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Die Myside-Verzerrung
Steven Pinker. Bild: René Ruis / Keystone.

Die Myside-Verzerrung

Sogar wenn statistische Daten vorliegen, verfälschen unsere politischen, religiösen oder kulturellen Grundannahmen die Analyse umstrittener Sachfragen. Dagegen immun ist keine Seite des politischen Spektrums.

 

Der Drang, sich durchzusetzen oder als Besserwisser aufzutrumpfen, erklärt unsere Irrationalität in öffentlichen Angelegenheiten nur zum Teil. Eine weitere Erklärung bietet sich an, wenn wir das Problem im Rahmen evidenzbasierter Politik betrachten. Senken Massnahmen zur Waffenkontrolle die Kriminalitätsrate, weil weniger Kriminelle sich Waffen beschaffen können, oder erhöhen sie sie, weil gesetzestreue Bürger sich nicht mehr schützen können?

Hier sehen Sie Daten aus einer hypothetischen Studie über Städte, in denen verdeckt getragene Handfeuerwaffen verboten wurden (erste Zeile) oder nicht (zweite Zeile). Die Spalten geben jeweils die Anzahl der Städte an, in denen die Kriminalitätsrate sank (linke Spalte) oder anstieg (rechte Spalte). Würden Sie aufgrund dieser Daten darauf schliessen, dass Waffenkontrolle ein wirksames Mittel zur Verbrechensbekämpfung ist?

 

Kriminalitätsrate gesunken Kriminalitätsrate gestiegen
Waffenkontrolle 223 75
Keine Waffenkontrolle 107 21

 

De facto sprechen die (erfundenen) Daten dafür, dass Waffenkontrolle die Kriminalitätsrate erhöht. Man kommt leicht zum falschen Schluss, weil einem die hohe Zahl der Städte mit Waffenkontrolle, in denen die Kriminalität abgenommen hat, 223, ins Auge sticht. Das könnte aber auch einfach heissen, dass die Verbrechensrate im ganzen Land, Politik hin oder her, gesunken ist und dass es gemäss einem politischen Trend mehr Städte gab, die ein Waffenverbot ausgesprochen haben, als Städte, die darauf verzichteten. Was wir uns jeweils anschauen müssen, ist das Verhältnis der Zahlen. In Städten mit Waffenkontrolle beträgt es etwa drei zu eins (223 gegenüber 75), in Städten ohne hingegen rund fünf zu eins (107 gegenüber 21). Also besagen die Daten, dass eine Stadt ohne Waffenkontrolle besser dran war als mit.

Für die richtige Antwort braucht man ein gewisses Zahlenverständnis – die Fähigkeit, nicht auf den ersten Eindruck zu vertrauen und die erforderlichen Berechnungen durchzuführen. Wer in Mathe nicht so beschlagen ist, tendiert dazu, sich von der grossen Zahl blenden zu lassen und zu folgern, dass Waffenkontrolle funktioniert. Der entscheidende Punkt dieses Versuchs, der vom Rechtswissenschafter Dan Kahan und seinen Mitarbeitern entworfen wurde, waren jedoch die Antworten der mathematisch versierteren Befragten. Die Rechenkünstler unter den Republikanern gaben meist die richtige Antwort, die Rechenkünstler unter den Demokraten meist die falsche. Das liegt daran, dass die Demokraten von vornherein glauben, dass Waffenkontrolle wirksam sei, und sich nur zu gern auf Daten stützen, die zu besagen scheinen, dass sie immer schon recht hatten. Weil Republikanern der Gedanke an die Wirksamkeit von Waffenkontrollen sauer aufstösst, nehmen sie die Daten umso schärfer ins Visier und entdecken, wenn sie gut rechnen können, das richtige Muster.

«Die Myside-Verzerrung ist kein generelles

Persönlichkeitsmerkmal, sondern drückt stets die Knöpfe,

die die Identität der denkenden Person berühren.»

Vielleicht führen die Republikaner ihr gutes Abschneiden bei dem Test ja darauf zurück, dass sie objektiver sind als diese sentimentalen Liberalen, aber natürlich hatten die Forscher auch eine Versuchsvariante auf Lager, in der den Republikanern eine reflexartig falsch gegebene Antwort nahegelegt wurde. Sie tauschten die Spaltenüberschriften einfach aus, so dass die Daten nun besagten, Waffenkontrolle sei wirksam – ohne Verbote gab es fünfmal mehr Städte mit erhöhter Verbrechensrate, mit Verboten nur dreimal mehr. Dieses Mal waren die mathebegabten Republikaner die Dummköpfe und die Demokraten die Einsteins. Bei einem Kon­trollexperiment wählte das Forscherteam ein Thema, das weder bei Demokraten noch bei Republikanern reflexhafte Reaktionen auslöste: Es ging um die Frage, ob sich ein Hautausschlag mit einer bestimmten Creme erfolgreich behandeln liess. Weil nun keine Fraktion ein spezielles Interesse an dem Ergebnis hatte, schnitten die mathebegabten Republikaner und Demokraten gleich gut ab. In einer jüngeren Metaanalyse von 50 Studien, die der Psychologe Peter Ditto und seine Mitarbeiter durchführten, bestätigte sich das Muster bei einer Untersuchung nach der anderen: Abhängig davon, ob eine wissenschaftliche Schlussfolgerung ihre zentralen Thesen stützte oder nicht, stimmten Liberale und Konservative ihr zu oder lehnten sie ab, und sie begrüssten oder kritisierten ein und dieselbe politische Massnahme abhängig davon, ob sie von demokratischen oder republikanischen Politikern vorgeschlagen wurde.

Vom Ende gedacht

Von der politischen Überzeugung abhängige Rechenfähigkeiten und andere Formen verzerrter Bewertungen verdeutlichen, dass wir auch dann gezielt für oder gegen eine Schlussfolgerung argumentieren, wenn uns das keinerlei persönlichen Vorteil verschafft. Es genügt schon, dass die Folgerung die Korrektheit oder edlen Absichten derjenigen politischen, religiösen, ethnischen oder kulturellen Gruppe unterstreicht, der wir uns zugehörig fühlen. Der selbsterklärende Fachbegriff dafür ist «Myside-Verzerrung», und sie beeinflusst alle Arten des Schlussfolgerns, selbst die Logik. Wie erwähnt, hängt die Gültigkeit eines Syllogismus nicht von seinem Inhalt ab, sondern von seiner Form, doch wir lassen unser Wissen ein Wörtchen mitreden und nennen ein Argument dann gültig, wenn am Ende eine Schlussfolgerung steht, von der wir wissen oder wünschen, dass sie wahr ist. Das Gleiche passiert, wenn die Folgerung uns politisch in den Kram passt:

Wenn Hochschulzulassungen fair sind, sind Gesetze
für Fördermassnahmen von benachteiligten Gruppen nicht mehr erforderlich.

> Die Hochschulzulassungen sind nicht fair.

Deshalb sind Gesetze für Fördermassnahmen von

benachteiligten Gruppen erforderlich.

 

Wenn Menschen durch mildere Strafen davon abgehalten werden, Verbrechen zu begehen, sollte die Todesstrafe nicht zur Anwendung kommen.

> Mildere Strafen halten Menschen nicht davon ab,
Verbrechen zu begehen.

> Deshalb sollte die Todesstrafe zur Anwendung kommen.

 

Sollen Probanden die Logik dieser Argumentationen beurteilen (bei beiden liegt der formale Fehlschluss der Verneinung des Antezedens vor), nicken Liberale fälschlich die erste ab und erklären die zweite korrekterweise für ungültig; bei Konservativen ist es umgekehrt.

In «Die Marx-Brothers im Krieg» fragt Chico Marx bekanntlich: «Wem wollen Sie nun glauben? Mir oder Ihren Augen?» In den Fängen der Myside-Verzerrung sollte man lieber nicht den eigenen Augen trauen.

Bei der Neuauflage einer klassischen Studie, die aufzeigte, dass Footballfans stets mehr Regelverstösse bei der gegnerischen Mannschaft beobachten, präsentierten Kahan und Mitarbeiter ihren Versuchspersonen ein Video von einer Protestaktion vor einem Gebäude. Wurde die Aktion als Protest gegen Abtreibung in einer Klinik für Schwangerschaftsabbrüche deklariert, erkannten Konservative darin eine friedliche Demonstration, während Liberale sahen, dass die Demonstranten den Eingang blockierten und die Eintretenden bedrohten. Deklarierte man sie als Protest gegen den Ausschluss Homosexueller vor einem Rekrutierungsbüro des Militärs, waren es die Konservativen, die Mistgabeln und Fackeln auszumachen glaubten, und die Liberalen Mahatma Gandhi.

«Abhängig davon, ob eine wissen­schaftliche Schluss­folgerung ihre ­

zentralen Thesen stützte oder nicht, stimmten Liberale und

Konser­vative ihr zu oder lehnten sie ab.»

In einer Zeitschrift erschien ein Bericht über die Waffenkon­trollstudie; die Überschrift lautete: «Die deprimierendste Erkenntnis über das Gehirn aller Zeiten». Zweifellos gibt es einige Gründe, um deprimiert zu sein. Zum einen sind Einstellungen, die dem wissenschaftlichen Konsens entgegenstehen, wie der Kreationismus und die Leugnung des menschengemachten Klimawandels, möglicherweise gar nicht Symptome von Rechenschwäche oder wissenschaftlichem Analphabetismus. Wie Kahan fest­gestellt hat, haben die meisten Glaubenden und Leugner gleich wenig Ahnung von den wissenschaftlichen Fakten (so meinen viele Leute, die an den Klimawandel glauben, er habe mit Giftmülldeponien und dem Ozonloch zu tun). Doch immer lässt sich anhand ihrer politischen Einstellung ihre Überzeugung vorher­sagen: je weiter rechts, desto vehementer das Leugnen.

Konkurrierende Teams

Zum anderen ist die Myside-Verzerrung trotz aller Reden über die Replikationskrise nur allzu leicht replizierbar. In «The Bias That Divides Us» entdeckt der Psychologe Keith Stanovich sie bei Menschen aller Rassen, Geschlechter, Denkstile, Bildungsniveaus und IQ-Quantile, sogar unter denjenigen, die zu klug sind, um auf andere kognitive Verzerrungen, wie den Prävalenzfehler und den Spielerfehlschluss, hereinzufallen. Die Myside-Verzerrung ist kein generelles Persönlichkeitsmerkmal, sondern drückt stets die Knöpfe, die die Identität der denkenden Person berühren. Stanovich sieht einen Zusammenhang mit unserer jeweiligen politischen Einstellung. Wie er vermutet, leben wir nicht in einer «postfaktischen» Gesellschaft. Das Problem ist vielmehr, dass wir in einer Myside-Gesellschaft leben. Es gibt die linke und die rechte Seite, und beide Seiten glauben an die Wahrheit, haben aber unvereinbare Vorstellungen davon, wie diese Wahrheit aussieht. Die Verzerrung hat in zunehmendem Masse von unseren Überlegungen Besitz ergriffen. Dass sich Mund-Nasen-Masken in einer Pandemie in politische Symbole verwandeln, ist das jüngste augenfällige Symptom dieser Polarisierung.

Es ist zwar schon lange bekannt, dass Menschen den Drang verspüren, sich in konkurrierende Teams aufzuteilen, aber es ist unklar, warum es heutzutage die Links-rechts-Spaltung ist, die dafür sorgt, dass sich die Rationalität der beiden Seiten in entgegengesetzte Richtungen bewegt, und nicht die üblichen Bruch­linien von Religion, Rasse oder Schicht. Die Rechts-links-Achse korrespondiert mit mehreren moralischen und ideologischen Dimensionen: hierarchisch versus egalitär, libertär versus kommunitär, Thron und Altar versus Aufklärung, tribalistisch versus kosmopolitisch, tragische versus utopische Visionen, Kultur der Ehre versus Kultur der Würde, auf Bindung versus auf Individualisierung ausgerichtete Moral. Dass in letzter Zeit jedoch Kehrt­wenden in der Frage zu beobachten sind, welche Seite für welche Sache eintritt – beispielsweise bei Einwanderung, Handel oder Sympathie für Russland –, lässt vermuten, dass sich die politischen Lager zu soziokulturellen Stämmen gewandelt haben, statt kohärente Ideologien zu vertreten.


Dieser Text ist ein Auszug aus Steven Pinkers neuem Buch «Mehr Rationalität: Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes» (S.-Fischer-Verlag, 2021). Aus dem Englischen übersetzt von Martina Wiese.

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