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Das Recht auf alles  verdirbt das Recht
Beat Kappeler, fotografiert von Franziska Rogger.

Das Recht auf alles
verdirbt das Recht

Plötzlich geht alles, was früher nicht ging: Anrechte aller Art weiten sich aus. Dabei gilt: neue Freiheiten sind zu begrüssen, doch nur klare Grenzen schaffen die Voraussetzungen für souveränes Handeln.

Zu den olympischen Sportarten gehören nicht mehr nur Leichtathletik, Schwimmsport, Radsport, Fechten und Kunstturnen, sondern auch Tischtennis, Curling, Golf und griechisch-römisches Ringen. Zum Unesco-Welterbe gehören nicht mehr nur der Taj Mahal und der Vatikan, sondern auch das Pizzabacken, die Basler Fasnacht und der deutsche Orgelbau. Fachhochschulen sind zu Universitäten mit allen Rechten geworden. In Einwohnerregistern wird ein drittes Geschlecht beglaubigt. Alle Geschlechter können heiraten, aber auch leichthin wieder scheiden. Aktien werden nicht mehr nur von Privatpersonen gekauft, sondern von Notenbanken, und zwar in rauhen Mengen; die Reichen werden reicher. Beschwerden hebeln alle Verwaltungsakte oder Verträge wieder aus.

Anrechte aller Art weiten sich aus, Vorrechte zerfallen. Immer mehr Individuen und Gruppen beanspruchen immer mehr Rechte auf immer mehr Dinge. Immer mehr Individuen und Gruppen verlieren Vorrechte, auch solche, die sie sich erarbeitet haben. Bedeutet das nun mehr Fortschritt und Freiheit oder verlieren sich so alle Grundsätze, werden wir dekadent? Der «Untergang des Abendlandes» wurde jedenfalls schon einige Male diagnostiziert – und hat sich in Kriegen, Krisen, Unregierbarkeit und Moralverlust für viele bestätigt.

Wie die neuere Geschichte das Gegensatzpaar Freiheit und Ordnung ausspielte, hat der grosse kulturphilosophische Atem vieler Autoren zu beurteilen versucht. Wie viele Linke sahen auch Rechtskonservative wie Spengler oder Sombart den Aufbruch des jede vorherige Ordnung zerstörenden Kapitalismus mit Skepsis. Schon die Französische Revolution machte es den Betrachtern schwer, die Freiheit darin zu erkennen, und nicht vielmehr eine neue Barbarei des Schafotts, den Verlust elementarer Moral. Der Lektüre der Folgen von 1789 ist aber die bedeutendere und 150 Jahre ältere Freiheitsbewegung der Briten an die Seite zu halten. Deren grosse, nach 1830 verstärkte Reformbewegung erweiterte das Stimmrecht fortlaufend. Sie baute auf die viel älteren Grundsätze des Habeas Corpus1, auf die parlamentarisch ausgebremste, konstitutionelle Monarchie und auf die Freiheit der Meere. Vor allem aber brachte sie den Freihandel. Diese Freiheiten wahrten die Ordnung ohne die abschreckenden Exzesse, wurden und werden aber in Mitteleuropas Kulturkreisen weniger gewürdigt.

Enfranchisement, die freiheitliche Entgrenzung

Die Briten nannten diese Vorgänge damals «Enfranchisement», was mit Freilassung oder Verleihung übersetzt werden kann. Dieser Kern des gesellschaftlichen Fortschrittsdenkens wurde von den Angelsachsen, die den 2. Weltkrieg und damit die kulturelle Hegemonie gewannen, aber auch von den Nachkriegsgenerationen anderer Länder in strikter Konsequenz weitergeführt. Die Entkolonialisierung näherte sich zusammen mit der UNO dem alten Ideal einer weltweiten Staatengemeinschaft an. Das 2. Vatikanische Konzil befreite eine halbe Milliarde Katholiken von Sündenpein und Höllenangst. Die sexuelle Entgrenzung gestand tiefsten Wünschen Normalität zu. Die Frauen sollten in allem gleichgestellt sein. Auch die Kinder aus gesellschaftlich benachteiligten Schichten sollten aktiviert, befähigt und gestärkt werden. Und wer trotzdem nicht mithalten konnte, bekam Ersatzeinkommen bei Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Invalidität, Mutterschaft.

Freihandel und Freizügigkeit wurden eingerichtet. Währungen waren keine Völkergefängnisse mehr, sondern frei umtauschbar und erlaubten Reisen, Auswanderung und freie Geldanlage. Im Wirtschaftsrecht wurden die allgegenwärtigen Kartelle und die Insidergeschäfte verbannt. Die kleinen Aktionäre erhielten mehr Rechte und Informationen, die Konsumenten und Arbeitnehmer wurden geschützt. Deutschland wurde nach 1945 zu parlamentarischer Demokratie geführt. Die europäische Einigung sollte einen Raum des Rechts und der Sicherheit schaffen. Das Drehmoment des Lebens nach Art der westlichen Gesellschaft wickelte sich in strikter Konsequenz weiter ab. Wesentliche Momente, nicht alle, streuen bis nach Wladiwostok und Schanghai. Das alles wurde zu einem Rausch des Enfranchisement – ein Mehr an Freiheit und Ordnung wurde erstritten.

Rechte auf alles für alle

Und nun geht es immer weiter im Script: Zuwanderung ohne Grenzen. Stimmrecht für Ausländer. Mehrheitsentscheide in der Europäischen Union, auch wenn so kleine Staaten und Gruppen überstimmt werden. Gleiches formalisiertes Recht für jede Form des Zusammenlebens oder des Kinderhabens Kinderloser. Bedingungsloses Grundeinkommen. Freigabe aller Rauschmittel. Keine Noten und Prüfungen. Zuteilung von Studienplätzen und Stellen nach Quoten. Die 28-Stunden-Woche. Arbeitsurlaub auf Kosten der Firmen: für Väter, für Weiterbildung, wegen Menstruation. Ein Recht auf Arbeit. Ein Recht auf ein Haustier. Rechte für Tiere. Willkomm für Wölfe, Luchse, Biber und Bären in Siedlungsgebieten. Öffentlicher Verkehr, Museen, Opern, Universitäten ohne Gebühren. Aufkauf, dann Streichung der Staatsschulden durch die Notenbanken. Helikoptergeld für alle Bürger. Zuletzt wurde in Frankreich gefordert, nicht mehr nur die «journées du patrimoine» (Tage des Kulturerbes) zu feiern, sondern auch die «journées du matrimoine». Wie andere Gedankenlosigkeiten des Entgrenzens belegt dieser Spruch, dass sich die Geschichte zuerst als Tragödie, dann als Farce wiederholt – sagte schon Karl Marx.

Kann es immer so weitergehen? Nein, die Entgrenzung gehört begrenzt zu sein und hat folgende sechs Punkte zu beachten. Denn es gibt Grenzen der Entgrenzung, die genauso identitär, genauso dem westlichen Fortschrittsimpetus eigen sind wie die Entgrenzung selbst.

1. Forderungen nach weiterer Entgrenzung müssen begründet, durchgerechnet und finanziell gesichert werden – sie sind nicht als argumentfreie Schuld am Gesellschaftsspin an sich hinzunehmen. Denn viele Forderungen, so zum Beispiel die Verdrehung der Sprache wie bei «matrimoine», haben nichts für sich als das Formelement der steten Entgrenzung. Die Gründe müssen in der Sache liegen.

2. Viele lebensweltliche Formen können ziemlich folgenlos entgrenzt werden. Was bisher nur von viktorianischen, von aussen aufgelegten Regeln eingeschränkt wurde, kann entgrenzt werden. Jeder, jede darf jeden, jede lieben: das bringt keine Wände zum Einsturz, das betrifft keine Dritten. Ausnahmen gibt es dennoch: wenn etwa gleichgeschlechtliche Partner heiraten und dann auch die nicht mitfinanzierte Rente des andern haben wollen, so belastet dies die anderen Rentenversicherten.

3. Grundrechte sind möglichst allen weit offen zu halten: aber nicht um den Preis der Aufhebung solcher Grundrechte für andere. Denn bereits jetzt breitet sich im Mietrecht, Konsumentenrecht und in Regeln des Arbeitsrechts und der Mitbestimmung Europas eine verstörende Asymmetrie aus – die Rechte den einen, die Kosten und die Entrechtung den andern. So sind Einwanderern die gleichen republikanischen Pflichten und Normen aufzuerlegen wie allen anderen auch. Es gibt keine spezifischen Gruppenrechte für Rechtssetzung, Rechtsprechung, Familie, Religion, im öffentlichen Raum. Es darf auch nicht die Beweislast umgekehrt werden, nur damit behauptete Vergehen praktischer verfolgt werden können. Das Recht auf das Arbeiten darf nicht durch das Arbeitsrecht selbst eingeschränkt sein. Das Eigentumsrecht darf nicht durch multiple Rechte anderer ausgehöhlt werden.

4. Viele der Entgrenzungen und Ermächtigungen bewirken Kosten. Diese Kosten sollen nicht leichtfertig einigen anderen oder gar allen anderen, also dem Staat, auferlegt werden. Sollen diese Kosten von anderen getragen werden, dann nur unter gewichtender Prüfung und eingedenk des Problems der Demokratie, wo die vielen die wenigen zu Kosten verpflichten können, aber nicht immer sollen. Fehlt diese Selbstbindung der demokratischen Mehrheit, streiken die Leistungsträger, und der Zerfall droht. In Europa geschieht das bereits, beim Mieteigentum, durch Abwanderung, Steuervermeidung oder durch die Wahl von Firmenstandorten. Wenn der Staat selbst über immer mehr Kontrollen und Vorschriften verfügt und öffentliches Interesse für die Ausweitung dieser Rechte geltend macht, dann soll er nicht auch noch Gebühren dafür erheben dürfen. Dies würde die Bürokratie sofort ausbremsen.

5. Es muss die Regel der Umkehrbarkeit gelten. In seinem Werk «Weltethos» hielt der Theologe Hans Küng fest, dass die Schaffung von gesellschaftlichen Zuständen und die Zuschreibung von Rechten und Anrechten, die aus faktischen Gründen nie und nimmer wieder rückgebaut werden können, unethische Politik seien. Für mich zählen da der Bau von Atomkraftwerken, die Geldschwemme der Notenbanken und die Schaffung des Euro dazu. Verschiedene, weit getriebene, unhaltbare Zustände von Enfranchising in der Sozialpolitik wurden und werden – unter Mühen und Vorwürfen – rückgebaut: die Sozialhilfe unter Präsident Clinton, das deutsche Arbeitslosenrecht mit den Hartz-IV-Reformen, die Rentensysteme in Schweden, Polen und Italien, die Invalidenversicherung in der Schweiz – letztere unterstützt von der Mehrheit des Volks. Der Umgangston bei solchen Rückbauten nach Missständen oder Überforderung der Kassen muss allen den gleichen ethischen Stand zubilligen, den Umverteilern gleichermassen wie den Masshaltenden.

6. Die Freiheit und der Fortschritt hingen und hängen an der Ordnung des Nationalstaats. Natürlich nicht in seiner verkommenen Variante des einheitlich erzwungenen Volks- oder Sprachenstaats, so wie vor 1945, sondern als Regelbindung einer Einwohnerschaft durch Geschichte und Willen, auf umgrenztem Territorium. Der Nationalstaat ist Garant der Grundrechte, der Durchsetzung vor Gerichten, der Rechtssetzung sowie der Renten, der Organisation des Territoriums, der Sozialpolitik, der Bildung, der Infrastrukturen und deren Versorgung und Entsorgung. Er leistet, was keine übernationale Organisation zu leisten vermag. Übernationaler Regelungen bedarf es nur dann, wenn der eine souveräne Staat auf andere Nationen einwirkt. Oder der Nationalstaat kann freiwillig aus Opportunität Harmonisierungen des Handels, der Versorgung eingehen. Die Freiheit der Bürger und auch ihr Wohlstand nehmen mit Dezentralisierung, mit Kleinstaaten überproportional zu. Das ist ebenso historisch belegter und erfahrener Fakt, wie dass der Wettbewerb verschiedenster nationaler Lösungen den Fortschritt brachte. Die Union des «immer engeren Zusammenschlusses» in Europa als unterstellter Ausdruck des alten Spins, als seit einiger Zeit durch höchstrichterlichen Spruch, nicht durch Parlamente, auferlegtes Enfranchising, ist ein Missbrauch. Sie beseitigt zudem den Wettbewerb der Lösungen, also den Fortschritt.

Auf allen erwähnten Politikfeldern gehörte früher die Äquivalenz der Pflichten, Rechte und Lasten zum Grundkanon der Gesellschaft. Solidarität rührt aus dem lateinischen «in solidum»2 her, wonach jeder nach seinen Kräften beizutragen hat, und nicht, dass einige nur beziehen, andere nur bezahlen. Die wohlfahrtsstaatliche Rundumversorgung, der überall angetragene Schutz und die immer breiter verteilten Anrechte machen aus ehemals selbsttätig verantwortlichen Bürgern eine Mehrheit von Opfern. Anwaltschaftliches Reden wie «Die Leute verstehen das nicht, die Leute können sich nicht wehren» ergreift immer neue Bereiche.

Mit den immer stärker ausgebreiteten Anrechten hängen auch psychologische Kosten zusammen. Wenn bisher Positionen und Anrechte in jahrzehntelanger Arbeit verdient und erdauert werden mussten, diese nun aber plötzlich durch einen Federstrich allen zustehen, entwertet der Staat gesellschaftliches Kapital und dünnt es auf alle aus. Ein bisher beschränktes Gut steht plötzlich allen zu und wird so entwertet. Eigenverantwortliche Anreize entfallen auch dann, wenn etwa an Renten und Zulagen allen gleichviel ausbezahlt wird – ob sie nun gearbeitet, beigetragen, gespart haben oder nicht. Oder wenn Fachhochschuldiplome plötzlich auch Universitätsrang haben. Oder wenn Sekundarschüler und Volksschüler eingeebnet werden. Oder wenn das Bürgerrecht den Straffälligen, Zuwanderern oder Sozialhilfeempfängern sofort zugeteilt wird (eine Entwicklung, die derzeit in vielen Staaten wieder umgekehrt wird).

Auf den Konferenzen und auf den Schlussfotos der G20 finden sich neben Staatspräsidenten die nichtgewählten Funktionäre des internationalen Regelbetriebs: der Weltbank, des Weltwährungsfonds, der OECD, der EU, der WTO. Dazu haben die schottischen und britischen Gründerväter des Enlightenments und des Enfranchisements, also der Aufklärung und der Freilassung, nicht aufgerufen. Es gibt noch genug zu befreien: aber nicht um den Preis der Befreiung von den sechs Grundeinverständnissen der westlichen Gesellschaft.

Die Entgrenzung muss begrenzt sein! Denn das Recht auf alles verdirbt das Recht.

  1. Der britische Habeas Corpus Act von 1679 war das Recht Verhafteter auf eine unverzügliche Haftprüfung vor Gericht und ein historischer Schritt zum Rechtsstaat.

  2. auf das Ganze, für die Gesamtsumme.

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