
Der Aufstieg des Populismus blockiert viele europäische
Demokratien – sie könnten von der Schweiz lernen
Mit der Konkordanz hat die Schweiz ein Wundermittel im Umgang mit radikalen Kräften gefunden. Elemente des Systems liessen sich auch auf andere Länder übertragen.
Es gespenstert im Hause Europa. Das Gespenst des Kommunismus hat einen würdigen Nachfolger gefunden: den Populismus. Während sich die etablierten Parteien in manchen Ländern mit diesen Kräften arrangieren, zeigen Beispiele wie das Scheitern des Kabinetts Schoof in den Niederlanden die Risiken solcher oftmals instabiler Koalitionen. Die politische Landschaft Europas verändert sich. Das Vertrauen in die etablierten Parteien sinkt, die frühere Stabilität weicht wachsender Polarisierung. Die bisherigen Strategien zur Eindämmung des Populismus – taktische Allianzen bei Wahlen und politische Isolation – verlieren zunehmend an Wirkung. In Thüringen muss die CDU mit ideologisch fremden Partnern koalieren (u.a. mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht), in Frankreich wurde Macrons Regierung zwischen RN und Linkspopulisten zerrieben.
Solche überstreckten, instabilen Allianzen schwächen nicht nur das politische Zentrum, sondern untergraben auch das Vertrauen in demokratische Prozesse. Gleichzeitig stellen sich demokratiepolitische Fragen: Wie sinnvoll und legitim ist der Ausschluss einer Partei, die in einigen Regionen einen Drittel der Stimmen erhält? In Ostdeutschland sind Kooperationen mit der AfD auf kommunaler Ebene längst Realität, während sie auf Landes- oder Bundesebene weiterhin ausgeschlossen werden. Doch auch ohne Regierungsbeteiligung können rechtspopulistische Parteien politischen Einfluss geltend machen – durch Untersuchungsausschüsse, Verfassungsklagen oder Blockaden, oftmals sobald sie einen Drittel der Sitze innehaben.
Die Strategie der Ausgrenzung wiederum nährt das Narrativ vom «Parteienkartell» und verleiht dem Rechtspopulismus zusätzlichen Auftrieb. Wenn demokratische Kräfte sich sogar mit ideologischen Gegenspielern verbünden, um Populisten zu stoppen, droht der demokratische Konsens weiter zu erodieren. Neue, nachhaltige politische Antworten auf den Aufstieg des Rechtspopulismus sind daher dringlicher denn je.
«Wenn demokratische Kräfte sich sogar mit ideologischen Gegenspielern verbünden, um Populisten zu stoppen, droht der demokratische Konsens weiter zu erodieren.»
Einbindung aller relevanten Kräfte
Es ist evident, dass viele politische Systeme Europas für eine solche Situation nicht ausgelegt sind. Wo historisch oft zwei grosse Volksparteien den Ton angaben, meist eine sozialdemokratische und eine christdemokratisch-konservative, herrscht heute eine ausserordentliche Diversität. War die Bildung von Koalitionen früher Formsache, ist sie heute ein regelrechtes Ringen um jeden Programmpunkt. Durch die erhöhte Anzahl an benötigten Partnern wird es zudem für Parteien schwerer, ihre Politik umzusetzen beziehungsweise alle ihre Wahlversprechen einzuhalten: Es herrscht weniger Gestaltung, mehr Verwaltung. Es gilt daher ein Modell zu finden, das diese Blockade zu beheben vermag. Die Antwort liegt womöglich in einer besonderen Eigenheit der Schweizer Demokratie: der Konkordanz.
Die Schweiz kennt keine klassischen Koalitionen wie andere europäische Länder, sondern setzt mit der Konkordanz auf die Einbindung aller politisch relevanten Kräfte. Dieses Modell entwickelte sich nach dem Landesstreik 1918 und dem Übergang zum Proporzwahlrecht. Der daraus entstandene antisozialistische Bürgerblock aus FDP, Katholisch-Konservativen und BGB wurde zunehmend durch die SP herausgefordert, die dank Initiativ- und Referendumsrecht Einfluss nahm. Parteipolitische Blockaden führten in der Zwischenkriegszeit zu einer Verschiebung der Entscheidungen ins Notrechtsregime. Ab Ende der 1930er setzte eine interparteiliche Zusammenarbeit ein, die 1959 mit der «Zauberformel» zur festen Einbindung aller grossen Parteien im Bundesrat führte.
Sicherlich, die Situation in der Schweiz war einzigartig in ihren Ursachen wie Umständen. Dennoch lassen sich Parallelen ziehen: So wie die SP durch direktdemokratische Mittel die Politik des Bürgerblocks durchkreuzen konnte, können eine AfD oder ein RN mit genügend Sitzen zentrale Funktionen parlamentarischer Demokratien blockieren oder für sich nutzen. Auch ihr Erfolg scheint ähnlich dauerhaft zu sein wie jener der Sozialdemokraten. Das Problem lässt sich also nicht aussitzen. Und so wie die Zusammenarbeit im Bürgerblock brüchig wurde, ist auch die heutige Kooperationsfähigkeit begrenzt – zumal solche Anti-rechts-Bündnisse oft Parteien von rechts der Mitte bis ganz links vereinen.
Losgelöst von der Koalitionslogik
Die Konkordanzdemokratie brachte in der Schweiz Stabilität – vielleicht kann sie auch andernorts helfen. Wie genau, hängt vom jeweiligen System ab. Ein Beispiel bot kürzlich Deutschland: Die von der CDU nach dem Zusammenbruch der Ampelkoalition angestossene Migrationsabstimmung sorgte für hitzige Debatten. Bei uns wäre eine sachbezogene Einzelabstimmung, losgelöst von Koalitionslogik, selbstverständlich. Zwar scheiterte die Vorlage, doch sie war ein – vielleicht unbeabsichtigtes – Beispiel für ein Element der Konkordanz.
Solche Abstimmungen sind auch in anderen Konkurrenzdemokratien möglich. Tatsächlich kommt es auch in anderen Ländern durchaus vor, dass Parlamentarier gegen ihre eigene Partei stimmen. Ein Beispiel hierfür ist das Vereinigte Königreich: Das britische Parlament wird bis heute traditionell von einer der beiden grossen Parteien dominiert – von den Konservativen oder wie derzeit von der Labour Party. Aufgrund der hohen Anzahl an Sitzen und der parteiinternen Flügel ist die Aufrechterhaltung der Fraktionsdisziplin oft schwierig. Nicht selten kommt es daher vor, dass die Abstimmungsbilanz der Parteien durchmischt ist. Beispielhaft hierfür ist die aktuelle «Welfare Bill» der Labour-Regierung, gegen die sich um die 160 «Rebels» innerhalb der Labour-Fraktion zur Wehr setzen wollen. Dieses Verhalten wird von der eigenen Partei in einigen Fällen sogar toleriert, wie wenn es sich um Gewissensfragen handelt, wie zum Beispiel bei einer Abstimmung über das Abtreibungsrecht. Somit herrscht in solchen Fällen eine faktische Konkordanz im Sinne der Mehrheitsbildung.
Ebenfalls kein Novum wäre die Einbindung sämtlicher relevanter Kräfte in die Regierung. Sogenannte Allparteienregierungen wurden häufig in Krisenzeiten eingesetzt. So zum Beispiel in Grossbritannien während des Zweiten Weltkriegs, die Regierung unter Mario Draghi in Italien, die Krisenregierung in Griechenland von 2011 oder Finnland, wo die Koalitionen oftmals so umfassend sind, dass diese faktisch als Allparteienregierung funktionieren. Die Stabilität solcher Regierungen variiert zwar stark, jedoch gibt es in vielen Ländern Präzedenzfälle. Der Verweis darauf könnte die Hemmschwelle für dieses Element der Konkordanz senken, da man bereits Erfahrung hat.
Eine Frage des Willens
Wenn bei gewissen Vorlagen das System der Konkurrenz zumindest vorübergehend ausgesetzt wird – wie in den vorherigen Beispielen –, könnte das die politische Lage stabilisieren. Parteien müssten nicht mehr mit Koalitionen brechen, um Veränderungen zuzustimmen, die sich das Volk wünscht – wie vor allem bei der Migrationsthematik. Es ist denkbar, dass die wichtigsten Parteien wie in der Schweiz ein Gentlemen’s Agreement eingehen: Bei besonders volatilen Vorlagen, wie eben in Migrationsfragen, wird die Koalitionslogik ausgesetzt, und es entscheidet jede Partei allein, ob sie zustimmen will oder nicht.
Dies würde einerseits den Volkswillen wohl besser abbilden, da das gesamte Parlament frei entscheiden könnte. Andererseits würde es rechtspopulistischen Parteien eine Möglichkeit geben, sich einzubringen, ohne dass man sie dafür in die Regierung einbinden muss, was ohnehin oft nicht gewünscht ist. Solche «Konkordanzabstimmungen» könnten also den innenpolitischen Druck auf das Konkurrenzsystem etwas ablassen. Während die Einführung direktdemokratischer Mittel sicher wünschenswert ist, bräuchte dies viel Zeit und in den meisten Ländern eine Verfassungsreform. Eine Abstimmung gemäss Konkordanzprinzip hingegen ist oftmals eine Frage des Willens, nicht des Könnens.
Welche Elemente der Konkordanzdemokratie genau nützlich und wünschenswert sind, hängt von der spezifischen Situation ab. Ebenso, ob die etablierten Kräfte bereit sind, vom bisherigen System abzuweichen und sich auf dieses Experiment einzulassen. Sollten sie es dennoch wagen, ist es durchaus möglich, dass im momentan volatilen Europa wieder etwas Ruhe einzukehren vermag.