«Putin hat die Büchse der  Pandora des geopolitischen  Wahnsinns geöffnet»
Chelsea Manning, fotografiert von Daniel Jung.

«Putin hat die Büchse der
Pandora des geopolitischen
Wahnsinns geöffnet»

Der Krieg in der Ukraine führe zu einer Aufspaltung des Internets und der globalen Finanzordnung, sagt Whistleblowerin Chelsea Manning. Langfristig erwartet sie eine Auflösung der Nationalstaaten.

 

Chelsea Manning, was können Sie über den Krieg in der Ukraine sagen?

Ende Januar konnte man beobachten, dass das Pentagon seine hochrangigen Offiziere und Zivilbeamten die ganze Nacht durcharbeiten liess. Da wurde mir klar, dass etwas im Gange ist. Wenn der Pentagonparkplatz nach 21 Uhr noch gut gefüllt ist, dann ist etwas los.

Sie beobachten so was?

Nicht persönlich, aber ich kenne Leute, die das beobachten. Aber denken wir für einen Moment über Russland nach. Aus der Sicht von Wladimir Putin macht es Sinn, sich ein Gebiet anzueignen, das er kontrollieren kann und mit relativer Leichtigkeit übernehmen kann. Und das, ohne die ganze Welt gegen sich aufzubringen, eine humanitäre Katastrophe auszulösen oder das Militär jahrelang in einem Sumpf feststecken zu lassen. Denkbar ­gewesen wäre etwa eine kleinere Invasion, wie beispielsweise nur in den Donbass. Oder eine, die versucht, die Krim über den Landweg mit dem Rest Russlands zu verbinden.

Für viele überraschend hat Putin die Ukraine dann aber von mehreren Seiten angegriffen.

Hätten die russischen Streitkräfte Kiew wie geplant innerhalb von 72 Stunden eingenommen, würden wir jetzt eine ganz andere Diskussion führen. Doch jetzt sitzt das Regime in der Klemme, weil es eine humanitäre Krise verursacht hat und sein gesamtes Militär unter schweren Verlusten eingesetzt hat. Die Verlustzahlen, die ich aus Quellen habe, die nicht dem ukrainischen Verteidigungsministerium angehören, deuten darauf hin, dass Russland katastrophale Verluste in bezug auf seine Kampfkraft hinnehmen muss. Seine Fähigkeit, jemals wieder einen Krieg zu führen, wird durch diese Invasion stark beeinträchtigt. Russland ist ja ein Land von kontinentaler Grösse. Die Armee zieht im wesentlichen alle Ressourcen, alle Fahrzeuge und Waffen aus dem Osten ab, so dass der gesamte östliche Teil sehr verwundbar wird. Vom Pazifik bis nach Kasachstan steht nun alles offen. Japan etwa hat seine Ansprüche auf die Nordinseln der Kurilen bereits wieder verstärkt. Putin hat die Büchse der Pandora des geopolitischen Wahnsinns geöffnet. Und das ist sehr beängstigend.

«Wir werden mehr und mehr

eine Aufspaltung und

Abschottung des ­Internets erleben.

Getrennte Finanz­systeme,

getrennte ­Währungssysteme,

getrennte Wege,

Handel zu betreiben.»

Viele befürchten nun gar einen Atomkrieg. Sie auch?

Ich glaube, dass es einen Zeitpunkt der Kampfeinsätze in der Ukraine gab, an dem Russland taktische Atomwaffen in Betracht gezogen hat. Doch nun ist der Punkt, an dem das aus taktischer oder strategischer Sicht nützlich gewesen wäre, wohl überschritten. Russland hat stattdessen den Artilleriebeschuss als Methode gewählt, um Ziele und befestigte Stellungen zu schwächen. Die Art und Weise, wie diese Militärs heutzutage arbeiten und denken, hat das Risiko der garantierten gegenseitigen Zerstörung eher gesenkt. Ein Einsatz von Nuklearwaffen kann nicht aus­geschlossen werden. Zu erwarten ist aber eher ein lokal begrenzter Einsatz im eher kleineren Massstab. Ich glaube auch nicht, dass wir nun zurück im Kalten Krieg sind. Der Kalte Krieg war eine viel stabilere Zeit als die, die wir jetzt erleben.

Für mich war das Ausmass des Angriffs eine Überraschung. Doch auch das Ausmass der Sanktionen ist beispiellos. Ich denke, sie werden erfolgreich sein. Was glauben Sie?

Die Sanktionen ermöglichen eine Reihe von Methoden und Mitteln, die wir bisher noch nicht kannten. Im Gegenzug versuchen nun BRIC-Staaten wie Russland und China, alter­native Systeme für die Abwicklung von Zahlungen und Bankgeschäften sowie für die Überprüfung von Eigentum zu schaffen. Sie versuchen, Alternativen zum heutigen Bretton-Woods-System aufzubauen, ihre eigene Version des IMF zu schaffen und so potentiellen Kundenstaaten Kredite zu gewähren. Das ist ihnen bisher zwar nicht gelungen, aber sie arbeiten daran. Ich denke, dass wir mehr Alternativen zum westlichen Bretton-Woods-System sehen werden. Die Tür zu all diesen verschiedenen…