Paragraphen fallen nicht vom Himmel
Das Gejammer über immer mehr Regulierung ist scheinheilig, denn: Regulierung entsteht nur auf Nachfrage. Und die Nachfrage nach schlechter Regulierung ist gross. Woher kommt sie und wie lässt sie sich abstellen?
Herr Schelker, woher kommen neue Regulierungen?
Der Kern der Regulierungen wird in der Schweiz von Legislative, Exekutive und Judikative produziert, wobei erstere die Hauptrolle spielt. Wenn man auch Richtlinien hinzuzählt, kommt noch die Verwaltung hinzu. Ein Teil der Regulierung entfällt auf Gesetze, aber ein weitaus grösserer Teil auf Verordnungen und Dekrete. Auch interkantonale Verträge wie Konkordate oder internationale Verträge – etwa Handelsverträge, Normsetzungen usw. – spielen eine grosse Rolle. Natürlich ist in der Schweiz auch das Volk am Regulieren beteiligt, etwa über Initiativen und Referenden, die neue Vorgaben wie etwa Rauchverbote fordern oder andere akzeptieren oder ablehnen – im Vergleich zur Menge sonstiger Regulierungen ist der direkte Einfluss des Stimmbürgers aber klein.
Auf welcher Ebene wird in der Schweiz am meisten reguliert?
Vorab: Im Hinblick auf die Vor- und Nachteile der Regulierung ist wahrscheinlich weniger entscheidend, wie viele Regulierungen es gibt. Wichtiger scheint, wie gut diese Regulierungen sind. Weil aber die inhaltliche Qualität der Regulierung kaum in Gänze erfasst werden kann, liefern doch die Menge an Regulierungen und die Regulierungsaktivität – d.h. die Anpassungshäufigkeit – interessante Anhaltspunkte. Um Ihre Frage zu beantworten: «Es kommt auf den Kanton an!» Länder oder Kantone, die sehr konkret und in der Sache besonders spezifisch regulieren, müssen ihr Regelwerk bei veränderten Bedingungen viel öfter und stärker anpassen als solche, die abstrakter und weniger spezifisch regulieren, also allseits etwas Auslegung ermöglichen. Bei hoher Regulierungsaktivität müssen sich demnach die Individuen und Firmen viel häufiger an veränderte Regulierung anpassen und umdisponieren.
Bleiben wir zunächst auf Bundesebene bzw. auf der internationalen Ebene: Welche qualitativen Effekte hat der Nachvollzug internationaler Regulierungen für die Schweiz?
Ein gutes Beispiel ist die Regulierung des europäischen Binnenmarkts, an dem wir ja teilhaben. Die grossen ökonomischen Vorteile kommen aus dem Zugang zu einem viel grösseren Markt, also aus der Marktöffnung. Um sie zu nutzen, braucht es aber Klarheit darüber, welche Regeln auf dem neuen, gemeinsamen Markt gelten sollen. Es wäre ja hochgradig ineffizient, wenn sie das Feld in jedem einzelnen Handelsfall wieder neu abstecken müssten oder überall andere Regeln gälten. Im Groben gibt es nun zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: die Übernahme, also Cassis-de-Dijon, und damit die verbindliche Zusage: «Was sich bei euch bewährt hat, das akzeptieren wir auch!» Oder als Alternative: die Harmonisierung auf einer höheren Ebene. Eins von beidem brauchen Sie, um die Transaktionskosten zu senken. Das aktuelle Problem der Schweiz? Sie will beim Cassis-de-Dijon-Prinzip bleiben, was sinnvoll wäre, würde sie das Prinzip nicht ständig mit Ausnahmen unterminieren: Wir übernehmen Recht, doppeln dann aber stets noch ordentlich nach und haben damit wiederum abweichende Regeln.
Das berühmte «Swiss Finish».
Exakt. Es ist seit Jahren ein wichtiger Transaktionskostentreiber. Sogar liberale Ökonomen tendieren in diesem Bereich dazu, der Harmonisierung das Wort zu reden, weil diese eben keine Ausnahmen zulässt, um die Märkte abzuschotten.
«Es geht nicht mehr um Zölle, die für alle sichtbare Wettbewerbsbehinderungen sind, sondern um ‹unsichtbare› oder hübsch verpackte Normen und Erlasse.»
Auf wessen Wunsch kommen diese Verzerrungen zustande?
Regulierungen sind nachfragegetrieben. Ein schönes Beispiel ist die international teilweise wenig konkurrenzfähige Binnenindustrie: Während sich stark exportorientierte Unternehmen nur bedingt für hiesige Regulierungen interessieren – denn die Schweiz ist nicht ihr Hauptmarkt –, beklagt das binnenorientierte Gewerbe zwar auch lauthals die «Überregulierung», artikuliert aber im selben Atemzug die eigene Nachfrage nach Ausnahmen und Zusatzregulierungen, um sich vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Das prominenteste Beispiel ist die Landwirtschaft. Das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn auch alle anderen Wirtschaftszweige setzen, meist unbemerkt, ihnen nützende Regulierungen über politische Lobbys durch. Dabei geht es nicht mehr um Zölle, die für alle sichtbare Wettbewerbsbehinderungen sind, sondern um «unsichtbare» oder hübsch verpackte Normen und Erlasse.
Ein Beispiel?
Warum, glauben Sie, haben Schweizer Kühlschränke andere Abmessungen als die in Deutschland, Frankreich oder Resteuropa? Weil die Küchennorm hier eine andere ist! Dabei geht es nur um Millimeter oder Zentimeter, aber die machen sehr viel aus, denn sie riegeln den Markt für viele Konkurrenzprodukte, die in grösserem Stil und billiger hergestellt werden, ab. Oder der Minergiestandard am Bau, der aktuell staatlich gefördert wird: Es gibt zig Standards für energieeffizientes Bauen auf der Welt, aber wer in der Schweiz so bauen und also von Subventionen profitieren will, muss den hiesigen «Minergie»-Standard einhalten, und darauf spezialisiert und dafür zertifiziert sind eben Schweizer Unternehmen.
Wenn wir nun seit langem über die wachsende Regulierungsdichte und -aktivität jammern, so ist doch irgendwann mal ein Punkt erreicht, an dem man sagen müsste: bis hierher und nicht weiter! Warum kommt der nicht?
Alle sprechen gern von Überregulierung und Regulierungsdichte – und tun so, als sei es sonnenklar, was das bedeutet. Aber Regulierungsdichte ist ein ziemlich abstrakter Begriff. Das Zählen von Paragraphen oder ähnliche quantitative Ansätze mögen aufregende Zahlen und vielzitierte Rankings liefern, aber der Umgang mit diesen Rohdaten kann leicht zu Fehlschlüssen führen, weil dabei meist Äpfel mit Birnen verglichen werden. Quantitative Masse sind nur nützlich, wenn sie methodisch korrekt verglichen und ausgewertet werden und wir stets bedenken, dass wir dabei nicht wissen, was in den Vorgaben steht, wie sie sich auswirken, wer davon etwas hat oder nicht, denn: Natürlich gibt es Gesetze, die nur wenige Buchstaben haben, aber sehr viel verbieten. Und andersherum.
Menge ist also nicht Dichte.
Genau. Dichte hat etwas mit dem Bestand und den Beziehungen der Einzelteile des Bestands zu tun. Wenn es viele Regulierungen gibt und diese Regulierungen auch tatsächliche Effekte aufeinander haben, ist das Regulierungskorsett enger. So können Sie wohl davon ausgehen, dass mehr Regulierung auch zu mehr Interdependenzen und möglichen Widersprüchen führt. Ein anderes quantitatives Mass ist aber aufschlussreicher als die Menge an Erlassen: die Regulierungsaktivität. Sie liefert Informationen dar-über, wie häufig sich Bürger und Firmen an neue Rahmenbedingungen anpassen müssen. Eine hohe Regulierungsaktivität reduziert die Rechtssicherheit und kreiert Unsicherheit, was die Regulierungskosten erhöhen kann.
Lassen sich Aussagen über die zeitliche Entwicklung der Regulierungsaktivität machen?
Was beim Bestand für die Zeit vor 2006 schwierig zu ermitteln ist, da die «obsoleten» Regulierungen nicht dokumentiert sind, lässt sich bei der Aktivität herausfinden. Für den Bund haben mein Kollege Simon Lüchinger und ich bis 1848 zurückgeschaut: Wir finden eine bemerkenswerte Erhöhung der Regulierungsaktivität ab den 1970er Jahren, also eine grosse, nichtlineare Erhöhung der Änderungshäufigkeit. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass sich die Wirtschaft derart rasch transformierte und internationalisierte, dass damit auch die Bedürfnisse und die Komplexitäten stark angestiegen sind. Aber natürlich könnte es auch sein, dass der Appetit auf Regulierung von sich aus zugenommen hat. Um das herauszufinden, kann nicht einfach die Bundesebene angeschaut werden, denn dort haben wir keine gute Vergleichsmöglichkeit, um über die Notwendigkeit von Anpassungen Aussagen zu machen. Die Kantonsebene hilft zum besseren Verständnis: Hier sind Vergleiche zwischen den Kantonen möglich, die insgesamt die gleichen Aufgaben wahrnehmen müssen.
Was sagen die Daten?
Wir haben sie bis zurück ins Jahr 1908 erhoben und sehen enorm grosse Unterschiede in der Regulierungsaktivität zwischen den Kantonen: Während einige Kantone mit wenigen Änderungen pro Jahr auskommen, weisen andere Kantone enorm grosse Regulierungsaktivität auf. Der Bund ist mit seinen Vorgaben also nicht der primäre Treiber. Beispielsweise ist der Kanton Genf enorm viel aktiver als der Kanton Zürich. Das könnte vielleicht daran liegen, dass Genf auch einen höheren Bestand aufweist und dadurch tendenziell auch viel mehr anpassen muss. Der Unterschied könnte also sehr direkt aus einem unterschiedlichen Regulierungsansatz erwachsen: Detailorientierung versus Prinzipienorientierung.
Welche Rolle spielt die Urbanität?
Urbanität bedeutet: es gibt tendenziell mehr Regulierung – denn es gibt in urbanen Gegenden auch unterschiedlichere Milieus und Wirtschaftsstrukturen, also Ansprüche und Pressure-Groups, die diese Regulierungen nachfragen und davon gleichsam betroffen sind. Beispiel: Lärmschutzverordnungen. Die gibt es auch in Appenzell Ausserrhoden, in Kontakt mit ihnen kommt man dort aber seltener als in Genf oder Zürich. Dass der Kanton Zug wiederum ein Interesse daran hat, digitale Zahlungsmittel schneller zu regulieren, sie also zuzulassen, geschieht auf Anraten und Druck der dortigen Wirtschaft – im Kanton Jura steht so etwas nicht auf der Tagesordnung. Umgekehrt gilt: wenn Sie in urbanen Gebieten heterogenere Milieus und Anspruchsgruppen regulieren, so können Sie die Regulierungskosten auch auf mehr Köpfe verteilen, was durchaus dafür sorgt, dass mehr reguliert wird, weil die Kosten weniger «auffallen».
Welche Möglichkeiten haben die Steuerzahler, Druck auf die Regulierungsbehörden auszuüben? Und welche institutionellen Schranken gibt es, die Regulierungstätigkeit einzudämmen?
Zuerst zu den Institutionen: Kantone, die ein obligatorisches Gesetzesreferendum kennen, regulieren deutlich weniger auf Gesetzesebene – und weichen interessanterweise auch nicht einfach auf die Verordnungsebene aus. Wenn Kantone dieses Referendum abschafften, stieg die Aktivität sprunghaft an. Das heisst: Institutionen und Abläufe sind extrem wichtig, wenn es um die Eindämmung von Regulierung geht. Was das Volk will, ist schwierig zu sagen – aber allein aufgrund der Möglichkeit, «Nein» zu sagen, wird weniger reguliert. Allerdings: der Steuerzahler, der ja die Regulierung am Ende bezahlt, hat keine aktive Lobby. Jeder Bauer, jeder Bauarbeiter, jeder Banker hat eine – der Schweizer Steuerzahler nicht. Denn die Präferenzen der Steuerzahler sind, obschon sie alle zur Kasse gebeten werden, zu heterogen, um mit geeinter Stimme, laut und organisiert also, als Opposition auftreten zu können.
Lohnte es sich denn nicht, als Politiker genau diese Lobby zu sein? Sprich: sich für eine sparsame Regulierungspolitik einzusetzen?
Auf dem Papier und in Sonntagsreden passiert das ja. Aber selbst wenn ein Politiker sich diesem Feld zuwendete und damit erfolgreich wäre – er würde allen etwas Gutes tun, während die Kosten dieses Einsatzes allein bei ihm anfielen. Dafür würde er vielleicht etwas gelobt, aber von keiner klaren Klientel, keiner Lobby usw. konkret unterstützt und wiedergewählt. Damit entfallen die Anreize so zu politisieren. Anders ist das, wenn er seine knappe Zeit für direkte Anliegen von klar abgegrenzten Interessengruppen einsetzt – da gibt es dann viel Applaus und sehr konkrete Unterstützung. Diese fundamentale Asymmetrie im politischen Prozess werden Sie auf demokratischem Wege nicht los. Übrigens: Laut unseren Langzeitdaten wird Regulierungsaktivität nicht offensichtlich stärker von linker als von anderer Seite aus induziert.
Was liesse sich noch ändern, um das Problem mit schlechter Regulierung in den Griff zu kriegen?
Was schon hilft, ist der Föderalismus: die Mobilitätskosten sind für Unternehmen, die sich zu stark gegängelt fühlen, niedrig – das bedeutet, man wird von Kanton zu Kanton schon schauen, dass man seine wirtschaftliche Basis nicht an den Nachbarn vergrault. Die Schweiz stünde aber noch besser da, wenn sie auf Bundes- und Kantonsebene einführen würde, was sich auf Gemeindeebene bei der Finanzpolitik längst bewährt hat: eine Art unabhängige Regulierungsprüfungskommission.
«Kantone, die ein obligatorisches Gesetzesreferendum kennen, regulieren deutlich weniger auf Gesetzesebene – und weichen interessanterweise auch nicht einfach auf die Verordnungsebene aus.»
Sie meinen: mehr Bürokratie hilft gegen mehr Regulierung?
Im Falle der Finanzpolitik: nachweislich. Die positiven Effekte von ausgebauten Rechnungsprüfungskommissionen in der Finanzpolitik sind riesig! Was machte also eine Regulierungsprüfungskommission nach diesem Vorbild? Zuerst muss sichergestellt sein, dass diese Kommission alles, was an Regulierungsvorschlägen reinkommt, sichtet und evaluiert. In einem nächsten Schritt muss sie dann erklären, ob die Vorhaben insgesamt verträglich und sinnvoll sind und was die erwarteten Effekte der vorgeschlagenen Regulierungen sind. Des weiteren könnte sie mögliche Gegenvorschläge ausarbeiten und am Schluss öffentlich Stellung beziehen. Die Kommission selbst sollte aber keine Möglichkeit haben, die Empfehlungen umzusetzen oder darüber mitzubestimmen. Und: ihre Mitglieder sind volksgewählt und wechseln nicht ständig, sondern machen das mehrere Jahre, damit man feststellen kann, ob sie ihre Arbeit gut und sinnvoll erledigen, sprich: ob sie gut und überparteilich informieren und ob ihre Erwartungen sich erfüllen.
Was bringt das also schätzungsweise?
In der Finanzpolitik haben Gemeinden mit ausgebauter RPK – sprich solche, die die gesamte Finanzpolitik evaluieren, kritisieren und mit Gegenvorschlägen ausstatten können – den Effekt, dass sie im Schnitt 15 bis 20 Prozent tiefere Ausgaben und Steuereinnahmen aufweisen als Gemeinden ohne solch ausgebaute RPK, was enorm viel ist. Übertragen auf die Regulierung hiesse das: man gewänne Wettbewerbsfähigkeit zurück.
Was unterscheidet eine solche Kommission von all den erfolglosen Kampagnen und Anti-Bürokratie-Verantwortlichen, mit denen man es andernorts versucht hat?
Letztgenannte sind nicht direkt gewählt und meist von jenen delegiert, die die Regulierung nachfragen, sie sind also nicht unabhängig. Sie sind in einer schwachen Position gegenüber ihren Vorgesetzten in der Bürokratie und Regierung – also per Definition erfolglos, denn hätten sie tatsächlich Erfolg, würde sie niemand einsetzen wollen.
Aber das gilt doch auch für die Regulierungsprüfungskommission, die Ihnen vorschwebt.
Das ist leider richtig und wohl der springende Punkt: Die Einführung einer solchen Institution würde von der regierenden Mehrheit wahrscheinlich verhindert. Die Analogie zu den Rechnungsprüfungskommissionen in der Finanzpolitik zeigt das eindrücklich: In Zürich gab es gerade auf Gemeindeebene eine Abstimmung zur Einführung einer institutionell verankerten ausgebauten RPK: die Opposition wollte sie, aber die, die in der Verantwortung standen, setzten alles daran, sie zu verhindern. Am Schluss ist das Ansinnen schlicht gescheitert.
Kann die Digitalisierung helfen?
Ja, auch das ist möglich – aktuell sind viele Kantone daran, ein System zur elektronischen Gesetzespublikation einzuführen, respektive haben es schon eingeführt. Bisher gab es das ja nur auf Papier, und das hat den Nachteil, geduldig zu sein, vor allem, wenn es um Interdependenzen und Widersprüche von Gesetzen geht, die mitunter Tausende von Seiten voneinander entfernt stehen, aber evtl. doch einen widersprüchlichen Effekt aufeinander haben. Die elektronische Publikation macht solche Widersprüche zum Teil sichtbar – und dann können sie behoben werden. Solange man die politisch sehr erfolgreichen Lobbygruppen einzelner Milieus und Wirtschaftszweige, die ganz bewusst Widersprüche und Wirren provozieren, allerdings nicht in den Griff bekommt, kann die Digitalisierung nur das Dramatischste ausbessern, also maximal einen Teil zur Lösung des Problems beisteuern.