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«J’accuse…!»
Nils Melzer, photographié par Yves Bachmann.

«J’accuse…!»

Der Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange ist ein Sündenfall des modernen Rechtsstaates.
Der UN-Sonderberichterstatter für Folter klagt an.

Read the English version here.

Lisez la version française ici.

Es gibt im Leben Momente, aus denen man nur noch aufwachen möchte, wie aus einem Albtraum. So erging es mir, als ich mich in den Fall Julian Assange vertiefte, Schicht um Schicht, immer tiefer hinein in eine dunkle, bisher für unmöglich gehaltene Welt. Als UN-Sonderberichterstatter für Folter ist es meine Aufgabe, einem Verdacht auf Folter nachzugehen und von den betroffenen Staaten diesbezüglich Rechenschaft zu verlangen. Doch im Fall Julian Assange reagierte ich erst beim zweiten Anlauf. Ich dachte: Ein mutmasslicher Vergewaltiger, Hacker und russischer Spion, der sich der Justiz in der Botschaft Ecuadors entzieht, soll ein Folteropfer sein? Nach anfänglicher Skepsis wurde ich allerdings eines Besseren belehrt.

Vom Kämpfer für Transparenz zum Aussätzigen

Wenn man Julian Assanges Credo in einem Slogan zusammenfassen wollte, dann wohl am treffendsten mit den Worten: «Privatsphäre für Bürger – für Regierungen aber Transparenz!» Er hat über seine Plattform Wikileaks Hunderttausende geheimer Dokumente über Verfehlungen von Staaten und Unternehmen veröffentlicht, die ihm von anderen zugetragen worden sind. Die Enthüllungen gingen um die Welt: Es ging um Folter in Guantánamo, zivile Opfer in Afghanistan und Kriegsverbrechen im Irak.

Der makabre Höhepunkt war ein Video namens «Collateral Murder», auf welchem man in Originalton mitverfolgen kann, wie US-Soldaten aus einem Hubschrauber heraus in Bagdad mehr als ein Dutzend Menschen massakrieren, darunter zwei Reuters-Journalisten. Als ein Minibus neben den Verletzten hält, um sie zu retten, wird auch der Retter gezielt erschossen. Seine zwei Kinder überleben schwer verletzt. Die Soldaten feuern sich gegenseitig an, machen flapsige Bemerkungen, als wäre das Ganze ein Videospiel. Das Kriegsverbrechen ist nahtlos dokumentiert, einschliesslich seiner Vorsätzlichkeit, doch keiner der Verantwortlichen wurde je zur Rechenschaft gezogen. Das US-Militär will kein Fehlverhalten festgestellt haben. Für Julian Assange beginnt eine Odyssee.

Je mehr Puzzlesteine man im Fall Assange zusammenfügt, desto weniger kann man sich des Eindrucks einer gangsterhaften Verschwörung entziehen. Mit seiner kompromisslosen Verbreitung unangenehmer Wahrheiten hatte es sich Assange bald mit praktisch allen Eliten des weltweiten Establishments verdorben und sollte offenbar mundtot gemacht werden. Im Jahre 2012 veröffentlichte Wikileaks einen internen Mailwechsel von Stratfor, einer privaten US-Sicherheitsfirma, die auch als «Schatten-CIA» bezeichnet wird. Heute lesen sich diese Nachrichten wie das Drehbuch für das, was sich seither vor unseren eigenen Augen abgespielt hat. Insbesondere wurde damals empfohlen, Assange für die nächsten 25 Jahre mit allerlei Strafuntersuchungen von einem Land zum anderen zu treiben und damit in der Öffentlichkeit komplett zu desavouieren. Das ist den involvierten Staaten gelungen, und auch ich erlag zunächst dieser Propaganda. War Julian Assange im Jahre 2010 noch ein Kandidat für den Titel «Man of the Year» des «Time»-Magazins, bröckelte die Unterstützung nach den Vergewaltigungsvorwürfen rapide. Assange wurde vom Freiheitshelden zum Aussätzigen, den zu verteidigen plötzlich als unschicklich galt.

Das staatliche Mobbing beginnt…

Ende Juli 2010 veröffentlicht Wikileaks zusammen mit renommierten Zeitschriften wie «New York Times», «Guardian» und «Spiegel» brisante Dokumente zum Afghanistan-Krieg, das sogenannte «Afghan War Diary». Keinen Monat später melden sich zwei Frauen bei der schwedischen Polizei, ein Ereignis, welches zum Startschuss werden sollte für ein Jahrzehnt schwerster staatlicher Willkür und Verfolgung. Eine der Frauen sagt, sie habe mit Assange einvernehmlichen, aber ungeschützten Sex gehabt und mache sich Sorgen wegen einer möglichen HIV-Infektion.

Sie hofft, Assange mit Hilfe der Polizei zu einem Test bewegen zu können. Als die Polizei daraus einen Vergewaltigungsverdacht konstruieren will, unterbricht sie das Verhör und geht nach Hause, ohne das Protokoll zu unterzeichnen. Sie wolle Assange gar nichts vorwerfen, aber die Polizei wolle ihn offenbar «in die Finger kriegen», schreibt sie einer Freundin in einer Textnachricht (siehe Bild 1). Dennoch steht bereits Stunden später in der Zeitung, gegen Assange werde wegen doppelter Vergewaltigung ermittelt. Die zweite Frau wird allerdings erst am Folgetag überhaupt einvernommen. Überdies ist es in Schweden verboten, während der Unter­suchung von Sexualdelikten die Namen des Verdächtigten oder der Opfer zu veröffentlichen.

 

Bild 1: Auszüge aus der Abschrift der SMS durch Julian Assanges Anwälte
 Die Schwedinnen «SW» und «AA» wollten Assange gar nicht wegen Vergewaltigung anzeigen, doch die Polizei «war scharf darauf, ihn in die Finger zu kriegen», und erfand Beschuldigungen (Quelle: Stellungnahme von Julian Assange zu den schwedischen Vergewaltigungsvorwürfen in der ecuadorianischen Botschaft in London vom 14./15.11.2016, Randnummer 88).Den Anwälten von Assange wurde die Gelegenheit gegeben, die Inhalte der SMS der schwedischen Frauen mit Erlaubnis der schwedischen Staatsanwaltschafteinzusehen und zu transkribieren. Assange zitiert aus dem Transkript seiner Anwälte.

Was sich danach innert weniger Wochen an Verfahrensverletzungen ansammelt, ist geradezu grotesk: Eine erste Staatsanwältin stellt die Voruntersuchung wegen Vergewaltigung mit der Feststellung ein, sie halte die Aussagen der Frau zwar für glaubwürdig, doch gäben diese keinerlei Hinweise auf ein Delikt. Die beiden Frauen hatten Assange gar nicht wegen Vergewaltigung anzeigen wollen (Bild 2). Darauf wird das Einvernahmeprotokoll dieser Frau von der schwedischen Polizei ohne neues Verhör umgeschrieben und auf dieser Basis das Verfahren von einer anderen Staatsanwältin wiederaufgenommen. Assange bleibt danach noch drei Wochen lang in Schweden und meldet sich mehrfach bei der Staatsanwaltschaft mit dem Begehren, zu den Vorwürfen persönlich Stellung nehmen zu dürfen. Dies wird ihm systematisch verweigert, einmal wegen angeblichen Zeitmangels, einmal wegen krankheitsbedingter Abwesenheit des verantwortlichen Polizeikommissars.

Bild 2: Fortsetzung der Auszüge
Die gegenseitigen SMS der beiden Frauen im Nachgang der Befragung durch die Polizei: Man erwägt, das Missverhalten der Polizei öffentlich zu machen und die Story an eine Zeitung zu verkaufen; «AA» schreibt an «SW», dass ihr Anwalt mit der grössten schwedischen Boulevardzeitung in Verhandlungen sei. (Quelle: s.o.)

Bevor Assange ausreist, holt er die Bewilligung der Staatsanwältin ein. Dennoch erlässt diese noch am Tag seiner Abreise einen Haftbefehl wegen Fluchtversuchs. Inzwischen wurde in den USA ein geheimes Verfahren gegen Assange eingeleitet. Von London aus bietet Assange der schwedischen Staatsanwaltschaft mehrfach an, zur Nachholung seiner Befragung persönlich nach Schweden zu kommen, sofern ihm die Zusicherung gegeben werde, dass er nicht an die USA ausgeliefert werde (siehe Bild 3 und 4).

Bild 3: Aufzählung der Kontaktangebote von Assange an Schweden
Assange bot Schweden mehrfach an, auszusagen, wurde aber nie einvernommen. Er reiste mit Erlaubnis der Staatsanwalt-schaft nach London aus, am Flughafen wurden noch drei seiner krypto-grafisch gesicherten Laptops beschlagnahmt. (Quelle: s.o., Randnummer 12)

 

Bild 4: Fortsetzung der Aufzählung
Assange bietet sogar an, nach Schweden zu reisen, wenn ihm die Zusicherung gegeben werde, dass er nicht an die USA ausgeliefert werde. (Quelle: s.o.)

Entgegen gängiger internationaler Praxis wird ihm dies von Schweden systematisch verweigert. Assanges nun wachsende Skepsis ist durchaus berechtigt, denn die schwedische Sicherheitspolizei hatte einige Jahre zuvor zwei in Schweden registrierte Asylbewerber ohne jedes Verfahren an die CIA überstellt, die sie dann in Ägypten foltern liess.1

…und wird zu einem abgekarteten Spiel

Als Grossbritannien ihn dennoch an Schweden ausliefern will, beantragt – und erhält – Assange diplomatisches Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London. Dort wird er offenbar auf Geheiss der CIA von einer spanischen Sicherheitsfirma überwacht, mit einer Wanze selbst auf der Damentoilette. Alle seine Gespräche werden systematisch abgehört und aufgezeichnet, mit Vertrauten, Freunden, Anwälten und sogar Ärzten. Das unter finanziellem Druck stehende Ecuador opfert Assange letztlich für einen IWF-Kredit in Höhe von 4,2 Mrd. Dollar: Nach einem Machtwechsel und fast sieben Jahren Botschaftsasyl entzieht ihm der neue Präsident die von seinem Vorgänger erteilte Staatsangehörigkeit und löst den Asylstatus auf – und zwar beides ohne jedes rechtsstaatliche Verfahren.

Die britische Polizei nimmt ihn fest, und es kommt noch gleichentags zu einer Aburteilung im Schnellverfahren, weil Assange durch seine Flucht in die ecuadorianische Botschaft britische Kautionsbedingungen verletzt habe. Obwohl der Erhalt von diplomatischem Asyl eigentlich einen automatischen Rechtfertigungsgrund darstellen sollte, kann sich die Richterin keine schwerere Kautionsverletzung vorstellen. Was normalerweise höchstens mit einer Busse oder ein paar Tagen Haft bestraft wird, ist ihr im Fall Assange daher 50 Wochen Haft wert.

Allein die Umstände dieser Verurteilung sind absurd. Man stelle sich das einmal vor: Assange wird nach fast sieben Jahren gewaltsam aus der Botschaft gezerrt, noch gleichentags völlig verstört dem Richter vorgeführt, hat keine 15 Minuten, um sich mit seinem Anwalt zu besprechen, und wird in einer ebenfalls 15minütigen Verhandlung von einem Richter verurteilt, der ihn ohne Anlass als «Narzissten» beschimpft und es ablehnt, einen vom Strafverteidiger förmlich erhobenen Einspruch wegen Befangenheit einer involvierten Richterin auch nur entgegenzunehmen – Wiki­leaks habe in 35 Fällen Dokumente zu fragwürdigen Geschäften ihres Ehemannes veröffentlicht.

Je länger man den Fall untersucht, je mehr Akten man sichtet, desto deutlicher wird der Eindruck eines abgekarteten Spiels: die geballte Macht von vier Staaten gegen eine Einzelperson. Die britische Anklagebehörde drängte die schwedische Staatsanwältin, das Verfahren bloss nicht einzustellen: «Don’t you dare get cold feet!!» Auf unverblümten Druck des US-Repräsentantenhauses in einem Schreiben vom 16. Oktober 2018 («It will be very difficult for the United States to advance our bilateral relationship until Mr. ­Assange is handed over to the proper authorities») ermöglichte Ecuador den Briten schliesslich den Zugriff auf Assange (siehe Bild 5).

Bild 5: Brief an den Präsidenten von Ecuador
Die USA loben Ecuador für seine «Fortschritte», bieten Vorteile und machen deutlich, dass der Aufbau «warmer Beziehungen» von Assanges Auslieferung abhänge.
(Quelle: Schreiben des US-Repräsentantenhauses vom 16.10.2018 an den ecuadorianischen Präsidenten
Lenín Moreno).

Die USA wiederum verlangen die Auslieferung aus Gross­britannien, sie drohen Assange mit 175 Jahren Haft, davon 170 Jahre wegen «Spionage» aufgrund eines Gesetzes von 1917, das bisher noch nie gegen einen Publizisten angewandt worden ist.

Aus einem Frontalangriff auf den Rechtsstaat droht so auch noch gleich ein Todesurteil für die Pressefreiheit zu werden. Denn sobald sich dieser Präzedenzfall etabliert hat, kann jeder Journalist, Publizist oder Intellektuelle dieser Welt theoretisch an die USA ausgeliefert werden, sobald er Informationen veröffentlicht, welche die US-Regierung lieber geheim halten würde – und die anderen Grossmächte werden nicht lange zögern, dem amerikanischen Beispiel zu folgen. Wenn die Enthüllung von Machtmissbrauch einmal zum Verbrechen geworden ist, dann ist auch die Pressefreiheit aufgehoben, die Straflosigkeit der Mächtigen sanktioniert und der altbekannte Geist des Unrechtsstaates wieder einmal aus der Flasche entwichen.

Psychologische Folter im Hochsicherheitsgefängnis

Als Völkerrechtsexperte und UN-Sonderberichterstatter für Folter bin ich mandatiert, einen Fall objektiv zu untersuchen, Fakten zu überprüfen und jedem Verdacht auf Folter nachzugehen. In dringenden Fällen kann ich innert 24 Stunden direkt beim Aussenminister jedes UN-Mitgliedstaates intervenieren. Da Regierungen ihr Verhalten in der Regel gerne als rechtmässig darstellen, wird auf meine Interventionen und Fragen meist detailliert eingegangen, zumindest was die sogenannten «reifen Demokratien» betrifft.

Doch im Fall Assange scheint der Rechtsstaat in einer Art Schockstarre gelähmt zu sein. Assange ist im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London inhaftiert, zusammen mit gewalttätigen Schwerstverbrechern. Den grössten Teil seiner Haft hat er bisher in fast kompletter Isolation verbracht, 22 bis 23 Stunden pro Tag in einer Einzelzelle, ohne jeden Kontakt mit anderen Häftlingen und mit extrem eingeschränktem Zugang zu Anwälten und prozessrelevanten Unterlagen.

Als mich seine Anwälte um eine offizielle Intervention baten, winkte ich zunächst ab, denn ich war von denselben Vorurteilen gegenüber Assange vergiftet wie die breite Öffentlichkeit. Und so reagierte ich erst im zweiten Anlauf, nachdem mir überzeugende Beweismittel vorgelegt worden waren, und besuchte Assange schliesslich im Mai 2019 mit zwei auf die Untersuchung von Folteropfern spezialisierten Ärzten. Es handelt sich um den Psychiater Dr. Pau Pérez-Sales und den Forensiker Professor Duarte Nuno ­Vieira, die beide seit Jahrzehnten mit Folteropfern arbeiten. Beide sind weltweit anerkannte Experten und Autoren einschlägiger Werke und hatten keinerlei Interesse, ihre Glaubwürdigkeit mit ­gewagten Thesen aufs Spiel zu setzen.

Im persönlichen Gespräch erinnerte mich Assange sofort an politische Gefangene, die ich überall auf der Welt in Isolationshaft besucht hatte. Auch die beiden Ärzte, die Assange je getrennt voneinander untersuchten, kamen beide zum gleichen Schluss: Julian Assange zeigte typische Anzeichen langdauernder psychologischer Folter. Psychologische Folter ist genauso schädlich wie körperliche Folter, ist aber besonders perfide, weil sie von aussen oft nicht als Folter wahrgenommen wird. Sie zielt jedoch direkt auf die Zerstörung der Identität und der mentalen Widerstandsfähigkeit des Opfers, mit oft irreparablen Langzeitschäden.

Typische Anzeichen für langdauernde psychologische Folter sind messbare kognitive und neurologische Beeinträchtigungen, Sprünge und Lücken in der Gedankenführung, permanente Angstzustände, Rastlosigkeit sowie fehlende Konzentration und Koordinationsschwierigkeiten. Auch wenn die genaue Diagnose unter die ärztliche Schweigepflicht fällt, muss man sich psychologische Folter wie einen konstanten Panikzustand vorstellen: Die Gedanken rasen, können keinen Orientierungspunkt finden, Angst und Schlaflosigkeit stellen sich ein sowie Gefühle der totalen Willkür, des Kontrollverlusts und des Ausgeliefertseins. Zum Schluss ist das Opfer mental und emotional gebrochen, versinkt in teilnahmsloser Apathie, der sogenannten «erlernten Hilflosigkeit», oder begeht sogar aus Verzweiflung Selbstmord.

Jede Folter hat im Kern dasselbe Ziel: den Willen des Opfers zu brechen und demjenigen des Folterers zu unterwerfen. Dabei muss es nicht notwendigerweise um die Erzwingung eines Geständnisses gehen, Ziel kann auch einfach die Einschüchterung Dritter sein, wie im Fall Assange. Der Zweck seiner Misshandlung ist es, der ganzen Welt im Zeitlupentempo vorzuführen, was diejenigen erwartet, die die schmutzigen Geheimnisse mächtiger staatlicher ­Akteure ans Tageslicht ziehen. Assange wird verhöhnt, verspottet und missbraucht, und seine Grundrechte werden mit Füssen getreten, während die von ihm enthüllten Verbrechen ungesühnt bleiben. Die Botschaft ist klar: Wer sich erdreistet, die Privilegien der Mächtigen ernsthaft zu gefährden, wird öffentlich entrechtet, an den Pranger gestellt und zu Tode gequält – ganz wie im euro­päischen Mittelalter.

Ein moderner Schauprozess

Der Fall Julian Assange ist nichts anderes als ein moderner Schauprozess: Politisch motivierte Staatsanwälte, Rechtsverweigerung, manipulierte Beweise, befangene und voreingenommene Richter, unrechtmässige Überwachung, Verweigerung der Verteidigungsrechte und missbräuchliche Haftbedingungen – was wie ein Lehrbuchbeispiel diktatorischer Willkür klingt, ist in Wahrheit ein realer Präzedenzfall mitten in Europa, der Geburtsstätte der Menschenrechte.

Zudem mache ich mir keinerlei Illusionen, was die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens betrifft, welches Assange in den USA zu erwarten hätte. Wie alle anderen Spionageangeklagten würde er in Alexandria (Virginia) abgeurteilt, wo die Mehrheit der Bevölkerung bei den Geheimdiensten, dem Verteidigungsdepartement und bei Rüstungsfirmen angestellt ist, so dass auch die dort ausgewählten Geschworenen von vornherein zugunsten der Anklage voreingenommen sind. Diese Verfahren werden immer von der gleichen Einzelrichterin geleitet, hinter verschlossenen Türen und aufgrund geheimer Beweise abgeurteilt und haben noch nie zu einem Freispruch geführt. Wer nicht geständig ist, wird drakonisch bestraft. Assange drohen in den USA geradezu absurde 175 Jahre Haft – und zwar nicht etwa für eine schreckliche Gewalttat, sondern einzig dafür, dass er der amerikanischen Staatsmacht schwerste Verbrechen nachgewiesen hat. Die enthüllten Kriegsverbrechen hingegen bleiben straflos, einschliesslich systematischer Folter und Massaker an Zivilisten, Verwundeten und Gefangenen.

Was mich erschreckt, ist, mit welcher Nonchalance und Selbstgerechtigkeit Staaten wie Schweden und Grossbritannien auf meine Berichte reagieren und konkrete Antworten schlicht verweigern, und mit wie viel Achselzucken in der Öffentlichkeit, Presse und in der Politik lange Zeit über den Fall Assange hinweggegangen worden ist.

In Wirklichkeit werden in diesem Fall jedoch systemische Dysfunktionalitäten sichtbar, welche unsere westlichen Rechtsstaaten als «Schönwetterdemokratien» erscheinen lassen, wo der Rechtsschutz nur insoweit gilt, als die Machenschaften der Mächtigen nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. In allen vier involvierten Staaten – Schweden, Grossbritannien, den USA und Ecuador – zeigt sich das Rechtssystem bereits zehn Jahre lang ausserstande, schwere staatliche Missbräuche zu verhindern oder zu korrigieren und Julian Assange ein auch nur annähernd faires Verfahren zu bieten. Der Fall Assange muss daher endlich für das erkannt werden, was er ist: ein totalitärer Frontalangriff auf die Rechtsstaatlichkeit und die Pressefreiheit, ohne die eine gelebte Demokratie nicht möglich ist. Wenn wir nicht bald in einer weltweiten Diktatur aufwachen wollen, müssen wir uns endlich den Schlaf aus den Augen reiben!


Die im Artikel genannten Dokumente finden Sie hier im Volltext:

Full Statement Julian Assange

Letter USA – Ecuador

 Declaration given by the public prosecutor’s office concerning the SMS

Alle Dokumente zum Ausdrucken hier:

Alle Dokumente zum Download

  1. Es handelt sich um die Fälle: UN Committee against Torture, Agiza v. Sweden, CAT/C/34/D/233/2003, (tbinternet.ohchr.org) und UN Human Rights Committee, Alzery v. Sweden, CCPR/C/88/D/1416/2005 (tbinternet.ohchr.org).

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