Trump sitzt im Zollstreit
am längeren Hebel
Unter der Lupe der Spieltheorie betrachtet, agiert Trump in der Handelspolitik als «Bully». Ist sein Verhalten irrational?

In wenigen Monaten kann viel bewirkt werden, auch viel Negatives. Gefasst waren wir beim alten neuen US-Präsidenten Donald Trump auf vieles, und trotzdem wurden wir überrascht ‒ zuletzt von der Höhe und der Härte des Anfang April beschlossenen Zollpakets. Dieses ist für die meisten Staaten bereits wieder sistiert. Ob das morgen noch gilt, wissen wir heute nicht. Die einzige Konstante scheint momentan die Vergangenheit zu sein. Deshalb nehmen wir die bald ersten 100 Tage der Trump-Administration zum Anlass, ihre Zollpolitik in der Retrospektive verhandlungstheoretisch einzuordnen. Wir bedienen uns dabei der Spieltheorie, um Fragen der Ziele, Massnahmen und der Rationalität in Verhandlungen in einen breiteren Zusammenhang zu stellen.
Mit der Spieltheorie können strategische Entscheidungssituationen analysiert und modelliert werden. Dabei geht es immer um Einschätzungen, die die Parteien in Abhängigkeit von Annahmen über Verhaltensweisen anderer treffen. Zwei zentrale Annahmen, die jedem spieltheoretischen Modell zugrunde liegen, sind die Rationalität der Parteien und das damit zusammenhängende Bestreben eines jeden, den eigenen Nutzen – so wie er ihn selbst definiert – zu maximieren. Gemäss dem in der Spieltheorie vorherrschenden Rationalitätsverständnis ist eine Partei dann rational, wenn sie sich für jene Massnahmen entscheidet, mit denen sie ihr Ziel unter den gegebenen Umständen am besten erreichen kann.1 Das Ziel selbst wird nicht hinterfragt. Es ist nicht Gegenstand der Rationalitätsdiskussion. Es braucht auch nicht moralisch oder rechtlich vertretbar zu sein.
Zur Rationalität
Um Trumps Verhalten also spieltheoretisch analysieren zu können, müssen wir uns zuerst über seine Rationalität klarwerden. Diese wäre dann zu verneinen, wenn er sich im Widerspruch zu seinen eigenen Zielsetzungen verhalten würde. Aber was genau sind Trumps handelspolitische Ziele? Ist Disruption des Systems sein Ziel? Oder will er einfach Arbeitsplätze in die USA holen? Wir reduzieren in unserer Analyse Trumps Ziel auf das Führen von Verhandlungen.
Nach diesem Verständnis strebt Trump Verhandlungen über die Reduktion von Handelsbilanzüberschüssen an. Er will also jene Staaten an den Verhandlungstisch bringen, die mehr in die USA exportieren als von dort importieren, und sie dazu veranlassen, den Überschuss auf die eine oder andere – auch sachfremde – Art auszugleichen. Angenommen also, dies sei sein Ziel, kann es dann als zielführend beziehungsweise als rational betrachtet werden, wenn Trump die Importzölle erhöht? Wir meinen ja.2 Als Reaktion auf den angekündigten Zollhammer standen die davon betroffenen Staaten vor dem Weissen Haus Schlange, um den Dialog aufzunehmen. Dies, weil zum einen das Szenario der hohen Zollsätze für sie zu kostspielig gewesen wäre – Nichtstun also keine Alternative war – und zum anderen Gegenmassnahmen vielen Ländern zu grosse Schäden zugefügt hätten. Auch wenn Gegenmassnahmen von einigen beschlossen wurden, wollte man deren Umsetzung eigentlich vermeiden. Und somit blieb, mit Ausnahme Chinas, die Verhandlung für viele die einzige Handlungsoption. Warum ist das so? Wie kann Trumps Verhalten spieltheoretisch erklärt werden?
«Chicken Game» oder «Bully Game»?
Häufig wird geschrieben, dass sich dazu das sogenannte «Chicken Game» («Feiglingsspiel») gut eigne – eines der berühmtesten Spiele der klassischen Spieltheorie. In der adaptierten Version geht es um ein potentiell tödliches «Spiel» zwischen zwei Rowdys. Diese rasen mit ihren Autos auf einer engen Strasse aufeinander zu. Beide können entweder «ausweichen» oder «nicht ausweichen». Wer zuerst «ausweicht», gilt allerdings als Feigling. Entscheiden sich beide, «nicht auszuweichen», kommt es zum Unfall mit Todesfolge. Beide verlieren maximal.
«Die USA, in der Bully-Rolle, setzen sich durch, weil sie die Mächtigeren sind und ihren Willen dem Gegenspieler aufdrängen können. So lässt sich relativ einfach verhandeln, es braucht abgesehen von der Skrupellosigkeit keine besonderen Fähigkeiten.»
Im übertragenen Sinn bildet das «Chicken Game» Konfliktsituationen ab, in denen es den Parteien zwar am meisten schadet, wenn beide nicht kooperieren, aber keiner zuerst einlenken möchte, da der andere damit gewinnen würde und man selbst relativ schlecht wegkäme. Solche Ausgangslagen sind in der Realität häufig anzutreffen. Das «Chicken Game» ist zur Verhaltenserklärung immer dann geeignet, wenn die Machtverhältnisse der Parteien in etwa gleich gross sind. Von China abgesehen, sind im gegenwärtigen Handelskonflikt aber die meisten Handelspartner gegenüber den Amerikanern in einer schwächeren Position. Für diese Fälle ist das «Chicken Game» nicht aussagekräftig. Hier gibt es ein zweckmässigeres Spiel, das die aktuelle Situation besser abbildet: Es heisst «Bully» – der Name ist Programm. Die USA, in der Bully-Rolle, setzen sich durch, weil sie die Mächtigeren sind und ihren Willen dem Gegenspieler aufdrängen können. So lässt sich relativ einfach verhandeln, es braucht abgesehen von der Skrupellosigkeit keine besonderen Fähigkeiten (siehe Kasten).
«Tit for Tat»
Aufgrund neuer Elemente und falsch getroffener Annahmen nahm Trump nur wenige Tage nach Bekanntgabe einen Kurswechsel vor: Er sistierte die Extrazölle für 90 Tage, mit Ausnahme jener Chinas. Spieltheoretisch kann dieser Schritt mit der sogenannten «Tit for Tat»-Strategie («wie du mir, so ich dir») erklärt werden. Diese Strategie, die in jedem Spiel angewendet werden kann, wurde vom ukrainisch-amerikanischen Mathematiker Anatol Rapoport entwickelt und basiert auf der Analyse eines wiederholten «Gefangenendilemmas». Bei diesem, dem bekanntesten aller Spiele der Spieltheorie, geht es um jene Situation, in der alle in einer Kooperation mehr gewinnen würden, als wenn sie einzeln vorgingen. Da aber für jeden Einzelnen ein Anreiz besteht, aus der Kooperation auszubrechen, sind am Schluss die verbleibenden Kooperationswilligen schlechtergestellt. Rapoport konnte in einem vielbeachteten Computersimulationsexperiment nachweisen, dass seine «Tit fot Tat»-Strategie auf lange Frist die beste ist: Man kooperiert, solange der andere dies auch tut, ansonsten kooperiert man ebenfalls nicht.
«Im Spiel mit China ist zu befürchten, dass die Eskalation nicht zu Ende ist und dass die beiden ungefähr gleich mächtigen Rivalen ein ‹Chicken Game› spielen wollen.»
Nachdem Trump die Zölle massiv erhöht und damit die Kooperation im bis dahin geltenden Handelssystem beendet hatte, zogen grosse Handelspartner (insbesondere die EU) nach, liessen aber die Türe offen für Verhandlungen, indem sie in konstruktiver Weise weniger scharfe Gegenmassnahmen ergriffen. Worauf Trump wiederum mit einer Reduktion seiner Zölle reagierte. Vielleicht hat sich Trump damit intuitiv auf eine Version der Rapoport’schen Strategie eingelassen. Dies könnte ein Lichtblick sein.
Im Spiel mit China ist allerdings zu befürchten, dass die Eskalation nicht zu Ende ist und dass die beiden ungefähr gleich mächtigen Rivalen vielmehr ein «Chicken Game» spielen wollen: Wer die Eskalation zuerst abbricht, gilt als Feigling. Keiner der beiden scheint sich dies im Moment erlauben zu können oder zu wollen. Daher hört der Konflikt wohl nicht so schnell auf, mit ungewissem Ausgang.
Der Stärkere setzt sich durch
Was bedeutet die Analyse von «Chicken Game», «Bully Game», «Tit for Tat» und «Gefangenen-dilemma» nun konkret? Trump hat sich als mächtiger und unangenehmer Bully inszeniert. Damit hat er sein Ziel erreicht und wird in den kommenden Verhandlungen viel einfordern können. Die meisten Staaten werden sich angesichts seiner Skrupellosigkeit kompromissbereit zeigen «wollen». Trump kann seinen – eng definierten – Nutzen maximieren. Diesen kann er primär innenpolitisch ausschlachten. Ob der Nutzen auch einen volkswirtschaftlichen Gewinn für die USA darstellt, ist allerdings mehr als fraglich. Der Nutzen der anderen – weniger mächtigen – Staaten besteht lediglich darin, dass sie mit ihrer Verhandlungsbereitschaft den grösstmöglichen Schaden abwenden konnten (siehe Kasten).
Wer also am längeren Hebel sitzt und dies brutal gegen jeden Anstand auszunützen weiss, kann gewinnen. Trump wird gesichtswahrend sagen können, dass er «die Fairness» wiederhergestellt habe. Demgegenüber könnten kooperationswillige Staaten die aktuelle Situation zum Anlass nehmen, ihre Bemühungen für eine Reform des multilateralen Systems – vor allem Welthandelsorganisation und UNO-Sicherheitsrat – voranzutreiben, damit das negative Vorgehen der USA am Schluss vielleicht doch noch etwas Positives bewirken kann.
«Bully Game»
Das in der Spieltheorie «Bully» genannte Spiel lässt sich (gemäss der «Topology of the 2×2 Games») in der klassischen Form wie folgt darstellen:3
Die obige Matrix enthält Auszahlungen (Payoffs): Wenn Spieler 1 (S1) beispielsweise die Strategie a spielt und Spieler 2 (S2) die Strategie c, dann erhält S1 eine Auszahlung von 1, S2 eine Auszahlung von 4. Diese Zelle (a, c) wird dann als Strategiekombination bezeichnet.
Das «Bully Game» hat ein sogenanntes «Nash-Gleichgewicht» in der Strategiekombination (b, d), also dort, wo die Auszahlungen für S1 4 und für S2 2 sind. In dieser Zelle lohnt es sich für beide Spieler nicht, ohne Absprache mit dem anderen eine andere Strategie zu wählen. So würde es sich für S1 nicht lohnen, alleine auf a, und für S2 nicht, alleine auf c zu wechseln. In beiden Fällen hätten sie dann schlechtere Auszahlungen.
Im «Bully-Spiel» ist die Differenz zwischen den Auszahlungen im Nash-Gleichgewicht (4, 2) maximal, nämlich 4 – 2 = 2. Aufgrund dieser maximalen Differenz wird es zu den «unfairen» Spielen gezählt. S1 ist der Bully; er erhält die maximale Auszahlung von 4, während S2 nur 2 erhält. Mit b verfügt S1 dabei über eine sogenannte dominante Strategie: b gibt S1 immer eine höhere Auszahlung, als wenn er a spielen würde, unabhängig davon, was S2 spielt (3 > 1 beziehungsweise 4 > 2). (S2 hat keine dominante Strategie, d.h. weder c noch d geben immer eine bessere Auszahlung.)
Damit kann S1 dem S2 seinen Willen aufdrängen, welcher nur noch die bessere (d) seiner beiden schlechten Strategien wählen kann. Würde S2 c wählen, könnte er zwar S1 bestrafen (der 1 verlöre), S2 würde dafür aber mit der tiefsten Auszahlung von 1 den höchsten Preis bezahlen. Also wird er es nicht machen und beide enden im «Bully»-Nash-Gleichgewicht, dem Ausgang dieses Spiels.
Die hier verwendete Definition geht im Wesentlichen auf jene von John von Neumann, dem ETH-Alumnus und eigentlichen Vater der Spieltheorie, zurück. Ein Individuum ist dann rational, wenn (u.a.) die Ordnung seiner Präferenzen transitiv ist. Verkürzt und übersetzt in die Alltagssprache: Die Massnahmen zur Erreichung seines Ziels sind widerspruchsfrei. Rationalität setzt nach dieser Definition kein ethisches oder rechtmässiges Verhalten voraus. Dementsprechend können auch Terroristen rational sein, vorausgesetzt, sie verfolgen ihre (verbrecherischen) Ziele auf konsistente Weise. ↩
Bezüglich seiner übergeordneten MAGA-Zielsetzung mag die Voraussetzung der Widerspruchsfreiheit der gewählten Massnahmen nicht mehr gegeben sein. Denn die Massnahme «Zollpolitik» könnte den längerfristigen politischen und wirtschaftlichen Interessen widersprechen, indem sie das Vertrauen in die USA wohl beeinträchtigen wird. ↩
Tabelle mit 144 strikt ordinalen Spielen. David Robinson und David Goforth. The Topology of the 2×2 Games: A New Periodic Table. London: Routledge, 2005. ↩