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Die Transformation der Intimität

Was bedeutet es, in der vernetzten Welt von heute Mensch zu sein?

Die Transformation der Intimität
Illustration von Daniel Garcia.

«Mit ‹Verbindung› kann vieles gemeint sein: ein physischer oder logischer Pfad zwischen zwei Dingen, das Einrichten eines solchen Pfades, der Verkehr entlang eines Pfades sowie pfadlose Beziehungen zwischen zwei oder mehr Entitäten. Mit Blick auf seine Popularität und die durch ihn ausgedrückte bedeutungsvolle Beziehung weisen wir den Begriff der Verbindung nicht ausdrücklich zurück, fassen ihn in diesem Aufsatz aber ausschliesslich als pfadlose Beziehung zwischen zwei oder mehr Entitäten.»
Vint Cerf and Bob Kahn, A Protocol for Packet Network Intercommunication, 1974

Vor kurzem besuchte mein Sohn ein Holocaust-Museum, wo im Rahmen der interaktiven Plattform «New Dimension of Testimony» das Hologramm eines Auschwitz-Überlebenden zu sehen war. Der unwirkliche Mann beantwortete Fragen der Kinder zu den historischen Greueln. Die Kinder waren begeistert, da sie ihn alles Mögliche fragen konnten: «Hassen Sie die Deutschen?», «Glauben Sie noch an Gott?», «Was war das Schlimmste, was passiert ist?». Mein Sohn erklärte mir, dass sie nie gewagt hätten, einer wirklichen Person solche Fragen zu stellen. Das ist der Engel der Zukunft. Er ist nicht aus Fleisch, man kann ihm also alles anvertrauen.

Mit der Konnektivität die Krise

Ich bin ein Hybrid, gehöre einer Zwischengeneration an: weder Digital Native noch analoges Fossil. Mein Intimleben erspross fast zeitgleich mit dem Aufkommen digitaler Konnektivität. Meine Frau wurde im selben Monat geboren, in dem Bob Kahn und Vint Cerf in ihrem «Protocol for Packet Network Intercommunication» jene Verbindungen beschrieben, die das Internet möglich machten. Ich erinnere mich noch, wie bei uns zu Hause der erste PC ausgepackt wurde – das spukhafte Echsenaugengrün des primitiven Bildschirms. Auch an meine erste E-Mail erinnere ich mich, an mein erstes Online-Formular. Fast alle Erinnerungen, die ich mit meinen Zeitgenossen teile, haben Technik zum Gegenstand: Wo warst du, als du dein erstes Smartphone bekamst? Was war dein erster Einkauf auf Amazon? Weisst du noch MySpace?

Seit meiner Kindheit hat die Zunahme digitaler Konnektivität alle menschlichen Interaktionen verändert, sei es den Kauf eines Sandwiches oder Analsex. In derselben Zeitspanne geriet die menschliche Intimität in die Krise. In einer aktuellen Studie gaben fast die Hälfte der 20 000 befragten Amerikaner an, einsam zu sein. Einsamkeit wird inzwischen als chronisches volksgesundheitliches Problem eingestuft. Auch Narzissmus, eine verwandte Störung, nimmt laut klinischen Studien seit 30 Jahren zu. Heute ist Narzissmus so weit verbreitet und so allgegenwärtig als Grundierung unserer Kultur in all ihren Aspekten, dass man sich fragen muss, ob er überhaupt noch als Krankheit betrachtet werden kann. Sozialkapital in jeglicher Form schwindet rasant. Politische Solidarität ist auf dem Rückzug, Aufsplitterungen aller Art hingegen sind auf dem Vormarsch. Wir lassen unsere Schranken herab. Unsere Länder lassen ihre Schranken herab.

Von intimen Offenbarungen überwältigt

Jeder weiss, dass die Technik uns verändert hat, selbst auf der intimsten Ebene – wie genau, möchte niemand wirklich wissen. Die Schöpfer der Technik sind blind für die Wirkung ihrer Produkte auf menschliche Intimität. Da sie sich ohnehin nicht quantifizieren lässt, ist es doch einerlei. Die grossen Erforscher menschlicher Intimität sind gleichermassen blind für den unterschwelligen Einfluss der Maschinen. Die Kurzgeschichten von Alice Munro – für viele die intimsten Porträts häuslichen Lebens zwischen 1970 und heute, der Zeit der grossen technologischen Disruption – erwähnen nirgends Computer. Sie scheinen zu albern, zu nebensächlich, blosse Ablenkung vom eigentlichen Geschäft der Zwischenmenschlichkeit: Familie und Sex. Ein anderes Problem kommt hinzu: Allein die Erwähnung eines Smart­phones in einer Kurzgeschichte über menschliche Intimität würde das Gerät zum eigentlichen Gegenstand der Geschichte machen. Die Technik würde alle anderen Bedeutungen verschlucken – so wie sie es im wahren Leben tut.

Wir werden der Auswirkungen der digitalen Konnektivität auf unsere intimen Beziehungen nicht mehr Herr. Die Folge sind grassierende Missverständnisse. Nicht nur ältere Menschen sind der Meinung, dass das Aufkommen digitaler Konnektivität zu einem Rückgang von zwischenmenschlicher Nähe geführt hat. Das ätherische Wesen des Digitalen – seine Flüchtigkeit, Gesichtslosigkeit – steht im Widerspruch zur Fleischlichkeit und Stofflichkeit des Analogen. Ein Download ist eben doch kein Album, Netflix kein Kino, Tinder keine Romanze und so weiter und so fort. Mit Technik tauschen wir im besten Fall Intimität für Bequemlichkeit ein – so die allgemeine Annahme.

Was diese Annahme dubios macht, ist die Tatsache, dass sie nicht der Wirklichkeit entspricht. Die digitale Welt quillt über vor Intimität. Ich bin wohl einer der jüngsten Menschen, der seinem Partner noch nie ein Nacktbild von sich geschickt hat. Facebook und Instagram sind gewaltige vernetzte Schaufenster intimer Szenerien: Familienurlaube, Abschlussfeiern, Geburtstagskränzchen, Heiligabend mit ausgepackten Geschenken, alle Verwandten auf dem Präsentierteller. Dann gibt es noch Live­streams von Geburten auf BirthTube. Nicht zu vergessen eine nie dagewesene Auswahl an Pornografie der unverblümtesten Sorte. Die digitale Verbundenheit hat eine derart uralte Intimpraxis wie die Masturbation revolutioniert. Einst eine Sache von Gedächtnis und Fantasie, eine traumgleiche Wiederherstellung alltäglicher erotischer Eindrücke, ist Masturbation heute das Stöbern in katalogisierten Bildern, in Permutationen und Kombinationen der Gesamtmenge externalisierten Begehrens, wie sie in einer Reihe Datenbanken abgelegt sind.

Unterhaltungen auf Social Media sind fast gänzlich persönlicher Natur. Jede sachbezogene Diskussion auf Twitter oder Facebook – sei es über Biolandwirtschaft, Videospiele oder Lyrik – degeneriert unvermeidlich ins Persönliche: «Dein Ton ist beleidigend!» oder «Was denkst du, wer du bist?». Politische Debatten im Internet schwelgen in einem Hass auf die jeweils andere Seite, wie es ihn in solcher Intimität und Grausamkeit noch nie gegeben hat. «Diese Leute sind Abschaum!» und «Du bist das Letzte!» sind die elementaren politischen Botschaften des Zeitalters digitaler Konnektivität.

Strukturwandel der Intimität

Wie gesagt: Mein Alter bringt eine spezielle Perspektive mit sich. Ich kann mich noch entsinnen, wie die Nachrichtenmedien einen ganzen Tag lang versuchten, aus George H. W. Bushs Blick auf die Armbanduhr während einer Debatte mit Bill Clinton etwas herauszulesen. Kaum zu glauben, ich weiss, aber so war Politik damals. Eine so harmlose Geste wie der Blick auf die Armbanduhr wurde zu einer Art Fenster ins Seelenleben eines Präsidentschaftskandidaten hochstilisiert. In Zeiten von Facebook und Twitter erregt es kaum noch Aufsehen, wenn ein US-Präsident seine Tochter mit Pornostars vergleicht, mit denen er geschlafen hat. Wir sind von intimen Offenbarungen überwältigt worden. Nichts als Intimität ist uns geblieben.

Oder besser gesagt: Es gibt heute weder mehr noch weniger Intimität als im analogen Zeitalter, sie wurde nur in ein anderes Format überführt. Menschen sind intime Geschöpfe. In einer Welt unpersönlicher Verbindungen gestalten sie reflexhaft alle Interaktionen so persönlich wie möglich. In einer Zivilisation auf Grundlage von Uniform Resource Locations (URLs) drücken wir uns durch Lust und Hunger und Gewalt aus. Wir alle sitzen vor unendlich austauschbaren und zugänglichen Bildschirmen und sehnen uns wie Kinder danach, besonders zu sein – und wir sind bereit, alles dafür zu tun.

Der Inhalt des Internets ist immer in Aufruhr gegen dessen Form. In der Form geschmeidig universell, ist das Internet vom Inhalt her der Lumpenkeller des Herzens. Der Widerspruch zwischen Form und Inhalt war von Anfang an erkennbar: in jenem Dokument, das alles erst möglich machte. Das «Protocol for Packet Network Intercommunication» definiert «Verbindung» ausschliesslich als «pfadlose Beziehung zwischen zwei oder mehr Dingen». Die ungeheure Macht und die strikten Beschränkungen des Zeitalters digitaler Konnektivität sind bereits hier deutlich erkennbar. Alle Information kann verknüpft werden, die entstehenden Verknüpfungen sind jedoch «pfadlos». Die vermeintliche Errungenschaft ist tatsächlich eine Katastrophe, ihr Vorteil ihr Fehler, das Feature eigentlich der Bug. Informationsgerechtigkeit ist per Definition ein Gegenentwurf zu Intimität.

Vint Cerf, einer der Väter des TCP/IP, ist für seine schicken Dreiteiler bekannt. Im förmlichsten Aufzug schreitet er durchs Silicon Valley, das Reich besudelter Kapuzenpullis. Darin liegt eine Metapher für das Internet: Seine Förmlichkeit, seine protokollarische Strenge, sein Ideal einheitlichen Zugangs machten das Internet zu jener Gosse voller Verachtung und Hass. Auch ermöglichten sie jene einsame, narzisstische Bösartigkeit auf Social Media, jene fühllose Anomie und jenen nachtleuchtenden Wahn, die das reale Onlineerlebnis ausmachen.

«Die Seele war immer ein Geheimnis. Sie entzieht sich jeder Erklärung. Was heilig ist in uns, was menschlich ist, ist unwissbar,
sogar uns selbst verschlossen.»

Fühlst du, was ich fühle?

Der grundlegende Widerspruch ist so simpel wie elend: Das Teilen privaten Erlebens war nie weiter verbreitet als heute, während Empathie – als Fähigkeit zum Nachfühlen fremden Erlebens – nie seltener war. In seinen «Philosophischen Untersuchungen» sprach Wittgenstein eben dieses Problem an: die Bedeutung von Intimität und die Intimität von Bedeutung. «Das Wesentliche am privaten Erlebnis ist eigentlich nicht, dass jeder sein eigenes Exemplar besitzt», schrieb er, «sondern dass keiner weiss, ob der andere auch dies hat oder etwas anderes. Es wäre also die Annahme möglich – obwohl nicht verifizierbar –, ein Teil der Menschheit habe eine Rotempfindung, ein anderer Teil eine andere.» Wittgenstein glaubte, die Annahme sei unverifizierbar, doch das Internet hat sie verifiziert: Ist das Kleid blau oder golden? Hören Sie «Yanny» oder «Laurel»?

Die Konnektivität des TCP/IP verspricht einen allgemeinen Bezugsrahmen, nicht gemeinsame Empfindungen. Gemeinsame Empfindungen sind aber der Wesenskern des Intimen – die Überzeugung, dass ich fühle, was ein oder mehrere andere fühlen; dass ein oder mehrere andere fühlen, was ich fühle. Es ist die verzweifelte Frage: Fühlst du, was ich fühle? Hat das zarte Beben meines Herzens Bedeutung für andere? Wittgenstein verarbeitete diese erbärmlich bedürftige, allzu menschliche Frage in seiner berühmten Parabel vom Käfer in der Schachtel:

«Nun, ein Jeder sagt es mir von sich, er wisse nur von sich selbst, was Schmerzen seien! – Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ‹Käfer› nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, dass Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte.»

Wie extravagant sich diese Allegorie einst ausnahm! Ich weiss noch, wie ich sie als Student las. Es schien eine schlechthin absurde Vorstellung, dass es ausser Psychopathen oder Nazis oder anderen Monstern tatsächlich Menschen geben sollte, die eines anderen Schmerz nicht an sich selbst wiedererkennen. (In derselben Debatte, in der George H. W. Bush auf die Uhr sah, prägte Bill Clinton die Phrase der 1990er Jahre: «I feel your pain.»)

Heute versteht jeder, der einmal im Internet unterwegs war, Wittgensteins Parabel instinktiv. Die sich abzeichnende politische Katastrophe in den USA kann in einem Satz zusammengefasst werden: Niemand glaubt mehr, seines Nächsten Schmerz sei wirklich. Niemand glaubt mehr, seines Nächsten Schmerz habe Bedeutung; niemand erkennt irgendeines anderen Schmerz an. Es ist das zentrale Problem von aus dem Internet entsprungener Empörung und Abscheu, die Hyperparteilichkeit, die sich aus so vielen Quellen speist. Niemand akzeptiert mehr anderer Menschen Schilderungen ihrer Gefühle. Die ganze Welt der digitalen Konnektivität ist ein miteinander verdrahteter Haufen Käfer in einem Haufen Schachteln.

Unser Zustand ist geprägt von Wirrnis und Kaputtheit, von Intimität ohne Empathie, genährt vom Zeitalter digitaler Konnektivität. Wir sind auf unsere magischen Anfänge zurückgeworfen, auf primitive Kontaktangst. Jüngst war zu lesen, bei Netflix sei eine neue Richtlinie gegen sexuelle Belästigung eingeführt worden, die Mitarbeitern ausdrücklich verbiete, einen Kollegen länger als fünf Sekunden anzusehen – die Macht des Anstarrens ist zurück, die Macht des bösen Blickes. Sprache hat wieder die alte Kraft von Zaubersprüchen angenommen, Worte können Böses heraufbeschwören, können schaden. Sex ist wieder mit so viel Bedeutung aufgeladen, dass wir immer enthaltsamer werden. Die Diskussionen im Internet sind meist gar keine Diskussionen, jedenfalls nicht im Sinne eines Gedankenaustausches. Man beschuldigt andere der Blasphemie und schwelgt selbst in deren Freuden. Unsere Zeit ist als «post-truth» beschrieben worden, was aber nicht zutrifft. Das Problem ist, dass jeder seine eigene Wahrheit hat und niemand Zweifel zugibt. Es herrscht kein Mangel an verabsolutierter moralischer Klarheit in der Welt. Vielmehr gibt es einen Überfluss. Ich sehe nur meinen Käfer und keinen anderen.

Der Künstler ist wichtiger als sein Werk

Früher bot Kunst Einblick in fremde Sichtweisen, fremde Gefühlswelten. Das Zeitalter digitaler Konnektivität erhebt den Künstler zum Heiligen in einer Weise, wie sie in keinem anderen Zeitalter denkbar gewesen wäre. Seine Aufgabe ist es, das Publikum mit Intimität zu versorgen, in seinem Wesen unsere politischen Hoffnungen zu verkörpern, in seinem Geschmack unsere Lifestyle-Sehnsüchte. Künstler, die schlechte Menschen sind, gehören boykottiert. Der Ikonoklasmus wird durch die Geschichte natürlich erschwert – wie sich zeigte, liefe man durch die Hallen des New Yorker Metropolitan Museums und versuchte dabei, die Werke aller Pädophilen und Vergewaltiger auszusortieren. Wie viel Schönheit würde das kosten! Natürlich ist es nicht die Untersuchung vergangener Verfehlungen, um die es im Ikonoklasmus geht. Vielmehr geht es um das Schaffen einer neuen Gestalt – des Künstlers als sozialen Avatars, als Figur gemeinsamer Empfindungen und Werte. Weil wir heute zu wissen glauben, wer er ist, ist es der Künstler, nicht sein Werk, durch den wir uns verbinden wollen.

Am Unterschied zwischen modernen Insta-Poeten und herkömmlichen Dichtern zeigt sich der Übergang deutlich. Ich weiss nichts über das Privatleben von John Berryman. Ich weiss nicht, ob er schwul war oder hetero. Ich hab keine Ahnung, wie er aussieht oder welchen Kleidungsgeschmack er hat. Was ich weiss, ist, dass er folgendes geschrieben hat: «Die natürliche Ordnung ergibt Sinn: Katzen hassen Wasser und lieben Fisch.» Auch weiss ich, dass ich, seit ich erwachsen bin, mehrmals im Monat über diese Zeile nachdenke. Sie gehört zum Inventar meiner Seele, ständig schiebe ich sie darin hin und her. Rupi Kaur würde ich auf der Strasse sofort erkennen. Ich habe ein Bild von ihr gesehen, auf dem es scheint, als sei ihre Kleidung von Menstruationsblut befleckt. Aus dem Stegreif weiss ich nicht eine einzige Zeile von ihr.

Nicht dass die eine Art Dichter besser wäre als die andere. An beiden wird die Sehnsucht ihres Publikums nach Intimität deutlich. Doch es sind verschiedene Arten Intimität. Die eine ist sprachlich und analog, die andere bildlich und digital. Die eine ist die Vergangenheit, die andere die Zukunft.

Die Erinnerung verloren im Datenmeer

Jüngst gelang es mir nicht, ein Gemälde wiederzufinden, das ich irgendwo gesehen hatte. Es war eine Art Parodie auf Botticellis «Geburt der Venus». Doch statt aus opulenten Mittelmeerwogen emporzusteigen, erhob sich die Göttin der Liebe als Pornostar aus einem Meer von Müll. Alle anderen Figuren waren popkulturelle Referenzen. Eine stellte Chewbacca dar, wie ich mich zu erinnern meinte. Ich verbrachte mit der Suche nach dem Bild im Internet fast einen halben Tag. Mir schien, als könne es von einem jungen Jeff Koons stammen, vielleicht Takashi Murakami, höchstens vielleicht noch Chris Ofili. Doch egal wie und wo ich suchte, ich fand nichts, was dem Bild meiner Erinnerung auch nur nahe kam. Solche Momente – wenn Google versagt, wenn das Internet die gesuchte Information nicht hergibt – sind genau deswegen so frus­trierend, weil man weiss, dass die Information irgendwo existiert und dass die Schuld bei einem selbst liegt. Langsam dämmerte es mir dann. Das Bild, nach dem ich das Internet durchforstete, gab es gar nicht. Niemand hatte es gemalt. Es war mein eigenes Bild. Ich hatte angenommen, meine Fantasie sei bereits ein archivierter Gegenstand in einer Datenbank.

Menschlich ist das Verborgene, das Mysteriöse

Ein anderer Vorteil davon, jener Zwischengeneration anzugehören, ist, dass ich mich an die vielen Male erinnern kann, als es hiess, Computer würden menschliche Arbeitskräfte ersetzen – und sie es dann doch nicht taten. Es ist nur ein paar Monate her, dass Google verkündete, sein digitaler Assistent habe den Turing-Test bestanden: Testpersonen hätten nicht gemerkt, dass sie mit einem Computer sprachen. Früher wäre ob dieses Ereignisses das Ende der Menschheit ausgerufen worden. Doch Googles Ankündigung wurde mit einem Schulterzucken quittiert. Dasselbe Schulterzucken, wenn ich mich recht entsinne, mit dem die Welt auf Deep Blues Sieg über Kasparow reagierte. Im Vorfeld war die Spannung enorm gestiegen – werden Computer uns ersetzen? –, doch dann, als es passierte, spielte man weiter Schach und blieb auch sonst Mensch. Mit Go war es genauso.

Beide dieser kalkulatorischen Wundertaten waren antiklimaktisch. Warum? Weil die Maschinen auf ihrem Siegeszug nicht von Mal zu Mal menschlicher werden; eher wird die Fähigkeit, in der sie den Menschen überflügeln, weniger menschlich. Wenn uns der technische Fortschritt der letzten 40 Jahre eines gezeigt hat, ist es, wie wenig Intelligenz – nach herkömmlicher Beschreibung – eigentlich wert ist. IQ ist nur etwas für Gimpel. Früher kamen Menschenmengen zusammen, um Wunderkindern zuzusehen, wie sie scheinbar unmögliche Rechenaufgaben lösten. Dazu braucht es heute nur noch ein Handy. Wir hielten uns etwas zugute auf eine Fähigkeit, die sich letztlich als biomechanische Funktion entpuppte. Sobald ein Algorithmus den ersten Pop-Hit komponiert, werden wir wissen, dass es eine Formel für erfolgreiche Songs gibt. Ebenso wie wir wussten, dass Schach letzten Endes nur eine Abfolge von Rechenoperationen ist.

In unseren halbdigitalen Leben ist alles menschlich, was nicht kalkulierbar ist, was nicht formelhaft, nicht algorithmisch ist. Ebenso wie in einer früheren Zeit alles menschlich war, was kein Tier vermochte. In einer Ära voller Information, voll unglaublicher Schlauheit, voll unausdenklicher Intelligenz ist unsere Vorstellung davon, was eine Person ausmacht, so primitiv wie eh und je. Unsere Lage ist nicht neu, kein exklusives Merkmal digitaler Konnektivität. Die Seele war immer ein Geheimnis. Sie entzieht sich jeder Erklärung. Was heilig ist in uns, was menschlich ist, ist unwissbar, sogar uns selbst verschlossen. Der geheime Name war immer der Name, auf den es eigentlich ankam.

«Der öffentliche Raum wird zu einer Ansammlung von Entfremdungen, ein Haufen Käfer in einem Haufen Schachteln. In einer Welt, in der alles geteilt wird, wird uns das definieren, was wir nicht teilen.»

Es kommt anders, als man denkt

Die Krise des Intimen ist nicht zufällig, koinzidiert nicht bloss mit dem Aufstieg von Smartphones und Social Media. Die konkreten Umrisse des Zusammenhangs sind schwer zu erkennen, und das nicht nur aufgrund der üblichen Probleme beim Interpretieren von Statistiken. Wer kann schon seine eigenen Denkverzerrungen durchschauen? Amaras Gesetz gilt für menschliche Geschicke überhaupt: Kurzfristig neigen wir dazu, die Auswirkung einer technologischen Neuerung zu überschätzen, langfristig dazu, sie zu unterschätzen. In der Geschichte wie auch in unserem Leben sind es die unüberlegten Entscheidungen, die die weitreichendsten Folgen haben. Die spontane Bemerkung der Mutter. Der Partybesuch auf den letzten Drücker. Derlei Entscheidungen formen uns in einer Weise, die zu reflektieren uns erstarren lässt. Kranzbergs erstes Gesetz – «Technologie ist weder gut noch schlecht noch neutral» – ist pragmatisch genug, die Unvermeidlichkeit von Missverständnissen einzuräumen. Es ist der Grund dafür, dass die Zeit der ultimative Twist am Ende der Geschichte ist – der Grund dafür, dass die Folgen neuer Technologien stets für jedermann überraschend sind.

Im Internet – wo sonst? – kursiert eine Geschichte: Die deutschen Geheimdienste nutzen neuerdings Schreibmaschinen, um Dokumente der höchsten Geheimhaltungsstufe anzufertigen. Diese werden dann in Aktenschränken verstaut. Man ist hier zum Schluss gekommen, dass alles Digitale von vornherein kompromittiert ist. Was man für sich behalten will, worauf es wirklich ankommt, das bleibt analog.

Was uns in Zeiten der kompletten Offenlegung definiert

Die Krise des Intimen erwächst unmittelbar aus den Strukturen der digitalen Konnektivität, nicht bloss aus ihrem falschen Gebrauch. Bessere Organisation ist keine Lösung. Alle Vorschläge zur Reform des Internets missverstehen die grundlegende Vision von Konnektivität, die das Ganze erst möglich macht. Digitale Unternehmen können nichts tun, um die unentrinnbare Dysfunktionalität unserer Lage zu mildern – ausser sie würden aufhören, digitale Technik herzustellen. Die Verbindungen des Internets sind genuin «pfadlos». Doch menschliche Wesen, diesseits oder jenseits des Bildschirms, bedürfen einer unendlichen Menge Pfade.

Wir müssen diese Pfade ausserhalb der Technik suchen. Ein geheimer Name ist nicht dasselbe wie ein anonymer Avatar. In einer Welt totaler Information zieht sich das Wesen des Menschen auf das zurück, was nicht Information ist. Das Wesen des Intimen wird sein zu teilen, was nicht per Netzwerk geteilt werden kann. Geheime Namen waren immer im Zentrum des Heiligen. Die altägyptische Gottheit Ra besass einen heiligen Namen, einen geheimen Namen. Als Moses Gott fragte, wer er sei, gab dieser zurück: «Ich bin, der ich bin.» Ohne Geheimnis kann es keine Offenbarung geben.

All die verschiedenen Räume der digitalen Konnektivität bilden den öffentlichen Raum als Ganzes. Der öffentliche Raum wird zu einer Ansammlung von Entfremdungen, ein Haufen Käfer in einem Haufen Schachteln. In einer Welt, in der alles geteilt wird, wird uns das definieren, was wir nicht teilen. Das Geheime wird unwichtig sein, da es nicht im Netz zu finden ist. Es wird derjenige Teil von uns sein, auf den es ankommt.


Dieser Text erschien im Oktober 2018 in englischer Sprache in der «Los Angeles Review of Books».

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