem Cargobike rund zwölf Partnerbäckereien in der Umgebung an und laden alles auf, was bei Ladenschluss noch daliegt. Am nächsten Tag verkaufen wir es dann.» Die Auswahl der «Äss-Bar» ist folglich stets unterschiedlich, aber alles andere als schmal: Ich sehe Brot, Börek, Erdbeertörtli, Sandwiches in allen Geschmacksrichtungen. Auch drei verschiedene Sorten Osterküchlein bekommen hier eine zweite Chance, verzehrt zu werden. Wieso sollte man Neues backen, wenn das von gestern gerade so gut schmeckt?

«Unsere Produkte sind kein Abfall», betont Weidmann, «sondern wertvolle Ressourcen, die einen monetären Wert besitzen.» Mit dem Erlös werden Löhne, Miete und Transportkosten bezahlt. Am Ende jeden Tages zahlt die «Äss-Bar» ihren Partnerinnen eine Gewinnbeteiligung aus. So lohnt es sich für die Bäckereien auch finanziell, die Reste weiterzugeben statt wegzuwerfen. «Für uns ist das Risiko geringer, da wir nur bezahlen, was wir auch verkaufen», erklärt Weidmann. Das Modell funktioniert: Die «Äss-Bar» ist finanziell selbständig und kostendeckend. Das kleine Unternehmen beschäftigt 20 Mitarbeiter auf insgesamt 10 Vollzeitstellen, zur Filiale in Bern ist noch eine in Biel dazugekommen. Direkt neben dem kleinen Lokal im Altstadtkeller eröffnete Weidmann mit drei weiteren Jungunternehmern im Sommer 2017 den «Gmüesgarte»: Hier werden Gemüse und Früchte angeboten, für die ihre Produzenten aufgrund rigider Regulierungen von Form- oder Grössennormen keine Abnehmer finden, aber dennoch hochwertige Lebensmittel sind.

Erst Mensch, dann Tier, dann Biogas, Kompostierung, Verbrennung und der Abbau in der Abwasserreinigungsanlage: Das ist der Lebenszyklus unserer Lebensmittelherstellung. Je weiter nach hinten die Verwertung rückt, desto weniger Wertschöpfung findet statt. Indem sie Produkte länger für den Menschen nutzbar macht und so die Wertschöpfung so hoch wie möglich hält, setzt die «Äss-Bar» ganz vorne an. Was keine Abnehmer findet, können die Mitarbeiter mitnehmen oder geht an diverse so­ziale Organisationen. Erst was ganz zum Schluss noch übrigbleibt, wird Tieren verfüttert oder zu Biogas verarbeitet.

500 bis 600 Leute betreten täglich die «Äss-Bar»; so konnten letztes Jahr 60 Tonnen an Backwaren verkauft werden. Aber der grösste Verlust an Lebensmitteln findet nicht etwa bei der Verarbeitung oder im Detailhandel statt, sondern in den privaten Haushalten: Mit erschreckenden 45 Prozent tragen sie die Hauptverantwortung am Food Waste: 300 Kilogramm Lebensmittel im Wert von rund 500 Franken landen jährlich pro Person im Abfall. Hierbei kann auch die «Äss-Bar» nicht viel ausrichten: «Wir versuchen, zu sensibilisieren und einen Wandel anzustossen, arbeiten auch mit Schulen zusammen. Das Umdenken aber muss in den Köpfen der Menschen stattfinden», sagt Weidmann. «Wir wünschen uns eine Zukunft, in der es die ‹Äss-Bar› nicht mehr braucht. Aber auch wenn ich vorsichtig positiv nach vorne schaue… uns wird es wohl noch ein Weilchen geben.»


Alicia Romero ist Readktorin und Produzentin dieser Zeitschrift.

7 Vernetzt euch!

Aus Klein mach Gross: Viele Biohöfe bewirtschaften nur kleine Flächen. Genossenschaftlich organisiert, finden ihre Produkte trotzdem zu Konsumenten in der ganzen Schweiz.

Bahnhof Kleindietwil, ein Gleis, die «Landi» in Sichtweite, viel Platz in alle Richtungen. Der Biofarm-Sitz liegt eindeutig «auf dem Land» und ist doch gut zu erreichen. Die Genossenschaft ist direkt gegenüber der Station im ehemaligen Dorfschulhaus untergebracht, einst die erste im Kanton Bern. Auch die Biofarm war auf ihrem Gebiet Pionierin: Schon 1972 schlossen sich Landwirte zusammen, die sich dem Biolandbau verpflichtet hatten, 1981 gehörte man zu den fünf Organisationen, welche die Vereinigung BioSuisse mit ihrem bekannten Knospen-Label schufen; Biofarm-Gründer Werner Scheidegger wurde ihr erster Präsident.

Zunächst ging es vor allem um die Entwicklung geeigneter Massnahmen zur Unkrautbekämpfung; noch heute ist es eine Herausforderung, Landwirtschaft ohne chemisch-synthetische Pestizide und Düngemittel zu betreiben. Die Beratung der Bauern bei solchen Herausforderungen bleibt eine zentrale Dienstleistung bei Biofarm, aus dem gesammelten Erfahrungswissen der Genossenschafter entsteht eine Art landwirtschaftlicher Schwarmintelligenz. Vielleicht noch wichtiger: Biofarm schliesst mit den angeschlossenen Landwirten – von der kleinen Bäuerin, die auf

15 Aren solidarische Landwirtschaft betreibt, bis zum High-Tech-Betrieb mit kameragesteuerten Hackgeräten – zweimal jährlich Verträge, die diesen die Abnahme ihrer Ernten zu existenzsichernden Preisen garantieren. Der Preis für ein Schweizer Bioerzeugnis kann dabei durchaus dreimal so hoch sein wie für das gleiche, aber aus dem Ausland bezogene Produkt. Das hat mehrere Gründe: Zu den höheren Löhnen kommen die kleinen, weniger effizient zu bewirtschaftenden Anbauflächen. Und durch den Verzicht auf «Chemie» gilt für Bio generell: höherer Aufwand bei gleichzeitig höherem Ausfallrisiko. Im Bestreben, unnötige Transportwege zu vermeiden und landwirtschaftliches Know-how zu erhalten, fördert Biofarm die einheimische Produktion dennoch. Wo der einheimische Anbau nicht möglich ist, wird auch mit Produzenten im Ausland zusammengearbeitet; u.a. wird ein Knospe-zertifizierter Vollrohrzucker aus Brasilien bezogen.

Insgesamt liefern rund 500 Höfe von Genf bis Schaffhausen Getreide, Ölsaaten, Tafel- und Verarbeitungsobst und Beeren bei Biofarm ab – genauer gesagt bei rund 45 regionalen Partnern, die als Sammelstelle und, wie etwa Öl- oder Getreidemühlen, oft auch als Weiterverarbeiter fungieren. Biofarm vertreibt und vermarktet die Erzeugnisse zentral weiter – bevorzugt an den Biofachhandel, aber ebenso an die «Grossen»: Coop und Migros. Im Fachhandel und im eigenen Onlineshop sind zudem rund 200 Fertigprodukte unter der Eigenmarke Biofarm erhältlich. Ein Teil davon wird in der Zentrale abgepackt: der einzige Arbeitsschritt «direkt am Produkt» hier in Kleindietwil.

Die Angebotspalette wandelt sich mit der Nachfrage und der Innovationslust der einzelnen Landwirte. So konnte 2018 nach mehrjährigem Herumpröbeln mit interessierten Produzenten zum ersten Mal Quinoa aus der Schweiz angeboten werden – absetzen können hätte man ein Vielfaches davon. Auch um Angebot und Nachfrage so weit wie möglich in Einklang zu bringen, ist der Zusammenschluss für die einzelnen Landwirte von Vorteil: Zweimal jährlich verschickt Biofarm sogenannte Anbauempfehlungen, die nicht zuletzt auf die Marktsituation abgestimmt sind. Fürs Frühjahr 2019 etwa wird den Getreidezulieferern empfohlen, Hafer anzubauen, der Bedarf an Hirse dagegen sei zwar auch gestiegen, könne aber voraussichtlich über bereits unterzeichnete Verträge bedient werden. So wird Überproduktion weitgehend vermieden.

Genossenschaftlich organisiert, sind auch kleine Biobetriebe an die grossen (Waren-)Verkehrsströme angebunden. Wie Kleindietwil.


Stephan Bader ist Redaktor dieser Zeitschrift.

  1. Heute hält die EWL 24 Prozent der Anteile, 10 Prozent hat die Fenaco, 13 Prozent teilen sich 75 Bauern, und die restlichen 53 Prozent entfallen auf die sechs weiteren Energieversorgungsunternehmen.

  2. Genauer: 60 Prozent. Weitere 35 Prozent werden aus der Abfallentsorgung (vor allem aus Grüngutentsorgung) generiert, 5 Prozent aus dem Verkauf von Nährstoffkonzentrat (einem Nebenprodukt aus der Herstellung des Biogases).

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