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Am Tropf der Tech-Oligarchen
Joel Kotkin, zvg.

Am Tropf der Tech-Oligarchen

Kalifornien ist als Pionier der digitalen Technologien unglaublich erfolgreich. Doch die Kehrseite dieses wirtschaftlichen Modells tritt immer deutlicher zutage.

 

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Seit Kalifornien 1850 ein Gliedstaat der USA geworden ist, stand es an der Spitze des Wandels im Land – als Heimat von Hollywood, Surfmusik, Raumfahrt, der digitalen Revolution und der Entstehung einer neuen multi­kulturellen Gesellschaft. Der Geist von Steve Jobs ist noch nicht völlig verlorengegangen: Es ist nach wie vor der Ort, wo Studienabbrecher mit technischen Innovationen reich werden. Kalifornien dominiert die High-Tech-­Branche ­immer noch mehr als jeder andere Ort auf der Welt.

Doch trotz des enormen Reichtums zeigen sich in dem Bundesstaat zunehmend auch die Schattenseiten einer neoliberalen Gesellschaft, geprägt von Tech-Oligarchen, grüner Politik und der Auslagerung von Industrien. Sicherlich haben Globalisierung und das Wachstum des Tech-Sektors viele kalifornische Unternehmen bereichert – Apple, Google und Meta sind Paradebeispiele – und eine neue Generation junger Milliardäre hervorgebracht. Die meisten Kalifornier haben davon aber kaum profitiert.

Wirtschaftliche Schwäche

Das kalifornische Wirtschaftsmodell erinnert eher an das «Gilded Age», die Blütezeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, als an einen fortschrittlichen Kapitalismus, den linke Bewunderer stets preisen. Selbst wenn die Wirtschaft des Gliedstaats insgesamt gesehen gut dasteht, bietet sie den meisten Bürgern schlechte Aufstiegschancen. Und während Gouverneur Gavin Newsom und sein PR-Team verkünden, die kalifornische Wirtschaft sei «wieder im Aufwind», verzeichnet der Bundesstaat die vierthöchste Arbeitslosenquote der Nation. Vergleicht man die Erholung des Arbeitsmarktes in verschiedenen Grossstädten, so sind Los Angeles und San Francisco beide Schlusslichter.

Schon vor dem aktuellen Abschwung war die kalifornische Wirtschaft abseits der Technologiebranche bemerkenswert schwach: Seit Jahren liegt der Staat in Branchen wie dem Baugewerbe, der verarbeitenden Industrie oder Unternehmensdienstleistungen deutlich hinter seinen Hauptkonkurrenten zurück. Bei etwa 80 Prozent der in den letzten zehn Jahren geschaffenen Arbeitsplätze liegt der Lohn unterhalb des Medians, was zu einer immer grösseren Schicht von «Working Poor» im Dienstleistungssektor und zu weniger Stellen mit mittlerem Einkommen führte.

Die Jungen gehen, die Alten bleiben

Infolgedessen hat Kalifornien kaufkraftbereinigt die landesweit höchste Armutsquote und den vierthöchsten ­Gini-Index – ein Mass für Ungleichheit – hinter New York, Connecticut und Louisiana. Während das Parlament jüngst ein Gesetz zur Entschädigung der Nachkommen von ­Sklaven verabschiedet hat – der Tatsache zum Trotz, dass Kalifornien nie ein Sklavenstaat war –, stellt ein neuer ­Bericht der Chapman University fest, dass die Realeinkommen von Afroamerikanern und Latinos in Kalifornien im landesweiten Vergleich an 48. beziehungsweise 50. Stelle liegen.1 Schwarze verdienen in Kalifornien etwa so viel oder etwas weniger wie in Mississippi.

Die treibenden Kräfte der kalifornischen Wirtschaft – Minderheiten, Einwanderer und Junge – wandern allesamt ab. Das Bevölkerungswachstum, das sich bereits im vergangenen Jahrzehnt verlangsamt hat, ist zum ersten Mal in der Geschichte des Gliedstaates ins Negative gefallen. Die grösste Stadt des Bundesstaates, Los Angeles, die lange Zeit mit jugendlichem Enthusiasmus in Verbindung gebracht wurde, hat in den letzten zwanzig Jahren 750 000 Menschen unter 30 Jahren verloren, während die Zahl der über 65-Jährigen um 500 000 anstieg; dies war der grösste Rückgang an jungen Menschen unter allen grossen Regierungsbezirken des Landes.2

Kostspielige grüne Politik

Der Wandel Kaliforniens von einem Paradies für die Mittelklasse in eine zunehmend neofeudale Gesellschaftsform ist kein Zufall, sondern wird durch politische Entscheidungen vorangetrieben, insbesondere in der Klimapolitik. Wie ein aktueller Bericht des MIT zeigt, führt eine übermässige Abhängigkeit von erneuerbaren Energien zu hohen Preisen, ob in Europa oder in Kalifornien.3 Big-Tech-Firmen können energieintensive Arbeiten an andere Orte auslagern. Doch Energiearmut – der Zustand, wenn ein Haushalt mehr als 10 Prozent seines gesamten Einkommens für Energie ausgibt – hat sich in den letzten Jahren dramatisch ausgebreitet. Obwohl einige Investoren von der energetischen Transformation profitiert haben, hilft sie dem Klima wenig, da die Verlagerung von Produktion in andere Länder die Reduktion der CO2-Emissionen in einem Staat fast vollständig aufwiegt.

Diese Auswirkungen mögen in Kalifornien am stärksten zu spüren sein, spiegeln jedoch ein grösseres Problem aller westlichen Länder wider, welche die Emissionen einzudämmen versuchen. Während sie den lokalen Produzenten neue Kosten aufbürden, bauen Länder wie China, der weltweit grösste CO2-Emittent, und Indien neue Kohle- und Gaskraftwerke und setzen auf die Kernkraft, die für die meisten Grünen im Westen ein Tabu ist.

Die sozialen Folgen sind schwerwiegend. Selbst in ­guten Zeiten spiegelt das Ausmass an Armut, Elend, Kriminali­tät und Obdachlosigkeit die Auswirkungen einer Wirtschaft wider, die vollständig von Technologie und teuren Immobilien dominiert wird. Besonders deutlich wird diese Armut im Inneren des Bundesstaats Kalifornien, wo sich einige der ärmsten Regierungsbezirke der USA befinden. Sie haben am meisten unter der lokalen Wasser-, Energie- und Wohnungspolitik gelitten.

Doch auch in Los Angeles und San Francisco, den Städten, die das globale Bild von Kalifornien prägen, sind die sozialen Folgen offensichtlich: Aus dem Tech-Mekka San Francisco, das sich seiner Toleranz rühmt, ist eine Stadt mit zügelloser Kriminalität, mehr Drogenabhängigen als Schülern und so viel Fäkalien auf den Strassen geworden, dass eine Website eine «Poop Map» erstellt hat. In der proletarischeren Stadt Los Angeles in Südkalifornien verglich ein UNO-Vertreter vergangenes Jahr die Zustände in der Skid Row mit denen in syrischen Flüchtlingslagern. Mit­arbeiter der Stadtverwaltung haben sich mit dem Typhus­fieber infiziert, das in Kalifornien wiederaufgetaucht ist. Einige verlangen jetzt eine aufwendige Schutzausrüstung, wenn sie die fauligen Strassen abspritzen sollen.

Grenzen des Wachstums im Wohlfahrtsstaat

Kalifornien steht vor der Frage, wie man mit diesen Herausforderungen umgeht. Bis zum jüngsten Absturz der Tech-Aktien konnte die Regierung die Probleme durch eine stete Ausweitung der Sozialleistungen und Subven­tionen lösen. Der Abschwung an der Börse und die düsteren Zukunftsaussichten für kalifornische Start-ups haben nun aber schwerwiegende Folgen für den Gliedstaat, der stark von Kapitalgewinnen abhängig ist.

Während die Regierung den gegenwärtigen Budgetüberschuss von fast 100 Milliarden Dollar bejubelt, erwartet das staatliche Legislative Analyst’s Office (LAO), dass der Staatshaushalt bald in die roten Zahlen rutschen werde. Dies wird Gouverneur Newsom, sofern seine Wiederwahl im November gelingt, vor eine schwierige Situation stellen.

Die von den Technologieunternehmen erwirtschafteten Überschüsse haben die Ausweitung der staatlichen ­Sozialleistungen und einen ausserordentlichen Sozialplan für Staatsbedienstete ermöglicht, der unter anderem eine dauerhaft kostenlose Gesundheitsversorgung vorsieht. Newsom wird zwar nicht mit Steuererhöhungen Wahlkampf machen, aber nach der Wahl müssen die Unter­nehmen mit einer Flut neuer Steuern und Vorschriften rechnen. Angesichts der absehbaren Haushaltsdefizite ­arbeiten die Gewerkschaften bereits an neuen Plänen zur weiteren Anhebung der bereits höchsten Einkommenssteuer des Landes sowie der Lohnsteuer. Noch schlimmer ist die Aussicht auf eine Vermögenssteuer, bei der man selbst Auswanderer aus dem Bundesstaat zur Kasse beten will. Es gibt zudem den Vorschlag, die Wochenarbeitszeit auf vier Tage zu verkürzen.

In anderen Gliedstaaten und im Ausland mag das kalifornische Dilemma ein Grund zur Schadenfreude sein. Sie ist jedoch unangebracht: Die Zukunft, die in Kalifornien geschmiedet wird, ist auch ihre, und die meisten anderen Länder haben keine Unternehmen mit der wirtschaftlichen Kraft von Apple, Meta oder Alphabet. Der Einfluss der Tech-Oligarchen macht nicht an der Sierra Nevada und der Pazifikküste halt. Die postindustrielle, dystopische High-Tech-Zukunft mag Kalifornien zuerst erreicht haben, aber es ist wahrscheinlich, dass anderen westlichen Ländern in den kommenden Jahrzehnten Ähnliches blüht.

  1. Joel Kotkin und Marshall Toplansky: Restoring the California Dream.
    In: Center for Demographics & Policy Research Brief, 2022.

  2. Emsi: The Decline of Young People in America, ­www.­economicmodeling.com/2021/05/25/the-decline-of-young-people-in-america

  3. Karen Tapia-Ahumada, John Reilly, Mei Yuan und Kenneth Strzepek: Deep Decarbonization of the U.S. Electricity Sector: Is There a Role for Nuclear Power? MIT Joint Program on the Science and Policy of Global Change, Report 338, 2019.

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