Der zensurindustrielle Komplex
Twitter-Files-Herausgeber Michael Shellenberger erzählt in Zürich, wie US-Geheimdienste aktiv Zensur in den sozialen Medien vorangetrieben haben.

Montagabend in der Zürcher Altstadt: etwa 80 Leute kamen in die Zunft zu Schneidern, um an der allerersten Veranstaltung der neu gegründeten Free Speech Union Switzerland (FSUS) dabei zu sein. Protagonist des Abends: Michael Shellenberger, amerikanischer Buchautor, Meinungsfreiheits- und Umweltaktivist sowie Mitherausgeber der Ende 2022 enthüllten Twitter-Files. Nach einer Anmoderation von Nebelspalter-Herausgeber Markus Somm und einer kurzen Gesangseinlage der Songwriterin Bernarda Brunovic ging es dann ans Eingemachte.
Shellenberger erzählte, dass er in seinen jungen Jahren ein radikaler Linker gewesen sei, seine politischen Ansichten hätten sich über die Jahre gewandelt. Nur einer Sache sei er konsequent treu geblieben: einem unbeirrten Eintreten für die Meinungsfreiheit und Grundrechte.
Als Elon Musk Twitter kaufte – er nannte es später auf X um –, gab er ausgewählten Journalisten Zugang zu firmeninternen Dokumenten, den sogenannten «Twitter Files». Neben den Journalisten Matt Taibbi und Bari Weiss bekam auch Shellenberger Zugriff auf diese Dokumente. Was sie dort fanden, sei ein «Schock» für Shellenberger gewesen.
Firmenintern existierte etwa eine «Blacklist» von Twitter-Nutzern – darunter der bekannte Stanford-Professor Jay Bhattacharya, der während der Coronazeit ein scharfer Kritiker der Corona-Massnahmen war und mittlerweile Direktor des amerikanischen National Institutes of Health ist. Beim Abgrasen der Dokumente stellten Taibbi und Shellenberger ungewöhnlich viele E-Mails vom FBI fest. Aus den Twitter-Files gehe hervor, dass die amerikanischen Geheimdienste die Kontrolle über Content-Moderation auf Twitter übernahmen – man könne, so Shellenberger, von einem «zensurindustriellen Komplex» reden.
Im Gespräch mit Markus Somm erläuterte Shellenberger, wie die Linken in den letzten Jahren völlig übers Ziel hinausgeschossen seien und damit den Boden für den Aufstieg der Rechten bereitet hätten. Sei es die forcierte «Genitalverstümmelung bei Kindern», das Wiedersalonfähigmachen von «Segregation», die Verknappung und Verteuerung von Energie, der Genderismus oder die Zensurpolitik – all dies sei eine Steilvorlage für Donald Trump gewesen.
Was Trumps zweite Präsidentschaft betrifft, zog Shellenberger eine differenzierte Zwischenbilanz. In der Migrationspolitik mache Trump einen «exzellenten Job»; gleiches gelte beim Kampf gegen die Identitätspolitik der Linken. Beim Thema Meinungsfreiheit zeigte sich Shellenberger etwas verhaltener. Er fände es zwar gut, dass Trump dem zensurindustriellen Komplex seine finanziellen Mittel entziehe. Was er jedoch kritisch sehe, sei die Möglichkeit, dass Ausländer in den USA ihre Greencard verlieren könnten, wenn sie sich falsch äussern – Antisemitismus hin oder her.
Zum Schluss fragte Somm Shellenberger, was das grösste Missverständnis der Europäer gegenüber den Amerikanern sei. Die Europäer, so Shellenberger, verstünden nicht, wie müde die Amerikaner von den militärischen Interventionen der vergangenen Jahre seien. Die Verteidigungsausgaben seien einfach zu hoch.
Der Free Speech Union Switzerland ist ihr Auftakt mit dem Mitherausgeber der Twitter-Files zweifellos gelungen. Hoffen wir, dass es in diese Richtung weitergeht und die Lobby der Redefreiheit in der Schweiz erstarkt. (Michael Straumann)