
«Der nächste grosse Crash könnte in China passieren»
«Die schlimmsten Krisen hängen mit Schulden zusammen», meint die Ökonomin Linda Yueh. Der Zollstreit könnte zu einer Welt mit mehr verschiedenen Allianzen führen.
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Sie haben ein Buch über «The Great Crashes» geschrieben. Was hat Sie dabei am meisten überrascht?
Wie weit verbreitet die Meinung ist, dass «diesmal alles anders» sei. Genau das ist der Grund, warum Krisen so regelmässig auftreten. Es ist echt schwierig, zwischen einer Blase und einer grundlegenden Veränderung der Bewertungen aufgrund eines transformativen Produkts oder einer Dienstleistung zu unterscheiden. Wir alle haben Angst, etwas zu verpassen, und das befeuert Booms.
Was haben Sie dabei erkannt?
Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse ist, dass Blasen unvermeidlich sind, aber Menschen sich schützen können, indem sie sich nicht mit zu hohen Schulden daran beteiligen. Die schlimmsten persönlichen und gesamtwirtschaftlichen Krisen stehen in der Regel mit Schulden in Verbindung. Insbesondere, wenn diese das Bankensystem zum Einsturz bringen.
Bereiten sich Politiker und Wirtschaftsakteure immer auf die vorangegangene Krise vor?
Mark Twain hatte recht, als er angeblich sagte: «Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.» Politiker werden oft dafür kritisiert, dass sie das Tor schliessen, nachdem die Pferde schon aus dem Stall sind, was die Herausforderung gut auf den Punkt bringt. Um zu verhindern, dass sich die letzte Krise wiederholt, werden die Politiker Massnahmen ergreifen, die auf den im Crash identifizierten Schwachstellen basieren. Bloss: Die nächste Krise wird zwar Ähnlichkeiten, aber auch erhebliche Unterschiede zur letzten aufweisen. In meinem Buch stelle ich einen dreistufigen Rahmen vor, der die grossen Krisen des vergangenen Jahrhunderts erfasst. Er hilft dabei, Ähnlichkeiten zwischen Krisen zu erkennen, aber auch die Geschichte jeder einzelnen Krise zu erzählen, um zu zeigen, dass die Phasen einer Krise zwar bekannt, die Ursachen jedoch sehr unterschiedlich sind.
Wo sehen Sie derzeit die beunruhigendsten Anzeichen für eine Krise?
Ich achte vor allem auf die Verschuldung, insbesondere in Ländern oder Branchen, in denen die Daten nicht transparent sind. Ein Beispiel sind «Schattenbanken», also Nichtbanken, die genauso viel Kredite vergeben wie Banken. Auf Länderebene ist eine anhaltende Immobilienkrise in China zu beobachten, die zu einer erheblichen Verschuldung von Immobilienunternehmen geführt hat. Ich nenne China als potentiellen Ausgangspunkt für den nächsten grossen Crash, weil es eine so grosse Volkswirtschaft ist, aber auch, weil es der grösste Kreditgeber der Welt ist – noch vor dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und dem Pariser Club der Industrieländer. Wenn die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt ihre Kredite zurückzieht, könnte das eine Krise in den Schwellenländern auslösen.
«Wenn die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt ihre Kredite
zurückzieht, könnte das eine Krise in den Schwellenländern auslösen.»
Wie sollte die Schweiz mit Trumps Zöllen umgehen? Ist es klug, schnell eine Einigung anzustreben, oder sollten wir stattdessen eine harte Haltung einnehmen?
Ein Vorbild könnte Grossbritannien sein. Es hat das erste Handelsabkommen mit den USA abgeschlossen, mit dem die sehr hohen Zölle gemäss Section 232 auf Stahl, Aluminium und Autos abgeschafft oder gesenkt wurden. Das hat die Unsicherheit für britische Exporteure etwas verringert, und sie müssen sich keine Sorgen mehr über Vergeltungszölle machen, die für einige Unternehmen einer doppelten Besteuerung gleichkommen. Damit steht Grossbritannien zwar nicht besser da als am 1. April, aber besser als am 2. April (dem Tag, als Trump die neuen Zölle ankündigte, Anm. d. Red.). Es gibt zwar noch Probleme; zum Beispiel fehlt ein klarer Zeitplan für die Umsetzung des Abkommens. Aber britische Unternehmen haben etwas mehr Sicherheit als andere, zum Beispiel in der EU, die einen anderen Weg eingeschlagen hat. Für die Schweiz könnte es also sinnvoll sein, von einem ähnlich grossen, ziemlich neutralen Land zu lernen.
Werden Trumps Zölle zu einer protektionistischeren Welt führen? Oder zu einem zweigeteilten Welthandelssystem?
Die Zölle haben den Protektionismus verstärkt, aber es ist unklar, ob das zu einem zweigeteilten Welthandelssystem führen wird. Mit anderen Worten: Eine stärker fragmentierte Welt wird wahrscheinlicher, da sich die betroffenen Länder möglicherweise nicht China zuwenden werden. Stattdessen könnten wir künftig eine multipolare Welt mit unterschiedlichen Wachstumsmotoren erleben, aber auch eine Welt mit unterschiedlichen Allianzen, in der Länder und Unternehmen aus bestimmten Gründen (zum Beispiel Sicherheit) mit einigen Ländern und aus anderen Gründen (zum Beispiel Handel) mit anderen Ländern zusammenarbeiten.
Welche Länder werden in einer solchen Welt erfolgreich sein?
Länder, welche die verschiedenen Allianzen so optimieren können, dass sie ihr Wirtschaftswachstum fördern und Unsicherheiten verringern, werden besser abschneiden als andere. Gut möglich, dass nicht die USA oder China am besten abschneiden werden, da die anhaltenden Spannungen zwischen ihnen ihre wirtschaftlichen Aussichten trüben dürften. Mittelgrosse Volkswirtschaften, die als globale Drehkreuze fungieren, wie die Schweiz, könnten in einer solchen Welt sehr gut abschneiden, da der Handel sich möglicherweise in neutralere Regionen verlagert.
Wie stark wird China wirtschaftlich durch die amerikanischen Zölle geschädigt?
Analysten und globale Organisationen schätzen, dass das chinesische Bruttoinlandsprodukt um bis zu zwei Prozent sinken könnte. Das ist für jede Volkswirtschaft erheblich, Chinas Wachstumsrate für das kommende Jahr könnte das aber fast halbieren. Diese Prognose ist sehr unsicher, da sie von hohen Zöllen auf beiden Seiten ausgeht. Langfristig könnten auch nichttarifäre Handelshemmnisse wie Investitionsbeschränkungen Schaden anrichten, die China vom Zugang zu Technologieprodukten wie Halbleiterchips abschneiden. Und auch Beschränkungen für Personen, die den Know-how-Transfer von führenden amerikanischen zu chinesischen Unternehmen und umgekehrt einschränken.
Wie sehen Sie die wirtschaftlichen Aussichten Chinas mittel- und langfristig?
Mittelfristig braucht China eine gewisse «Fluchtgeschwindigkeit», um die Middle Income Trap zu überwinden, in der die meisten Länder zwar den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen erreichen, aber nicht reich werden. Ein Immobiliencrash wird den Konsum und die Investitionen bremsen, sodass es zu einer zyklischen Abschwächung kommt – gerade zu einem Zeitpunkt, in dem diese Treiber der Binnennachfrage benötigt werden, um das Wachstum anzukurbeln, da das globale wirtschaftliche Klima rauer geworden ist. Wenn die Probleme im Immobiliensektor nicht gelöst werden und die Wirtschaft belasten, könnte das mittelfristig Auswirkungen haben. Langfristig hängen Chinas Aussichten von Produktivitätssteigerungen und institutionellen Reformen ab, konkret geht es um die Bewältigung des demografischen Wandels und die Verbesserung der Rechts- und Regulierungssysteme. John Maynard Keynes sagte einst: «Auf lange Sicht sind wir alle tot.» China sollte sich also auf die kurz- und mittelfristige Zukunft konzentrieren und einige harte Massnahmen ergreifen.
Das Interview wurde am Rande des Swiss Economic Forum geführt, das von 5.‒6. Juni in Interlaken stattfand.