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Reich unter dem Himmel
Morgendliches Tai-Chi in Schanghais Stadtviertel «The Bund» am Ufer des Huangpu-Flusses. Bild: mauritius images / Ville Palonen / Alamy.

Reich unter dem Himmel

Der chinesische Traum ist nicht der amerikanische. Die Weltgemeinschaft ist gefordert, sich auf eine gemeinsame Suche nach der Rolle Chinas einzulassen.

Bei der seit über dreitausend Jahren bestehenden chinesischen Welt, am östlichen Rande des eurasischen Kontinents gelegen, fragt sich heute unwillkürlich jeder, ob sich die Menschen dort bei den rapiden Veränderungen der letzten Jahrzehnte überhaupt noch ihrer Geschichte und ihrer alten Kultur erinnern. Tatsächlich leben die Chinesen zwischen einer Weltvorstellung, in der sich einerseits «alles unter dem Himmel» wechselseitig auf­einander bezieht, sich andererseits überschaubare Teilwelten selbst genügen. Die Kultur Chinas hat ihre Herkunft aus der Verflechtung regionaler sozialer Gebilde niemals ganz vergessen. Die Erinnerung an diese Ausgangslage ist ihr eingeschrieben, und darin liegen sowohl ihre Stärke als auch ihre Schwäche. In den gegenwärtigen internationalen politischen Konstellationen werden die traditionellen chinesischen Weltordnungsvorstellungen, die kulturelle Eigenart Chinas auf eine harte Probe gestellt.

Beim Blick auf China gilt es, sich von der seit Jahrzehnten immer wieder gestellten Frage «Wird China das 21. Jahrhundert beherrschen?» zu lösen, weil damit nur ein Number-One-Denken fortgeführt wird. Solchem Denken fühlte sich Henry Kissinger verpflichtet, der im Glauben an die USA die Frage natürlich verneinte. China werde weiter derart mit «fundamentalen Veränderungen beschäftigt sein», so meinte er, dass es keine Zeit finden werde, die Welt zu beherrschen. China sei zudem «kulturell nicht auf eine globale Rolle ausgerichtet». Anders die USA, deren Rolle Kissingers Mitstreiter Fareed Zakaria so formulierte: «Wir sind die erste universelle Nation, ein Land, das Menschen aus aller Welt anzieht […] und wir finden Möglichkeiten, das Talent dieser Menschen zu nutzen und einen universellen Traum zu schaffen.»

Tatsächlich droht die «America-First»-Parole eine «China-First»-Programmatik zu evozieren. Ob dieser Entwicklung zu neuer Bipolarität noch Einhalt geboten werden kann, ist derzeit völlig unklar. Wer aber glaubt, China sei auf dem Wege, die USA als «Number One» abzulösen, unterliegt einem Missverständnis. Chinas Kultur kennt seit jeher die Vorstellung von einer harmonischen Welt und weiss zugleich um die Vorläufigkeit jeder Dynastie. Die chinesische Welt hat aus kulturellen Gründen eine von der westlichen Welt sehr verschiedene Sicht auf die Welt und ihre Geschichte. Die traditionelle chinesische Kultur und deren Weltbild war stets geprägt durch Gemeinschaftsbildung im Kleinen und funktionale Rationalität im Grossen, von gegliederten Räumen und der Ermöglichung von Koexistenz und immer auch von dem Nebeneinander von Gegensätzen. Es werden Konflikte erwartet, auch Wettbewerb um Optimierung und höheren Rang, keineswegs aber die Bildung einer Weltherrschaft. Und dass China damit richtig liegt, zeigen die Reaktionen auf die gegenwärtige Politik der USA.

Der chinesische Traum

Was für einen Traum träumt China? Einen eigenen, der keineswegs ein Traum der «unbegrenzten Möglichkeiten» und auch nicht der Traum von einem Gegenamerika ist. Während die Regierung einen grossen Traum propagiert, in dem vor allem China gross und vor jeder Demütigung gefeit ist, träumen die meisten Chinesen einen Traum von Wohlstand, Glück und langem Leben. Und tatsächlich haben sie bereits Teil an den Errungenschaften der Moderne, sind in manchem bereits zu grossen Teilen der Welt voraus. So bleiben die Menschen in den verschiedenen Gegenden Chinas ambivalent gegenüber dem grossen Traum, dem sie ihre eigenen Interessen und das Wohlergehen ihrer Verwandtschaft nicht unterordnen wollen. Und doch sind sie mehr und mehr bereit, die Ordnungen stiftende Funktion des Staates zu akzeptieren. Aussenpolitisch hat sich China seit mehr als tausend Jahren mit seinen Nachbarn arrangiert – auch wenn es unter der Mandschu-Herrschaft seit dem 17. Jahrhundert zu einer territorialen Überdehnung tendierte. Daraus ergeben sich historisch begründete Potenziale Chinas, das in seiner Geschichte mehrfach Strategien zu einer globalen Weltaussenpolitik formulierte, an die es heute wieder anzuknüpfen beginnt. China ist im Begriff, auch in dieser Hinsicht neue Wege zu gehen. Der Rückgriff auf die eigene Geschichte und zwei Jahrhunderte Studium europäischer Kultur werden Folgen zeitigen.

«Während die Regierung einen Traum propagiert, in dem vor allem China gross und vor jeder Demütigung gefeit ist, träumen die meisten Chinesen einen Traum von Wohlstand, Glück und langem Leben.»

Diese Suche nach Wohlstand und einem glücklichen Leben hat im letzten Jahrhundert in China den Aufbruch in einem geeinten grossen Reich beflügelt. Der ganz eigene chinesische Weg, den das Land gehen sollte, wurde dann doch zunächst und vor allem der Weg in eine an den Errungenschaften der westlichen Welt ausgerichteten Modernisierung. Keiner hätte sich zu Lebzeiten Mao Zedongs und Zhou Enlais und des Gründers der Volksbefreiungsarmee Zhu De, die alle drei im Jahr 1976 starben, die folgende Industrialisierung Chinas oder gar die massenhafte Verbreitung des Individualverkehrs mit PKW vorstellen können – und doch hatte bereits Mao von einer modernen Welt mit zahlreichen Flughäfen und einem dichten Strassennetz geträumt. Nach seinem Tod war man sich einig darin, keine Demütigungen durch fremde Mächte zu dulden, vor allem aber wollte niemand die Wiederholung der Erfahrungen von Leid und Elend in der Zeit des Grossen Sprungs und der Kulturrevolution. Inzwischen ist die heute erreichte Moderne den meisten zur Selbstverständlichkeit geworden, und die Entwicklung scheint nur eine Richtung zu kennen: hin zu mehr Moderne. Zugleich sind die Visionen der früheren Reformer und Revolutionäre nicht vergessen, und keiner vermag zu sagen, ob sie in Krisenzeiten aktualisiert werden in der Suche nach einer Harmonie im Kleinen und der enttäuschten Ablehnung einer sich als unfähig erweisenden Partei und des von ihr bestimmten Staates.

Weg in die Moderne

Der Aufstieg Chinas in den letzten Jahrzehnten ist nicht zu verstehen ohne die Reformanstrengungen seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts. Chinas frühe Industrialisierung, die Selbststärkungsbewegung Ziqiang von 1860 bis 1895, die Erschliessung von Bodenschätzen und der parallel dazu erfolgte Aufbau einer ersten industriellen Infrastruktur mit Eisenbahnverbindungen und Telegrafie sind hier ebenso zu nennen wie die Etablierung einer Seezollverwaltung (Chinese Maritime Customs Service) im Jahre 1854 unter Horatio Nelson und dann vor allem von 1863 bis 1911 unter dem Generalinspektor Sir Robert Hart. Von ganz entscheidender Bedeutung waren die Reformen auf dem Gebiet des Bildungs- und Erziehungswesens.

Wie sehr sich das heutige China gerade in dieser Tradition sieht, zeigen zahlreiche Jubiläumsfeiern. Im Jahr 2009 feierte man 100 Jahre Nationalbibliothek, im Jahre 2018 120 Jahre Gründung der Peking-Universität. Diese wurde im Jahr 1898 während der sogenannten 100-Tage-Reform als Kaiserliche Universität von Peking (Jīngshī Dàxuétáng) gegründet und wird heute schlicht «Beida» genannt; sie ist bis heute die renommierteste Bildungseinrichtung Chinas. Die Peking-Universität, nordwestlich der Verbotenen Stadt nicht weit vom Kaiserpalast entfernt, wo der letzte Kaiser «Henry» Puyi mit seinem Personal seit seiner Abdankung 1912 lebte, war nicht zuletzt dank ihres Rektors Cai Yuanpei (1868 –1940), der auch mehrere Jahre in Europa studiert hatte, zum intellektuellen Zentrum Chinas geworden.

Dynamik in nahezu allen Bereichen

Heute prägen das Internet und bargeldloser Handel ebenso die Rahmenbedingungen der Modernisierung wie die mit der zunehmenden Vernetzung ermöglichte Überwachung und Kontrolle, welche die Frage aufwirft, wer die Kontrolleure kontrolliert. Die Freude der Chinesen an Freiheiten und die stets bewusste Unterscheidung von Nähe und Distanz lassen ähnlich wie in der Vergangenheit auch für die Zukunft erwarten, dass die stete Gefahr zu Missbrauch von Macht durch den Eigensinn von einzelnen ebenso wie von Gruppen und Verbänden relativiert und immer wieder überwunden werden dürfte. Man kann gespannt sein, wie Partei und Staat und institutionalisierte Instanzen mit dieser Herausforderung umgehen.

Die gegenwärtig mit höchster Dynamik verfolgte Nachholung der Modernisierung eröffnet nicht nur neue Möglichkeitsräume, sondern setzt die akkumulierte Wissenschaft und Technik der letzten 150 Jahre in vielen verschiedenen Bereichen gleichzeitig in Szene. Damit beerbt China die lange Zeit allein mit dem Westen, vor allem mit den USA assoziierte Dynamik und Innovationskraft, nun aber nicht als das «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», sondern als das Land, welches eine Weltgesellschaft antizipiert – und gerade darin liegt die weltgeschichtliche Chance, die es zu ergreifen gilt.

Die Welt heute ist nicht mehr die von vor hundert Jahren, als die Wall Street den Finanzplatz London zu überstrahlen begann; Schanghai und Hongkong drohen nicht zum Mittelpunkt der Weltfinanzwirtschaft zu werden. Die Herausforderungen der Weltgemeinschaft sind vielmehr multilateral und nicht von einem Hauptakteur allein zu meistern. Da der Erfolg Chinas auch eine Folge einer über lange Zeit erfolgten Nachahmung des Westens ist, könnte dieser doch stolz auf solche Schülerschaft sein und es als selbstverständlich erachten, dass China nun auch eigene Wege sucht, abseits der Blaupausen des Westens.

Die Rolle der Alten Welt

Die Politik der USA ist es, nicht erst seit der Präsidentschaft Donald Trumps, keine andere Nummer eins auf der Welt zuzulassen – nicht etwa auf Ebenbürtigkeit, Partnerschaft und Vertrauensbildung zu setzen. Ein solcher Wettlauf aber wird vor allem Verlierer produzieren, vermutlich weniger in den USA oder China, sondern in den Räumen dazwischen. Ein lernendes Europa könnte sich auf die neue Lage in China einstellen. Dort ist man nicht nur mit Henry Kissinger, sondern auch mit der Position Niall Fergusons vertraut, einem der Gegenspieler Kissingers, der die Kluft zwischen Asien und dem Westen schwinden und alle gleichermassen vor einer neuen Herausforderung sieht: wie weit es gelingt, ein angemessenes Gleichgewicht zu erreichen zwischen den wirtschaftlichen Institutionen, die Wohlstand generieren, und den politischen Institutionen, die diesen regulieren und umverteilen.

Vom weiteren Umgang der Weltmächte miteinander wird auch abhängen, ob China sich stabil weiterentwickelt. Nach innen sucht die Regierung, gelenkt durch die Kommunistische Partei und gestützt durch deren Machtmonopol, eine möglichst Konflikte vermeidende oder, wo sie unvermeidlich sind, diese moderierende Fortentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren. In für europäische Augen erstaunlicher Weise nehmen die Menschen die Massnahmen der Regierung hin, welche die Sicherheit des einzelnen und eines friedlichen Zusammenlebens aus der Sicht der Zentralregierung garantieren sollen. Denn die lokalen und regionalen Eigeninteressen, die für die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes von so grosser Bedeutung sind, neigen zum Überschwang und bedürfen in den Augen der Menschen der Zähmung durch eine übergeordnete In­stanz. Wie auf den wohlsorgenden Himmel wollen sich die Menschen auf sichere Verhältnisse, auf Frieden und Wohlstand verlassen können. Solange dies gelingt, wird die Legitimität des Einparteienstaates akzeptiert. Dies macht China, bei aller Kontrolle und aller Strenge zur Vermeidung von Chaos, zu einem Erfolgsmodell, gerade weil, gestützt auf die Erinnerung an die Geschichte der vielfältigen Katastrophen und Reichsteilungen der Vergangenheit, das Wissen um die Gefährdung des Wohlstandes gegenwärtig bleibt. Das allgemeine Bewusstsein, dass nichts von Dauer ist, ist die Grundlage für Chinas Stabilität.

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