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Taiwans Zukunft betrifft die Schweiz
Elbridge Colby, zvg.

Taiwans Zukunft betrifft die Schweiz

Der Machtkampf zwischen China und den USA ist auch für Europas Volkswirtschaften wichtig. Setzt sich China durch, könnte es unsere politischen Systeme und Freiheiten entscheidend beeinflussen, gestalten und kontrollieren.

Read the English version here.

Die Möglichkeit eines Krieges zwischen China und den Vereinigten Staaten um Taiwan in den kommenden Jahren ist durchaus real. Aber ist es für die Schweiz und Europa insgesamt von Bedeutung, dass China in einem solchen Fall nicht als Sieger hervorgeht? Die Antwort lautet ja, und zwar in ganz praktischer Hinsicht.

Es wird nun immer deutlicher, dass sich die Möglichkeit eines chinesisch-amerikanischen Krieges in Asien mit Taiwan im Mittelpunkt verschärft. Auf chinesischer Seite hat Peking immer deutlich gemacht, dass es Taiwan als Teil der Volksrepublik Chinas betrachtet, aber unter Xi Jinping ist es viel deutlicher geworden, dass es die Frage lösen will – wenn nötig mit Gewalt. Peking hat eine historische militärische Aufrüstung vorgenommen, die genau darauf abzielt, die USA in einem solchen Konflikt zu besiegen. In diesem Zusammenhang baut China seine Nuklearstreitkräfte rasch aus und diversifiziert sie – ein deutliches Zeichen dafür, dass es mit einem möglichen Krieg mit den USA rechnet. Das Land versucht auch, seine eigene Wirtschaft sanktionssicher zu machen und gleichzeitig seinen Einfluss auf Amerika und seine Verbündeten zu verstärken – Anzeichen, dass sich China auf eine Konfrontation und die damit verbundenen Sanktionen vorbereitet.

Auf Seiten Washingtons sind die Vereinigten Staaten sowohl unter der Trump- als auch unter der Biden-Regierung sehr viel deutlicher geworden, was die chinesische Bedrohung Taiwans angeht, und haben auch nachdrücklich das Engagement Washingtons für Taiwans Verteidigung signalisiert. Die Angst vor einem Krieg mit China ist nicht nur auf die Falken beschränkt. Präsident Bidens Aussenminister Tony Blinken und der ihm nahestehende CIA-Direktor Bill Burns haben beide offen davon gesprochen, dass Peking bereit sei, Taiwan erfolgreich zu erobern, und sowohl politische Amtsträger der Demokraten als auch militärische Führungskräfte in Uniform betonen regelmässig die Gefahr.

China bereitet sich vor

Darüber hinaus gibt es ernsthafte Gründe für die Befürchtung, dass die Gefahr eines Krieges eher dringlich als eine ferne Angelegenheit ist. Chinas Führung scheint zu glauben, dass die VR China von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten eingedämmt wird, was bedeutet, dass Peking einen Vorteil darin sehen könnte, sich aus einer solchen «Strangulation» – wie Xi Jinping es Berichten zufolge selbst ausdrückt – zu befreien, bevor sich der Ring zu sehr zusammenzieht. Darüber hinaus könnte Chinas relativer militärischer Vorteil im Westpazifik in den kommenden Jahren seinen Höhepunkt erreichen, da Peking seit den 1990er-Jahren an seinem militärischen Aufbau arbeitet, während die Vereinigten Staaten erst in jüngster Zeit ihr Augenmerk auf China gerichtet haben – selbst wenn die amerikanischen Streitkräfte aus der Reagan-Ära veraltet sind.

Xi hat den Wunsch geäussert, den Fortschritten seines Landes auf dem Weg zu seinem zentralen Ziel der «grossen Verjüngung der chinesischen Nation» einen grundlegenden Stempel aufzudrücken. Er hat dieses Kernziel ausdrücklich mit einer günstigen Lösung der Taiwan-Frage verknüpft, und seine Anweisungen an die Volksbefreiungsarmee, sich für die Verwirklichung dieses Ziels bereitzuhalten, sind mit einem Datum versehen: dem Jahr 2027. Niemand weiss, ob oder wann Peking zuschlagen wird, aber die Pentagon-Führer haben recht, dass wir so handeln müssen, als ob es jederzeit passieren könnte.

«Niemand weiss, ob oder wann ­Peking zuschlagen wird, aber die

­Pentagon-Führer haben recht, dass wir so

handeln müssen, als ob es jederzeit passieren könnte.»

Schlimmer noch, es gibt ernsthafte Bedenken darüber, dass Peking in einem solchen Kampf gut abschneiden oder sich sogar gegen Amerika und seine Verbündeten durchsetzen könnte. Dies ist keine blosse Übertreibung der Bedrohung. Anerkannte Analyseinstitute wie die RAND Corporation haben festgestellt, dass Amerika in einem solchen Konflikt durchaus besiegt werden könnte.

Das klassische Verhalten einer aufstrebenden Grossmacht

Warum sollte ein solcher Krieg und insbesondere eine amerikanische Niederlage für Europa von Bedeutung sein? Der wichtigste Grund ist derselbe, warum die Vereinigten Staaten selbst so besorgt sein müssen: Sowohl die amerikanischen als auch die europäischen Interessen wären zutiefst gefährdet, wenn China Asien dominieren würde, was Peking die Herrschaft über die Hälfte der Weltwirtschaft bescheren würde. Und eine grosse Niederlage der Vereinigten Staaten gegen China in einer Konfrontation im westlichen Pazifik mit Taiwan im Mittelpunkt würde diesem Ziel ein gutes Stück näherkommen.

Es ist wichtig, einen entscheidenden Punkt hervorzuheben: Bei Chinas Ambitionen geht es nicht nur um territorialen Irredentismus in bezug auf Taiwan, die «unvollendete Angelegenheit» des chinesischen Bürgerkriegs, auch wenn sie das sicherlich zum Teil sind. Vielmehr weist Peking alle Merkmale einer aufstrebenden Grossmacht auf, insbesondere einer, die von einem selbstbewussten, aber auch verärgerten Nationalismus angetrieben wird. Solche Mächte sind fast immer bestrebt, ihren Einfluss auszuweiten, vor allem durch die Sicherung einer grossen geoökonomischen Sphäre, um sich einen sicheren Zugang zu grossen und wachsenden Märkten, natürlichen Ressourcen und Grössenordnungen zu verschaffen, mit dem Ziel, eine herausragende Wirtschaft und Gesellschaft zu werden. Es ist dieser starke Anreiz, der Chinas Ambitionen, zum regionalen Hegemon in Asien aufzusteigen, strukturell untermauert. Wenn Peking eine solche Position erreichen könnte, würde es höchstwahrscheinlich zunächst den grössten Markt der Welt und dann die Weltwirtschaft um sich her­um neu gestalten, was Chinas Wohlstand und Status enorm zugutekäme.

Doch das macht ein solches Ziel für den Rest von uns weder harmlos noch tolerierbar. Der Grund dafür ist, dass es unweigerlich China einbeziehen würde, das zum Zen­trum und Torwächter der grössten Wirtschaftszone der Welt werden und damit einen beherrschenden Einfluss auf den Rest der Welt ausüben könnte. Wir wären also Pekings Gnade ausgeliefert, wenn es um den Zugang zu diesem absolut wichtigen Markt geht. Dieser enorme Einfluss würde Peking die Möglichkeit geben, unsere Volkswirtschaften und damit unsere politischen Systeme und Freiheiten entscheidend zu beeinflussen und zu gestalten, wenn nicht gar zu kontrollieren. Wie eine solche chinesische Hegemonie aussehen könnte, lässt sich bereits daran ablesen, wie Chinas Innenpolitik und Gesellschaft geführt werden. Und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die bekanntlich stolzen und patriotischen Chinesen Ausländer besser behandeln würden, insbesondere diejenigen, deren Nationen für das schmachvolle «Jahrhundert der Demütigung» verantwortlich waren.

Die Furcht vor dieser Möglichkeit ist der Grund für Amerikas tiefe und wachsende Besorgnis über ein Peking, das zum Hegemon Asiens werden könnte. Bedenken Sie, dass Amerika eine globale Supermacht ist, die als einzige mit China konkurriert und etwa ein Fünftel der Weltwirtschaft ausmacht. Stellen Sie sich nun vor, wie viel grösser der Einfluss eines hegemonialen Pekings auf ein zerrissenes und wirtschaftlich schwächelndes Europa sein würde. Europa als Ganzes macht heute etwa ein Fünftel des globalen BIP aus, wird aber laut Josep Borrell in zwanzig Jahren nur noch ein Zehntel der Weltwirtschaft ausmachen. Und Europa ist kein zusammenhängendes politisches Gebilde. Das bedeutet, dass ein Peking, das sich die Vorherrschaft über Asien, das wichtigste Wirtschaftszentrum der Welt, gesichert hat, einen dominanten wirtschaftlichen und damit politischen Einfluss auf Europa ausüben würde. Wohin sollte Europa exportieren, wenn nicht auf die riesigen und wachsenden Märkte Asiens, zu denen Peking den Zugang kontrollieren würde? Wenn Länder wie Amerika ein solches China fürchten müssten, wären kleinere Länder wie Deutschland und Frankreich, ganz zu schweigen von der Schweiz, in einer weitaus schlechteren Position. Mit anderen Worten: Wenn Amerika Angst vor einem solchen Ergebnis hat, dann sollte Europa Angst haben.

Starker Fokus auf Asien

Die Bedeutung und Auswirkungen eines Krieges zwischen China und Amerika um Taiwan würden sich nicht auf die Taiwanfrage beschränken. Vielmehr würde es sich um einen Konflikt handeln, der darüber entscheidet, ob China Asien als Hegemon beherrscht oder ob das wirtschaftliche Zentrum der Welt ein Gleichgewicht der Kräfte als Grundlage seiner Stabilität hat. Sollte China in einem grossen regionalen Krieg gegen Washington siegreich sein, könnte es Amerika aus Asien vertreiben und Japan, Südkorea, Asean und andere in der Region in die Knie zwingen.

Darüber hinaus hätte ein Konflikt zwischen Amerika und China sogar noch unmittelbarere Auswirkungen auf die europäische Sicherheit. Wenn ein Krieg ausbricht und die chinesischen Streitkräfte nicht völlig hinter den Erwartungen zurückbleiben, dann wird das US-Militär stark beansprucht sein, um Pekings Angriff zu widerstehen. Um eine Chance auf Erfolg zu haben, werden die Vereinigten Staaten Kräfte, Ressourcen und politisches Kapital aus allen Ecken – auch aus Europa – für den Kampf in Asien mobilisieren müssen. Dies ist das Ergebnis der einfachen Tatsache, dass das US-Militär trotz enormer Verteidigungsausgaben nicht in der Lage ist, einen grossen Krieg in Asien und einen weiteren anderswo auch nur annähernd gleichzeitig zu führen. Selbst wenn sich die USA gegen China durchsetzen oder die Stellung halten können, werden die Kosten wahrscheinlich hoch sein, und die fortgeführte Abschreckung nach einem solchen Krieg wird eine starke Konzentration der US-Ressourcen auf Asien erfordern. Noch schlimmer ist, dass die USA im Falle einer Niederlage alle Hände voll zu tun haben werden, um ihre Vertreibung aus Asien und die daraus resultierende Erlangung der regionalen Vorherrschaft durch China zu verhindern. In jedem dieser Szenarien wird es zu einem erheblichen Abzug der militärischen Ressourcen und der Aufmerksamkeit der USA aus Europa kommen.

Europa ist nicht mehr das Zentrum der Welt

Die Konsequenzen für Europa sollten klar sein. Wer sich bei seiner künftigen Sicherheit zu sehr auf die weiterhin dominante Rolle Amerikas verlässt, riskiert Ärger. Wenn es zu einem Krieg mit China kommt, wird Amerika keine andere Wahl haben, als sich auf Asien zu konzentrieren, und in Europa wird ein Sicherheitsvakuum entstehen. Noch schlimmer ist, dass ein Russland, das jetzt eng mit China verbündet ist, versuchen könnte, eine solche notwendige Konzentration der USA auf Asien auszunutzen, um aggressive Schritte in Europa zu unternehmen.

«Wer sich bei seiner künftigen Sicherheit zu sehr auf die weiterhin

dominante Rolle Amerikas verlässt, riskiert Ärger.»

Die korrekte europäische und amerikanische Antwort darauf ist nicht einfach zu hoffen, dass China sich nicht rührt, zu beten, dass Russland als Bedrohung endgültig ausgeschaltet wird, oder zu wünschen, dass Amerika Europa immer an die erste Stelle setzt. Die angemessene Antwort ist vielmehr die Fortsetzung des starken transatlantischen Bündnisses, aber mit der klaren Erkenntnis auf beiden Seiten des Atlantiks, was Amerika realistischerweise leisten kann und wird. Das bedeutet, dass Europa einen grösseren Teil der Last seiner Verteidigung schultern muss, insbesondere im konventionellen Bereich.

Vor allem muss Deutschland rasch seine langjährigen Verpflichtungen zur kollektiven Verteidigung erfüllen und die militärische Stärke wiederherstellen, die es im Kalten Krieg hatte. Nur Deutschland hat die wirtschaftliche und bevölkerungsmässige Grösse, um einen Grossteil der Lücke zu füllen, die sich aus der Verlagerung des amerikanischen Schwerpunkts nach Asien ergibt. Andere Länder wie Polen und die baltischen Staaten, die Benelux-Staaten und die skandinavischen Länder können dann mit der deutschen Masse unter der Ägide der Nato und mit fortgesetzten, gezielteren amerikanischen Beiträgen zusammenarbeiten, um einen starken kollektiven Schutzschild gegen russische Aggressionen zu bilden.

Das ist machbar. Russland wird weiterhin eine ernsthafte Bedrohung für die europäische Sicherheit darstellen. In der Zwischenzeit stehen Deutschland und andere europäische Länder zwar vor wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, aber diese Bedenken reichen nicht aus, um Trägheit zu rechtfertigen. Amerika gibt 3 Prozent seines BIP für die Verteidigung aus. Warum kann Deutschland nicht 2 Prozent oder mehr ausgeben?

Europa ist nach wie vor eine der wichtigsten Regionen der Welt. Aber zum ersten Mal seit Jahrhunderten ist es nicht das wirtschaftliche und damit auch nicht das geopolitische Zentrum der Welt. Das bedeutet, dass sich das Schicksal Europas ebenso wie das Amerikas in Asien entscheiden wird, das sich zu diesem Zentrum entwickelt. Wir alle müssen dafür sorgen, dass das grösste Marktgebiet der Welt nicht unter die Kontrolle eines herrschsüchtigen Hegemons gerät. Europa hat nicht die Möglichkeit, dieses Ergebnis wesentlich zu beeinflussen. Was es jedoch tun kann und muss, ist, mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit zu übernehmen und dafür zu sorgen, dass die Vereinigten Staaten am besten positioniert sind, um zu gewährleisten, dass China Asien nicht dominieren kann. Wenn Europa dies nicht tut, wird es sich selbst verwundbar machen, wenn die Vereinigten Staaten tun, was sie tun müssen, und sich auf Asien konzentrieren, unabhängig davon, wer in Washington an der Macht ist.

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