«Die Baumwollindustrie war wie die KI-Industrie heute»
Der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann erklärt in einem Referat, wie die Textilindustrie die Schweiz reich gemacht hat und die Grundlagen für den modernen Bundesstaat legte.
Vor 195 Jahren – am 22. November 1830 – protestierten in Uster im Zürcher Oberland rund 10 000 Bürger gegen die politische Benachteiligung der Landschaft durch die Stadt. Sie legten damit den Grundstein für die erste liberal-demokratische Verfassung im Kanton Zürich, die wiederum den Bundesstaat von 1848 massgeblich beeinflusste.
Im Vorfeld der diesjährigen Gedenkfeier zu dem Ereignis sprach der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann am Mittwoch in Uster darüber, warum der politische Umbruch gerade im Zürcher Oberland seinen Anfang nahm. Die Industrialisierung – laut Straumann des «wichtigste welthistorische Ereignis der letzten 10 000 Jahre» – ging im Kanton Zürich wie andernorts in der Schweiz vor allem vom Land aus.
Den Wohlstandsgewinn, den sie auslöste, könne man sich heute gar nicht mehr vorstellen. «Vor 1800 war der Lebensstandard absolut erbärmlich.» Bereits ein oder zwei schlechte Erntejahre konnten die Menschen, die von der Landwirtschaft lebten, an den Rand des Hungertods bringen. Das änderte sich mit der Industrialisierung, die laut Straumann eigentlich bereits mit der Heimindustrie (bei der Heimarbeiter beispielsweise webten) im 18. Jahrhundert ihren Anfang nahm.
In der Schweiz war die Textilindustrie der eigentliche Treiber der Industrialisierung. Ein Glück, denn in dieser Branche war es einfacher (als etwa in der Kohleindustrie), zu diversifizieren und mit Innovationen in andere Geschäftsfeldern vorzustossen. «Die Baumwollindustrie war wie die KI-Industrie heute: sie war unglaublich wettbewerbsintensiv.»
Ein Beispiel ist der Fabrikant Caspar Honegger aus Rüti, der zunächst eine Spinnerei und eine Weberei betrieb, bevor er anfing, die mechanischen Webstühle in seiner Fabrik zu verbessern. Daraus entstand eine der bedeutendsten Maschinenfabriken der Schweiz, die bis 2008 existierte.
Honegger war einer der Teilnehmer an der Versammlung in Uster 1830. Damals verschaffte sich diese neue, innovative Schweiz auch politisch Gehör. Mit Blick auf die Gegenwart sagte Straumann: «Wir zehren bis heute von den Fortschritten von damals.» Es sei wichtig, die Grundlagen der Innovation nicht zu vergessen und das Erbe weiterzuführen.
Mehr über die gegenwärtigen Herausforderungen wird Straumann an der Vernissage des neuen «Q» am 25. November in Zürich erzählen. (Lukas Leuzinger)