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Der Oligarchenlehrling

Der Schriftsteller Michael Stauffer macht sich Sorgen um die hiesige Wirtschaft – und seine Zukunft darin. Zur Weiterbildung ist er im Januar nach Jerewan gefahren, um eine Umschulung zum Oligarchen zu prüfen. Ein Erlebnisbericht.

Der Oligarchenlehrling
Jerewaner U-Bahn, photographiert von Severin Kuhn.

Die Geldpolitik der verbundenen Augen, wie sie in Europa seit einer Weile gepflegt wird, wird zu einer grossen Wirtschaftskrise führen. Die diversen Staaten werden ihre Bürger mittels exorbitanter Steuern zu enteignen versuchen, statt ihr bisheriges Fehlverhalten in Frage zu stellen. Auf die erfolgten Verstaatlichungen wird nach oder noch in der Krise sofort eine Welle von Reprivatisierungen staatlicher Güter und Betriebe folgen.

Mit diesen Prognosen im Kopf ist ein Schweizer in die kleine Kaukasusrepublik Armenien gefahren, um sich von der dortigen beispielhaften Oligarchisierung ein Bild zu machen. Mitte der 1990er Jahre kam es in Armenien zu massiven Privatisierungen. Zunächst wurden diese von der Bevölkerung begrüsst, weil nach Krieg und Jahren des Mangels überhaupt wieder Waren in den Umlauf kamen. Heute beherrschen rund ein Dutzend Oligarchen beinahe jeden Bereich der armenischen Wirtschaft, und bei einigen Teilen der armenischen Bevölkerung ist die Begeisterung über das gestiegene Warenangebot inzwischen dem Frust über die willkürliche Preisgestaltung gewichen. Wer kann, geht.

Am 19.01.2015 ist es so weit. Unser Schweizer wird von seiner Übersetzerin, die an einen deutschen Feldwebel erinnert, geweckt. Es gibt Rührei, Spiegelei, Omelette, pechschwarzen Kaffee und Fladenbrot. Auf dem Tagesprogramm steht der Besuch bei einem Politiker. Begleiten wir unseren Oligarchenlehrling ein kleines Stück auf seiner Reise. Ein junger Armenier namens Andranik, der in Deutschland erfolgreich Wirtschaft studiert hat und nun in Armenien erfolgreich nichts macht, ist der Mittelsmann. Von diesen jungen Männern gibt es hunderte. Sie warten alle wie junge streunende Hunde darauf, dass ein etwas grösserer streunender Hund sie mitnimmt zu einem noch grösseren, aber oft noch schlafenden ganz grossen Hund. Dieses Jungmännerproletariat versucht abzuschätzen, hinter welchem Mann ein zukünftiger Oligarch verborgen sein könnte, und dient diesem dann im Vorfeld der Machtergreifung – in der Hoffnung, danach einen entsprechenden Ministerposten zu bekommen. Dieser Andranik also will 400 Euro dafür, dass unser Schweizer einen Termin bei Aram Sargsyan vermittelt bekommt, einem ehemaligen Premierminister, dessen Bruder 1999 im Parlament live erschossen wurde, der jetzt Politiker ist und in der Bewertung von Andranik offenbar ein Stand-by-Oligarch. Unser Schweizer weiss, dass 400 Euro etwa einem 1,5fachen Monatseinkommen gleichkommen, und kürzt die Summe entsprechend auf einen Fünftel.

Unser Schweizer gibt das Geld aber grundsätzlich gerne aus, er hat es von der deutschen Robert-Bosch-Stiftung erhalten und wird diese und diverse andere Ausgaben als «Gastgeschenke» und «Zugangsermöglichungszahlungen» abbuchen.

Andranik fährt ein deutsches Auto, obere Mittelklasse, gebraucht. Er findet lange keinen Parkplatz in der Innenstadt und raucht nervös Araratzigaretten, während unser Schweizer schmunzelnd auf dem Beifahrersitz sich auf die bevorstehende Begegnung freut. Der Übersetzerinnenfeldwebel ruft von hinten, dass die gesunde Dichte an Autos pro Einwohner in Jerewan um das Sechsfache überschritten sei und dass sie regelmässig nach zwanzig Minuten Reizhusten bekomme. Unser Schweizer hatte beim Spazieren in der Stadt auch das Gefühl, er liefe ständig durch Baustaub. Jetzt weiss er es besser.

Die Partei von Aram Sargsyan heisst Republikspartei statt Republikanische Partei, dafür braucht nicht nur unser Schweizer, sondern brauchen auch die meisten Armenier noch einige Verständnisversuchsrunden. Nach Auskunft von Andranik handelt es sich um eine Oppositionspartei, die aber nicht richtig aktiv ist. Aha, eine inaktive Oppositionspartei ist das also, denkt unser Schweizer, worauf seine Übersetzerin ihm zuflüstert, dieser Aram Sargsyan verstecke sich sicher nur in dieser Oppositionspartei, und sobald der Moment gekommen sei, würde er sofort wieder in die von Oligarchen besetzte Regierungspartei wechseln. Unser Schweizer will sich aber selbst ein Bild machen.

Es gestaltet sich so: das Büro der Partei befindet sich in einem gewöhnlichen Haus. Die Türe erinnert an den Eingangsbereich eines Nachtklubs, nur dass dort sicher ein Rausschmeisser stehen würde. In der Parteizentrale gibt es eine Küche, normal-billige Büroausstattung. Herr Aram Sargsyan, Parteileiter, empfängt persönlich, seine Mitarbeiter seien noch im Urlaub, entschuldigt er sich. Die armenischen Weihnachtsferien würden bis Ende Januar dauern, er sei hier ganz allein. Herr Sargsyan trägt ein senfgelbes Sakko und abgewetzte Schuhe. Die meisten Anhänger seiner Partei, so Sargsyan, hätten Asyl im Ausland bekommen, denn sie könnten in Armenien keine Jobs finden, weil sie in seiner Partei seien. Die Partei helfe diesen Mitgliedern dann, indem sie entsprechende Papiere ausstelle, die bestätigten, dass sie Anhänger der Republikspartei seien und deswegen in Armenien verfolgt würden. Allein im vergangenen Jahr hätten mehr als 1000 Mitglieder seiner Partei Armenien wegen politischer Verfolgung verlassen und in verschiedenen europäischen Ländern Asyl beantragen müssen.

Das scheint ein gutes Geschäftsmodell zu sein, eine Art Visa-Handel für reiche Parteimitglieder.

Unser Schweizer erfährt, dass für Herrn Sargsyan selber die politische Lage im Moment auch nicht optimal sei, er koche zurzeit auf Sparflamme, werde von den politischen Führern des Landes in Frieden gelassen und lasse diese auch in Ruhe. Auf sein Vermögen könne er teilweise zugreifen, Bedingung sei jedoch, dass er bereit sei, einen Teil davon in Beziehungspflege zu investieren. Unser Schweizer verfügt über Informationen, die besagen, dass Herr Sargsyan sehr gute Geschäfte machen kann, solange er seine politischen Ambitionen im Zaume zu halten vermag.

Nach einer formalen Begrüssung, die aus gegenseitigem Lob und Dank besteht, setzen sich der Parteileiter und unser Schweizer.

Unser Schweizer fragt gleich am Anfang, was davon zu halten wäre, wenn er als Business-Idee Schweizer Käse nach Armenien importieren würde.

Der Stand-by-Oligarch gibt zu bedenken, dass dazu in der armenischen Wirtschaft zuerst die Verhältnisse geschaffen werden müssten. Armenien müsste zuerst lernen, dass die Zusammenarbeit mit dem europäischen Markt anderen Regeln folge. Bis jetzt würde Armenien nur die Zusammenarbeit mit dem russischen Markt kennen und der lehre einen nur, wie Korruption funktioniere. So wie das heute laufe, würde sich unser Schweizer zuerst mit einem Minister der Republikanischen Partei (Hajastani Hanrapetakan Kussakzutjun), der gleichzeitig Chef einer grossen Supermarktkette sei, beschäftigen müssen, mit einem gewissen Arajik, den Familiennamen wisse er gerade nicht. Dieser Arajik importiere eigentlich den gesamten Käse ganz Armeniens, zahle dafür keinen Rappen Zoll, weil er eben Mitglied der Hanrapetakan-Partei sei und zusätzlich Regierungsmitglied. Unser Schweizer würde vielleicht zehnmal Käse ohne Probleme importieren können, man würde ihn ermutigen, ein Vertriebsnetz aufzubauen, vielleicht sogar eigene Fahrzeuge anzuschaffen. Dann würden plötzlich unglaubliche Zölle erhoben auf Käse. Von heute auf morgen. Diese würde unser Schweizer dann, weil er ja schon investiert hat, sicher zwei-, dreimal zahlen. Danach würden plötzlich, nachdem die Ware verzollt worden ist, in seinem tollen Schweizer Käse ganz viele Bakterien gefunden, die den Verkauf leider verunmöglichen würden. Spätestens da würde es unserem Schweizer schwanen, dass er das Feld besser wieder räumen sollte. Unser Schweizer möchte wissen, ob es für ihn besser laufen würde, wenn er selber Regierungsmitglied werden könnte, und ob er dann eine bevorzugtere Behandlung erwarten könnte. Der Übersetzungsfeldwebel verdreht die Augen, unser Schweizer wiederholt stur die Frage und sagt dem Übersetzungsfeldwebel, dass es ihm mit dem Käse todernst sei.

Der Stand-by-Oligarch meint, dass der Schweizer laut Gesetz fünf Jahre in Armenien leben müsste, um eine Kandidatur einreichen zu können. Er müsste zudem einige materielle Mittel haben, um seine Wahlkampagne zu organisieren. Wenn er, aus nachvollziehbaren Gründen, nicht zuerst fünf Jahre in Armenien leben möchte, um Minister zu werden, dann müsste er einfach ein, zwei Freunde aus dem Regierungsteam haben, die ihn dann direkt ernennen könnten. Das Gesetz besage nicht, dass man Armenier sei, um Minister zu werden, nicht einmal die Staatsangehörigkeit sei verlangt. Aber das Gesetz sei nur das Gesetz und gelte in Armenien für die jetzige Regierung in keiner Weise. Für alle anderen schon. Armenien sei wie eine umzingelte Burg. Es gebe zwar ein Tor nach Georgien, da könne man rein und raus, und eines nach dem Iran. Wer aber durch diese Tore komme und zum Beispiel Brot oder Käse oder Wasser bringen könne, das werde vom Regierungsteam entschieden. Klar, dass in so einer umzingelten Burg Leute, die Brot, Wasser oder Käse bringen, verehrt werden und dass diese Leute ein grosses Interesse daran haben, dass die Burg für immer umzingelt bleibe. Das sei eben der grosse Unterschied zur Schweiz. Die Schweiz befinde sich im Zentrum von Europa, umgeben von zivilisierten Ländern. Armenien befinde sich in einer Wüste, zwischen Asien und Europa, in einer Zone, welche von Glaubenskonflikten beherrscht werde, wo islamische auf christliche Länder träfen, wo der russische Einfluss, obwohl das Land angeblich unabhängig sei, omnipräsent wirke und wo das territoriale Problem mit Aserbaidschan seit Jahren nicht gelöst worden sei. Man befinde sich weder in einer Kriegs- noch in einer Friedenssituation.

Unser Schweizer bestätigt dem Stand-by-Oligarchen, dass er die russische Einflussnahme auch beobachtet habe. Er habe in einem Nobellokal dicke Männer ohne Hälse, dafür mit Stiernacken und Zigarren im Mund belauscht, die ernsthaft behauptet hätten, Homosexualität sei eine Erfindung des Westens zur Unterwerfung der übrigen Welt. Der Stand-by-Oligarch ist für diese Provokation unseres Schweizers noch nicht bereit und schenkt sich einen Cognac ein. Der Übersetzungsfeldwebel trinkt einen kräftigen Schluck mit und stellt die nächste Frage gleich selber. Unser Schweizer wolle wissen, ob man sich der Frage des Käseimportes noch mal widmen könne und ob der Parteileiter dem Schweizer vielleicht sogar konkret helfen könnte.

Der Parteileiter schaut den Schweizer kurz an, steht auf und redet wie ein Lehrer auf den Übersetzungsfeldwebel ein. Natürlich müsste der Schweizer erst mal die Sprache können, er müsste die entscheidenden Politiker kennen, und zwar in allen Parteien, das sei ganz wichtig. Und er müsse unserem Schweizer ein Kompliment machen, da sei er schon viel, viel weiter als andere, weil er sogar mit ihm als Parteileiter der inoffiziellen Oppositionspartei rede, das spreche für ihn.

Weiter müsse unser Schweizer natürlich in der Lage sein, jeden Parteienwechsel zu überleben. Unser Schweizer nickt freundlich.

In Armenien sei im Moment in der Grundversorgung, also mit Strom, Wasser, Telefon, Transport, am meisten Geld zu verdienen. Aber natürlich habe der Schweizer recht, wenn er sich jetzt schon auf den Detailhandel konzentriere, das sei sehr schlau. Unser Schweizer möchte wissen, ob der Parteileiter und Stand-by-Oligarch bereit wäre, in die Rolle eines neuen Führers zu schlüpfen, ob er sich 2018 als Präsidentschaftskandidat präsentieren würde. Der Übersetzungsfeldwebel übersetzt die Frage nicht, sondern raunt unserem Schweizer zu, ob er eigentlich den Schreibtisch des Parteileiters mal genau angeschaut habe. Da stehe nichts drauf, kein Computer, nur ein paar Stifte, ein paar Visitenkarten, ob so ein Schreibtisch aussehe, an dem ein zukünftiger Oligarch sitze? Unser Schweizer zuckt mit den Schultern und wiederholte seine Frage stoisch.

Das sei eine sehr ernste Frage, die von vielem abhängig sei, antwortet Aram Sargsyan in vorbildlicher Politikersprache. Falls er sich aber präsentieren werde, dann sicher nicht, um zu verlieren.

Unser Schweizer gratuliert dem Stand-by-Oligarchen zu seinem Mut und hat noch im Ohr, dass Geschenke an alle Parteien für einen zukünftigen florierenden Käsehandel das A und O seien. Unser Schweizer nickt dem Übersetzungsfeldwebel zu, worauf dieser theatralisch eine grosse Schweizer Pralinenschachtel aus der mitgebrachten Ledermappe zieht und sie unserem Schweizer hinhält. Bei der Geschenkübergabe umarmt der Herr Parteileiter unseren Schweizer spontan. Das sei noch nie passiert. Mit den deutschen und amerikanischen Journalisten rede er normalerweise zehn Minuten, dann schicke er sie wieder nach Hause. Mit mir habe er jetzt fast zwei Stunden geredet und jetzt hätte er sogar noch etwas für seine Kinder, die mögen Schweizer Schokolade sehr gerne, und er werde die Schokolade sicher nicht seinen Parteifreunden geben. Unser Schweizer erhält vom Stand-by-Oligarchen ein Verlegenheitsgeschenk. Eine Gebetsplakette aus Kunstglas mit der armenischen Variante des Vaterunsers drauf.

Der Übersetzungsfeldwebel hetzt unseren Schweizer nach dem erfolgreichen Gespräch zu Fuss durch Jerewan, zurück zu dessen Unterkunft, die Luft hat nach wie vor keinen Sauerstoff, es ist kein Ararat zu sehen, aber immerhin sieht unser Schweizer am Horizont einen verheissungsvollen Hoffnungsschimmer, später als erster Käseoligarch in die armenische Wirtschaftsgeschichte einzugehen. Nachdem unser Schweizer den Übersetzungsfeldwebel bezahlt und verabschiedet hat, isst er zur Belohnung ein Stück Fladenbrot und hobelt sich ein paar Flocken Gruyère mi salé drauf.

Armenischer Oldtimer, photographiert von Severin Kuhn.

Stadtschlucht in Jerewan, photographiert von Severin Kuhn.

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Alexander Iskandaryan spricht gerne in Bildern: Zustände wie im alten Babylon, eine Wirtschaft wie in einem Dickens-Roman, ein Land, das in nur einer Generation einen Jahrtausendsprung genommen hat. Die mitteleuropäische Zeitrechnung gilt für Armenien nicht. Ein Aufklärungsgespräch.

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