Kaukasischer Käfigtiger
Nach der Unabhängigkeit hat Armenien ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum erlebt. 2008 kam es zu einem Ende: Der Motor der euphorisch als «Tiger» bezeichneten Ökonomie stottert heute stark. Ob ein neuer Durchbruch möglich ist, entscheiden die Bürger.
Am Rande des Kaukasus und entlang der Seidenstrasse liegt ein kleines Land. Was rosig anhebt, ist aber ganz und gar nicht märchenhaft, denn das Land ist klein und eingeschlossen. Armenien hatte geopolitisch betrachtet bis anhin vor allem eines: viel Pech. Mit Aserbaidschan befindet sich das Land immer noch im Krieg um die Region Berg-Karabach; die Grenze zur Türkei ist geschlossen, offen sind nur die Wege nach Georgien und in den Iran. Die zerrissene Region zwischen Asien und Europa hat die verschiedensten Imperialmächte kommen und gehen sehen. Wie aber hat sich Armenien seit seiner jüngsten Unabhängigkeit 1991 aufgestellt und entwickelt?
Die Zahlen
Die Bevölkerung Armeniens beträgt in etwa 3 Millionen. Etwa ein Drittel dieser Menschen lebt auf dem Land, immer mehr zieht es ins Ausland. Die Nettoabwanderung betrug zwischen 2008 und 2012 durchschnittlich 3,2 Prozent, nicht nur wegen der weit verbreiteten Arbeitslosigkeit, aber vor allem. Das bedeutet, dass die Bevölkerung beständig schrumpft, besonders jener Teil im arbeitsfähigen Alter.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Armeniens betrug 2013 in etwa 10 Milliarden US-Dollar, jenes der Schweiz im selben Jahr war 62mal grösser1. Ein Jahr davor kletterte die Wachstumsrate Armeniens auf 7,4 Prozent. Doch bereits 2014 fiel sie wieder auf 3,4 Prozent – der Bausektor erlebte eine Rezession und Russland litt unter der schlechten Wirtschaftslage.
Mengenmässig sind die drei wichtigsten Exportklassen des Landes: Schlacke und Asche; Getränke und Spirituosen; Perlen, Edelsteine und Schmuck-Imitate. Diese Exportgüter machen fast die Hälfte des Exportvolumens aus.
2013 importierte das Land doppelt so viel, wie es exportierte. Dieses Defizit in der Zahlungsbilanz muss irgendwie finanziert werden. Darin hängt Armenien massgeblich von ausländischen Direktinvestitionen, von Entwicklungshilfegeldern und allen voran von Geldüberweisungen aus dem Ausland ab. Letztere machten 2013 einen Viertel des gesamten BIPs aus und heben die grosse Diaspora in den Rang eines Hauptwirtschaftspfeilers. Schätzungsweise 7 bis 8 Millionen Armenier leben im Ausland, vor allem in Russland, in den USA und in Frankreich. Ihr finanzieller Beitrag wächst angesichts des schwachen privaten Sektors nur noch.
Die Sektoren
Wer sich die Arbeitsproduktivität Armeniens ansieht, weiss: der Staat ist nicht wettbewerbsfähig. Die schmale Wirtschaftsbasis setzt sich aus einer Handvoll grossen und mittelgrossen Firmen und einer Unmenge an kleinen und Mikrofirmen zusammen. Gerade mal 4 Prozent aller Unternehmen lassen sich zu den grossen Firmen zählen, diese allerdings erwirtschaften zusammen 71 Prozent der vom Privatsektor erzielten Wertschöpfung. Die mittelgrossen Unternehmen spielen dagegen in Sachen Beschäftigung und Wertschöpfung eine marginale Rolle. Was bleibt also übrig? Es sind die Mikrofirmen, die 80 Prozent aller registrierten Firmen ausmachen und deren Hauptaktivität im Handel besteht.
Die Schwäche des privaten Sektors lässt sich auch auf die Bedeutung der informellen Wirtschaft zurückführen, die sich hauptsächlich aus dem Agrarsektor speist. Mehr als die Hälfte aller Arbeitskräfte ist in nicht registrierten Jobs tätig, trägt aber gemäss dem IWF nur 35 Prozent zum armenischen BIP bei. Der informelle Sektor Armeniens beschäftigt mit anderen Worten am meisten Menschen – vor allem auf eigene Rechnung arbeitende und unbezahlte Familienmitglieder. Die Produktivität des informellen Sektors ist etwa 5mal geringer als die des formellen.
Wachstumshemmend ist auch der Mangel an Führungskräften, professionellen Buchhaltern und Finanzleuten. Banken zum Beispiel vertrauen den Firmenbuchhaltern nicht und überprüfen die Bücher ihrer Kunden selbst, was die Kreditkosten in die Höhe treibt.
Verpasste und aussichtsreiche Chancen
Der Grund, weshalb Armenien der Wandel nur bedingt gelingt, ist aber wohl eher darin zu suchen, dass das Land zwar, ebenso wie andere postkommunistische Länder, die alten sowjetischen Richtlinien über Bord geworfen hat, es allerdings versäumt hat, neue durchzusetzen, die dafür sorgen könnten, dass das Land an der globalisierten Wirtschaft teilnehmen könnte. Ohne diese bleibt die Auswanderungsquote auch bis auf weiteres hoch.
Während der Sowjetzeit war Armenien hochindustrialisiert und auf den High-Tech-Sektor spezialisiert. Das verschaffte dem Land ein grosses Humankapital, dessen Nachwirkungen heute noch zu spüren sind. Der IT- und der Kommunikationssektor zählen denn auch weiterhin zu den florierendsten Branchen des Landes. Ausserdem ist ein grosser Teil der Diaspora im Silicon Valley beschäftigt. Diese Auswanderer überweisen nicht nur Geld und investieren in das Land, sie liefern auch ein gewisses Know-how. So konnte sich in Jerewan eine aufstrebende Start-up-Szene etablieren. Und auch im Landwirtschaftssektor tut sich was: Befand er sich vor fünf Jahren noch in katastrophalem Zustand, zieht er heute Investitionen in den Bereichen Produktion und Verarbeitung an.
Die Entwicklungsprogramme haben geholfen, den Zugang zu Finanzierung zu erleichtern und die Infrastruktur zu verbessern. Auch der Tourismus- und der Dienstleistungssektor wachsen. Die Mitgliedschaft Armeniens in der Eurasischen Wirtschaftsunion hat die alten Handelswege, die viele Geschäftsleute noch von früher kennen, wiederbelebt und wird in den nächsten Jahren einen grossen Absatzmarkt für Nahrungsexporte darstellen.
Um von diesen «komparativen Vorteilen» zu profitieren, reicht es aber nicht, die Wirtschaft zu reformieren und dabei das politische System aussen vor zu lassen. Denn das ist das Rezept, dem das Land im gesamten letzten Jahrzehnt gefolgt ist.
Der Reformprozess
Armenien hat in den letzten Jahren verschiedene Massnahmen ergriffen, um seine wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu modernisieren. Die armenischen Reformen waren nicht so ambitioniert wie die georgischen, aber immerhin ist es für Firmen heute einfacher, sich zu registrieren und legal zu geschäften.
Die Reformen haben jeden Aspekt der wirtschaftlichen Entwicklung verändert. Die Regierung hat eine Reihe von E-Gouvernement-Dienstleistungen wie beispielsweise elektronische Steuererklärungen entwickelt. Auch das Konkursverfahren ist vereinfacht worden. Im Jahre 2000 wurden ein Förderprogramm für den Wachstum kleiner und mittelständischer Unternehmen sowie entsprechende Behörden geschaffen. Diese wurden allerdings nie einer Revision unterzogen, sondern wurden in Betrieb genommen und sich selbst überlassen. Gerade diese Praxis zeigt deutlich, wie verschiedene Wege Armenien und Georgien eingeschlagen haben. Georgien wählte den Liberalismus, verringerte den staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft und setzte im Kontext der politisch-gesellschaftlichen Revolution eine liberale Agenda durch. Im Gegensatz dazu reformierte Armenien seine Wirtschaft, ohne das politische System zu ändern.
Wandel mit Umwegen
Trotz zahlreicher Reformen belegt Armenien in puncto Vertragssicherheit immer noch einen der hinteren Plätze auf den entsprechenden Ranglisten. Es ist die gleiche alte Geschichte wie in anderen Schwellenländern, in denen die administrativen Barrieren für lokale Geschäfte zwar vereinfacht wurden, der institutionelle Rahmen aber weiterhin fragil bleibt und soziale Barrieren bestehen bleiben.
Davon zeugt beispielsweise die Korruption. Armenien verabschiedete eine Strategie, um gegen Geldwäsche und Korruption vorzugehen, entwickelte ein neues Wahlgesetz und ein neues Gesetz zum öffentlichen Dienst und setzte mehrere Empfehlungen der OECD um. Für Firmen aber bleibt die Korruption zusammen mit der überbordenden Bürokratie immer noch eine der Hauptherausforderungen. Auch die Steuerverwaltung wird von Bevölkerung und Wirtschaft noch immer als unzuverlässig wahrgenommen. Bisherige Reformversuche blieben aufgrund verschiedener struktureller Faktoren relativ wirkungslos: die engen Beziehungen der reichen Elite zur Politik, eine festsitzende Korruption und das persönliche Interesse vieler, den Status quo zu erhalten, erschweren die wirtschaftliche Entwicklung. 2013 verursachte die Korruption geschätzte Schäden von 5,9 Milliarden US-Dollar. Das Vertrauen der armenischen Bevölkerung in die staatlichen Institutionen ist denn auch gering. Umfragen zeigen, dass nur 15 Prozent der Armenier dem Rechtsapparat vertrauen; dagegen halten 76 Prozent das Gerichtssystem für voreingenommen. Gerademal 5 Prozent der Bevölkerung würden aussagen, den meisten Leuten vertrauen zu können.
Der Weg zu einer Marktwirtschaft und zu gut funktionierenden Institutionen verläuft nicht gerade. Die Bewegung dahin gleicht einem Mäandrieren und hinter jeder Kurve lauern neue Unsicherheiten. Armenien kann auf eine lange, reiche und schmerzvolle Geschichte zurückblicken: Es war eines der ersten christlichen Länder der Welt. Doch die Erinnerung an den Genozid von 1915 bis 1917 belastet das Land weiterhin schwer. Im Südkaukasus bleibt die Geschichte oft ein belastender Faktor. Das Gleiche lässt sich von der Geographie sagen. Die Suche nach einem Ausweg und der Aufbau effektiver Institutionen dürfen nicht allein der Regierung überlassen werden.
2008 publizierte die Weltbank ein Buch über das damals beeindruckende armenische Wirtschaftswachstum. Der Titel: «Der kaukasische Tiger». Es scheint, der Tiger wurde inzwischen in einen Käfig gesteckt. Gelegenheiten zum Ausbruch gäbe es genug. Die armenischen Bürger müssen selbst entscheiden, ob sie bereit sind, ihn freizulassen.
1 Die Bevölkerung der Schweiz ist weniger als dreimal so gross wie jene Armeniens.