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Ein verhängnisvolles Missverständnis
Bari Weiss, zvg.

Ein verhängnisvolles Missverständnis

Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Antisemitismus nur eine Unterform von Rassismus sei. Doch er ist mehr als das. Wer das Wesen des Hasses auf Juden nicht begreift, wird nichts zu seiner Bekämpfung beitragen können.

 

Jeder ernstgemeinte Kampf beginnt mit der Einschätzung des Gegners. Was sind seine Stärken und Schwächen? Was ist sein Kampfstil? Wem gelang es in der Vergangenheit, ihn zu bezwingen, und wer unterlag ihm?

Antisemitismus wird von Menschen mit infamen Absichten angetrieben und von der Unwissenheit der Wohlmeinenden genährt. Wer ihn erfolgreich bekämpfen möchte, muss imstande sein, ihn genau erkennen und beschreiben zu können.

Das erste Problem besteht darin, dass es sich bei diesem besonderen Feind nicht um eine Person oder gar um eine Gruppe von Menschen handelt. Er ist nicht einmal eine feststehende Idee oder eine besondere Theorie. Der Antisemitismus ist eine sich ständig wandelnde Weltanschauung, die sich in dem Moment verflüchtigt, in dem man glaubt, sie fest im Griff zu haben. Dadurch ist sie ihren Verfolgern immer ein paar Schritte voraus.

Aktivistinnen der umstrittenen propalästinensischen Boykottkampagne BDS (Boykott, Desinvestionen und Sanktionen) demonstrieren im Juli 2019 in Berlin gegen Israel. Bild: Imago Images.

Das zweite Problem besteht darin, dass nicht klar ist, wogegen sich diese vielgestaltige Weltanschauung eigentlich richtet. Manchmal scheint es, als bestünde ihr Ziel in der Vernichtung einer bestimmten Religion. Zu anderen Zeiten jedoch hat sie es auf die Zerstörung einer Kultur, einer Gruppe von Personen oder aber eines Staates abgesehen. Dies führt zu weiteren Komplikationen: Was genau greift der Antisemit an? Oder anders ausgedrückt: Was genau ist das Judentum?

Die meisten Amerikaner, einschliesslich vieler amerikanischer Juden, verstehen das Judentum als eine Religion oder als eine Ethnie, weil das die modernen Kategorien sind, mit denen wir die Welt begreifen. Das Christentum ist ein Glaube, Latino bezeichnet eine Ethnie und so weiter. Aber das Judentum (und die Kraft, die sich ihm entgegenstellt und die wir heute Antisemitismus nennen) ist viel älter als diese Begriffe. Das Judentum widersetzt sich diesen Konstruktionen, obwohl manche versuchen, es mit Macht in sie hineinzuzwingen.

Das Judentum ist nicht bloss eine Religion oder eine Ethnie, sondern auch ein Volk. Genauer gesagt, ist es ein Volk mit einer Sprache, einer Kultur, einer Literatur und einer bestimmten Reihe von Ideen, Glaubensvorstellungen, Texten und Rechtspraktiken. Andere Worte dafür sind «Zivilisation» oder «Stamm». Wer sich heutzutage aber als Angehöriger eines Stammes bezeichnet, wird, wenig verwunderlich, vor allem Stirnrunzeln provozieren.

Dieses Missverständnis über das Judentum liegt zum grossen Teil an dem glücklichen Umstand, dass die Juden in den Vereinigten Staaten weithin akzeptiert werden. Viele amerikanische Juden besitzen selbst kein wirkliches historisches Verständnis für ihre Herkunft. Das Judentum ist für sie ein Kästchen, das sie ankreuzen. Womöglich bezeichnen sie sich als ein Volk, das eine besondere Leidenschaft für Jerry Seinfeld oder Hummus hat, was zwar nicht falsch ist, aber doch einige wichtige Dinge ausspart.

Hierarchien der Unterdrückung

In normalen Zeiten ist dieses Missverständnis über das Wesen des Judentums oder des jüdischen Volkes nicht sonderlich relevant. Dass die genaue Bedeutung dieser Begriffe im Dunklen bleibt, betrifft den Alltag der Menschen nur wenig. In Zeiten eines zunehmenden Antisemitismus kommt dieser Unklarheit jedoch eine beträchtliche Bedeutung zu, denn man kann sich nicht erfolgreich zur Wehr setzen, wenn man nicht weiss, wer man ist und wofür man kämpft.

Man denke nur an den weitverbreiteten Irrtum, Antisemitismus sei eine Form von Rassismus. Das liegt unter anderem daran, dass Rassismus im Mittelpunkt der Aus­einandersetzung Amerikas mit sich selbst liegt. Die grösste Schande und Ungerechtigkeit in der amerikanischen Geschichte war die Sklaverei; die grösste Wiedergutmachung eines Unrechts war die Abschaffung der Sklaverei; und eines unserer grössten Probleme in der Gegenwart ist die anhaltende Rassenungleichheit.

Darüber hinaus haben sich Juden schon immer den kulturellen Gepflogenheiten der Gesellschaft angenähert und diese übernommen. Wir waren bereit, wissentlich oder unwissentlich unsere eigene Geschichte und unsere eigene Identität in einer leicht verzerrten Form wiederzugeben, um für unsere Nachbarn verständlich zu sein. Je nach Kontext haben wir es gestattet, dass man uns als Religionsgemeinschaft oder auch, wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, als ethnische Gruppe wahrnimmt.

Ausserdem: Wenn man Antisemitismus als eine Form von Rassismus gegenüber einer Minderheitengruppe beschreibt und amerikanische Juden mehrheitlich als weiss angesehen werden, welchen Rang in der Hierarchie der rassistischen Unterdrückung nehmen sie dann ein? Die logische Antwort lautet: einen der untersten. Gab es in Maryland Gesetze, die Juden das Bekleiden öffentlicher Ämter untersagten? Ja. Ist das gleichzusetzen mit dem Kaufen und Verkaufen von Menschen im Old Line State (Bezeichnung für den US-Bundesstaat Maryland)? Ganz und gar nicht. Verwehrt man heutzutage Juden Zutritt zu manchen Country Clubs? Ja. Werden Juden aufgrund eines unveränderlichen Körpermerkmals ausgesondert oder durch staatliche Behörden diskriminiert? Nicht im Geringsten.

Wenn Antisemitismus einfach eine Unterkategorie des Rassismus ist, dann ist er nach amerikanischen Massstäben zu Recht weit weniger akut als der Rassismus gegen Schwarze. Und folglich wäre er auch weniger dringlich. Antisemitismus als eine Form von Rassismus zu bezeichnen, ist auch deshalb problematisch, weil es das jüdische Volk weissfärbt. Dadurch wird die Tatsache geleugnet, dass über die Hälfte der israelischen Juden (also der grössten jüdischen Gemeinschaft der Welt) Mizrachis, Juden nordafrikanischer und nahöstlicher Abstammung, sind. Zudem übersieht man dann, dass 12 bis 15 Prozent der amerikanischen Juden People of Color sind, wie die Jews of Color Field Building Initiative berichtet.

Natürlich gibt es antijüdische Vorurteile, die sich rassistisch artikulieren können. Vorurteile, die unsere Grosseltern von den Ivy-League-Universitäten ausschlossen und die sie dazu veranlassten, ihre Nachnamen zu ändern. Antijüdische Vorurteile sind zwar im Leben einzelner Juden beleidigend, lustig oder schmerzhaft, aber für das Überleben des Judentums und des jüdischen Volkes sind sie weitaus weniger bedeutend. Ganz anders der Antisemitismus, denn dieser zielt auf die vollständige Auslöschung des Judentums und des jüdischen Volkes.

Man könnte es folgendermassen beschreiben: Antijüdische Vorurteile können dazu führen, dass ein Nichtjude es vorzieht, dass seine Tochter einen Nichtjuden heiratet. Das bedeutet aber nicht, dass er Juden für eine bösartige Macht hält, die heimlich unsere Regierung steuert. Genau das aber wäre Antisemitismus. Antijüdische Vorurteile könnten ein nichtjüdisches Paar dazu veranlassen, zu hoffen, dass keine Juden in die Nachbarschaft ziehen. Aber es bedeutet nicht, dass sie glauben, dass jüdische Banker die Weltwirtschaft manipulieren. Genau das aber wäre Antisemitismus.

Wenn Antisemitismus nicht bloss ein Vorurteil ist, obwohl er ähnliche Auswirkungen haben kann, was ist er dann?

Wandlungsfähige Verschwörungstheorie

Jean-Paul Sartre bestand in seinem berühmten Essay «Antisemit und Jude» darauf, dass der Antisemitismus nicht den normalen Regeln der Logik gehorche, sondern einer «Logik der Leidenschaft entspringt». Peter Hayes, ein Historiker des Holocaust, beschrieb ihn als eine Art Aberglaube, der zwar haltlos sei, sich aber als so beständig erweise wie das Klopfen auf Holz. Ich sehe in ihm eine sich ständig verändernde Verschwörungstheorie, in der Juden die Hauptrolle bei der Verbreitung des Bösen in der Welt spielen.

Während Rassisten, Homophobe und Frauenfeinde sich als Menschen empfinden, die nach unten treten, verhält es sich mit dem Antisemiten anders: Er teilt nach oben aus. In den Augen des Rassisten ist die Person of Color minderwertig, so wie in den Augen des Frauenhassers die Frau kein vollwertiger Mensch ist. In den Augen des Antisemiten ist der Jude hingegen… alles. Er ist, was er für den Antisemiten sein soll.

Für den Antisemitismus steht der Jude symbolisch für all das, was eine bestimmte Zivilisation als ihre unheimlichsten und bedrohlichsten Eigenschaften begreift. Blickt man durch diese trübe Linse, kann man verstehen, warum die Juden im Kommunismus als Kapitalisten und unter den Nazis als Beschmutzer der Rasse angesehen wurden. Und heute, wo Rassismus und Kolonialismus als grösste Sünden gelten, wird Israel, der Jude unter den Völkern, als die letzte Bastion des weissen, rassistischen Kolonialismus dämonisiert – eine einzigartige Quelle des Bösen nicht nur in der Region, sondern in der ganzen Welt. Man zwingt «die Juden» stets in eine Rolle, die man ihnen mit Gewalt zuweist.

Die Logik des Antisemitismus unterscheidet sich stark von der Logik der Fremdenfeindlichkeit oder des Rassismus. Es handelt sich nicht nur um eine Form des Hasses, die sich zufällig gegen Juden richtet statt gegen Lesben, Koreaner oder Linkshänder. Der Antisemitismus ist eine umfassende allgemeine Theorie von allem. Wie der Vater des modernen französischen Antisemitismus, Edouard Drumont, es in seinem Buch «La France juive» von 1886 ausdrückte: «Alles kommt vom Juden, alles kehrt zum Juden zurück.» Drei Jahre nach Erscheinen des Buches gründete er die Antisemitische Liga von Frankreich.

Rassisten glauben nicht, dass Menschen mit mehr Melanin heimlich den Planeten kontrollieren; sie halten Nichtweisse vielmehr für Untermenschen. Beide Glaubenssätze sind abscheulich und paranoid, aber nur einer davon stellt auch eine globale Verschwörungstheorie dar.

Der britische Historiker Paul Johnson fasste es vielleicht am treffendsten zusammen, als er den Antisemitismus als intellektuelle Krankheit bezeichnete, ein tief verwurzelter und hochinfektiöser Gedankenvirus, der in der DNA der westlichen Kultur steckt. Das mag erschreckend und deterministisch klingen, aber wenn man die Metapher weiterführt, wird sie durchaus treffend. Gesunde Menschen sind ständig Träger von Viren. Solange sie gesund sind, tragen sie Erreger in sich, ohne dass sie irgendwelche Symptome aufweisen. Erst wenn eine starke Belastung hinzutritt, schwächelt das Immunsystem und die Krankheit bricht aus. Das Virus, das im Dämmerschlaf lag, wird aktiv.

Das gilt ebenfalls für unsere Kultur. Wenn das Immunsystem unserer Gesellschaft gesund ist und normal funktioniert, wird das Virus des Antisemitismus in Schach gehalten. Sobald aber unser gesellschaftliches Immunsystem schwächer wird – wie es derzeit auf dramatische Weise der Fall ist –, bricht das Virus aus, wie es schon so oft in scheinbar zivilisiertesten Kulturen der Welt geschehen ist.


Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Vorabdruck aus Bari Weiss’ Abhandlung «Wie man Antisemitismus bekämpft», die im September 2022 ­erscheint. Der Edition Tiamat sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

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