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Langweiler haben uns reich gemacht
Deirdre McCloskey, fotografiert von Maartje Geels.

Langweiler haben uns reich gemacht

Der wirtschaftliche und kulturelle Erfolg des Westens wurde möglich dank einer neuen ­Wertschätzung bürgerlicher Tugenden. 1848 begann ein neues Zeitalter in Europa.

 

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Der schweizerisch-britische Philosoph und Autor Alain de Botton sagte über seine Heimatstadt Zürich einmal stolz, ihre «einzigartige Lektion für die Welt liegt darin, dass sie uns daran erinnert, wie wahrhaft fantasievoll und menschlich es sein kann, von einer Stadt nichts anderes zu erwarten, als langweilig und bürgerlich zu sein».

Er zitierte Montaigne, jenen anständigen Adligen, der von einem Fischhändler abstammte und im 16. Jahrhundert ähnlich wohlwollend über das bürgerliche Leben schrieb: «Eine Bresche zu schlagen, eine Botschaft zu leiten, eine Nation zu beherrschen sind glorreiche Taten.
Tadeln, lachen, kaufen, verkaufen, lieben, hassen, anständig und gerecht mit sich und seinen Nächsten leben ist schwieriger.»

Ein anständiges und gerechtes Zusammenleben ist wunderbar und menschlich. Es hat uns in den vergangenen zwei Jahrhunderten in den Industrieländern sehr, sehr reich und zumindest ein wenig tugendhafter gemacht. Wir sind reicher an Nahrungsmitteln und Wohnraum und an Bildung und Lebenserwartung, das Einkommen pro Person ist real um den Faktor 10 oder 30 oder 50 gestiegen, wir haben auch die Sklaverei und die Unterwerfung der Frauen beendet, wir sorgen uns um die Uiguren auf der anderen Seite des Erdballs und schlagen Pferde nicht mehr. Wir sollten aufhören, uns dafür zu schämen, so bürgerlich zu sein, aufhören, uns von Träumen von jungenhaftem militärischem Heldentum und mädchenhaftem spirituellem Heldentum hinreissen zu lassen. Das wahre Heldentum echter Erwachsener zeigt sich in ihren täglichen Kämpfen, nicht in den Schiessereien und Verfolgungsjagden, welche Teenager in die Kinosessel locken. Es ist nicht schlimm, erwachsen und verantwortungsbewusst zu sein, zur Mittelschicht zu gehören und sein Leben damit zu verbringen, für andere zu sorgen – in der Börse und zu Hause.

«Kapitalismus» ist ein irreführendes und wissenschaftlich dummes Wort, das vor über einem Jahrhundert von Marx’ Anhängern eingeführt wurde. Ein wissenschaftlich genaueres Wort für das, was nach 1800 geschah, ist «Innovismus». Explosive Innovationen haben in den letzten zwei Jahrhunderten die Armen reich gemacht, inzwischen selbst in China und demnächst auch in Indien. Die Schweizer haben sich von dem zweifelhaften Geschäftsmodell verabschiedet, junge Männer in die Kriege Europas zu exportieren, und sind stattdessen zu einer der reichsten Nationen geworden, ausgestattet mit BMWs und Zentralheizungen und Ausbildungen in drei oder vier Sprachen.

Der grosse Reichtum der Schweizer, deren Einkommen von 3 Franken pro Tag im Jahr 1800 auf heute rund 200 Franken pro Tag gestiegen ist, ist darauf zurückzuführen, dass das Bürgertum in den letzten zwei Jahrhunderten die aristokratischen und priesterlichen Leidenschaften, die Europa so lange geplagt haben, langsam, aber stetig verdrängt hat. Nicht dass diese Leidenschaften völlig verschwunden wären. Sie tauchen in Putins orthodoxem ­Nationalismus und Maduros heiligem Sozialismus auf, in beiden Fällen zur Rechtfertigung von Tyrannei.

Den Kuchen vergrössern

Um den Übergang zu einem bürgerlichen Zeitalter zu erfassen, brauchen Sie nur die europäischen Romane dieser Ära zu lesen, von Henry Fielding bis Max Frisch. Sie sind nicht im Stile Shakespeares geschrieben, der «Harry, England and St. George» verherrlichte. Selbst Tolstois «Krieg und Frieden» stellt weder militärisches noch geistiges Heldentum dar. Die europäischen Romane erzählen nicht von den edlen Nöten der Ritter und Heiligen, sondern vom gewöhnlichen Leben, das Sie und ich, die langweiligen Spiessbürger, führen. Amos Oz nannte Thomas Mann «den Liebhaber und Moralapostel des bürgerlichen Zeitalters». Manns erster erfolgreicher Roman, «Buddenbrooks» aus dem Jahr 1901, erzählte von seiner eigenen Kaufmanns­familie in der Stadt Lübeck, wo «die geschäftlich hochachtbaren Bürger mit so unvergleichlich ehrenfester Miene das Trottoir mit ihren Spazierstöcken stiessen». Was ist daran falsch?

«Wir sollten aufhören,

uns dafür zu schämen,

 so bürgerlich zu sein.»

Die Wurzel des grossen wirtschaftlichen Aufstiegs ist die Freiheit, die Freiheit, deren theoretisches Fundament im Liberalismus des 18. Jahrhunderts gelegt und die 1848 in ganz Europa entfacht wurde, nach einer langen und düsteren Reaktion auf die Französische Revolution und Napoleons Zwangsliberalisierungen und Tyranneien. Die Entfachung führte nicht zu einem sofortigen Flächenbrand, sondern zu einem sich langsam ausweitenden Feuer, das die Schweiz mit der Gründung des Bundesstaats von 1848 und ihr zunehmendes Engagement für die Freiheit erfasste. Der Liberalismus hat uns reich gemacht, nicht die nationalistischen Abenteuer oder die Umverteilungen des demokratischen Sozialismus. Wir sind reich geworden, indem wir den wirtschaftlichen Kuchen gigantisch vergrössert haben, nicht indem wir den Kuchen in Kriege umgeleitet oder anders aufgeteilt haben. Die Erfindung der Schweizer Demokratie, des Schweizer Föderalismus, des Zellophans, des Klettverschlusses, der Alufolie, der weissen Schokolade (meine Schweizer Lieblingserfindung), der Computermaus, der Programmiersprache Pascal ebenso wie die beherzte Anwendung der Dampfmaschine, der Eisenbahn, der Elektrizität, des Tunnelbaus, der Wasseraufbereitung und des Frauenstimmrechts (nun ja…) haben die Schweiz und den Rest von uns aus dem alten Elend von 1800 in den angenehmen Wohlstand von 2022 gebracht.

Die Möglichkeiten eines Menschenlebens wurden enorm erweitert. Ja, wir können sie vergeuden, indem wir den ganzen Tag vor dem Fernseher dahinvegetieren und indem wir sogar exzessiv weisse Schokolade essen. Doch die edelsten Erweiterungen des menschlichen Lebens in Kunst und Wissenschaft, Nächstenliebe und Grossherzigkeit waren nur möglich, weil Menschen aus Bergdörfern in pulsierende Städte wie Genf oder Lugano zogen. Die Impulse für diese Erfolge kamen fast alle von der Wirtschaft, nicht vom Staat. Die Spezialität des Staates ist der Zwang, und das ist auch gut so. Wenn die Deutschen einmarschieren, muss jeder Schweizer dem Staat gehorchen und zum Gewehr greifen. Aber man macht keine Geschäfte, indem man die Leute mit dem Schwert zur Zahlung von Mieten zwingt oder sie wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen verbrennt. Auf lange Sicht werden faschistische Regime wie das von Xi Jinping auch wirtschaftlich scheitern. Es gibt kein erfolgreiches «chinesisches Modell». Wirtschaftlicher Liberalismus ist der einzige Weg zum Wohlstand, und Xi zerschlägt die Freiheit. Wenn sich ein Regime nur durch die Ermordung von Journalisten und Angriffe auf freie Länder an der Macht halten kann, haben die Tyrannen dann gewonnen? Auf lange Sicht nicht.

Der Zusammenhang zwischen Freiheit und Innovismus war jeder Handelsrepublik bekannt, von Athen bis Venedig, von Nowgorod bis Osaka – auch wenn Athen und Venedig ihn zugegebenermassen regelmässig vergessen haben. Im Gegensatz zu der Kriegsmetapher, die Politiker immer wieder verwenden, ist die Wirtschaft sanft und menschlich: «Ich biete Bankdienstleistungen, Medikamente, Uhren, elektrische Maschinen. Darf ich Ihnen etwas davon verkaufen?»

Die Aufwertung der Bürgerlichkeit in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, im Vereinigten Königreich im 18. Jahrhundert und in der Schweiz im 19. Jahrhundert führte dazu, dass der Rest der Gesellschaft aufhörte, die Aktivitäten der Generäle und Herrscher überzubewerten, und begann, die friedlichen und toleranten Berufe des Bürgertums wertzuschätzen. Zwar fielen wir immer wieder zurück, im Stile Hitlers. Aber die geschäftstüchtigen Schweizer haben die Aufwertung der Bürgerlichkeit früh angenommen. Das letzte Mal, dass sie gegeneinander zu den Waffen griffen, war im Sonderbundskrieg, in dem sich traditionsgemäss Katholiken und Protestanten bekämpften, aber nur für wenige Tage im November 1847. Eine Amerikanerin ist verblüfft, dass dieses Ereignis als «Bürgerkrieg» bezeichnet wird. Etwa 100 Menschen starben beim einzigen Ausbruch der europäischen Revolutionen von 1847/48 in der Schweiz. In den USA haben einige lokale Arbeiterstreiks mehr Todesopfer gefordert. Wir Amerikaner haben vierzehn Jahre später gezeigt, wie man einen richtigen Bürgerkrieg führt: 1487 Tage Gefechte und rund 600 000 Tote. Ausgegangen war er von einer antibürgerlichen Bewegung der romantischen, sklavenhaltenden Südstaatler. Er ist nie ganz zu Ende gegangen. Die Schweizer haben damit aufgehört und sich wieder der Wirtschaft zugewandt. Na ja, mehr oder weniger.

Das Recht, etwas zu wagen

Die Intellektuellen Europas brachten nach 1700 drei grosse politische Ideen auf den Weg, die alle drei im Jahr 1848 zu grosser Bekanntheit gelangten. Die früheste und beste war der Liberalismus. Es handelt sich um die verblüffende Idee, entstanden in den Köpfen von Voltaire, Adam Smith und Mary Wollstonecraft, dass die alten Hierarchien von Gutsherrn und Bauer, Obrigkeit und Untertan, Ehemann und Ehefrau umgestossen werden könnten. Smith nannte es «das offensichtliche und einfache System der natürlichen Freiheit». Der Liberalismus sagte schlicht und einfach, dass niemand ein Sklave sein oder wie ein erwachsenes Kind behandelt werden sollte. Der Liberalismus befürwortete – auch wenn sie nie ganz umgesetzt wurde – die Gleichberechtigung; nicht die Chancengleichheit, sondern das Recht, etwas zu wagen, vom Bergdorf in die Stadt zu ziehen, in Bern ein Unternehmen zu gründen oder das Rote Kreuz aufzubauen. Eine solche Gleichberechtigung hatte lange Zeit die Städte geprägt, es sei denn, Zünfte griffen ein, um den Zugang zu regulieren. Stadtluft macht frei. Nun sollte die liberale Gleichberechtigung für alle gelten.

«Der Erfolg der Schweizer Uhr

in der jüngeren ­Vergangenheit

liegt nicht im Klassenkampf

begründet oder im Nationalstaat oder

der Kohle, ja nicht ­einmal

in der Wissenschaft;

­der Grund für den ­Erfolg

ist die ­Aufwertung

des bürgerlichen ­Verhaltens.»

Die beiden anderen grossen Ideen, die 1848 europaweit Ausdruck fanden, waren der Nationalismus und der Sozialismus. Beide waren ausserordentlich schlechte Ideen, wie das 20. Jahrhundert zweifelsfrei zeigen sollte. Beide stellten die alten Zwänge wieder her, für König und Land oder für Revolution und Regulierung. Beide gingen davon aus, dass Handel ein Nullsummenspiel sei, dass Deutschland Lebensraum brauche oder dass es den Arbeitern besser gehe, wenn man andere Arbeiter zu etwas zwinge. Der Liberalismus hingegen stellte sich eine Welt der positiven Summen vor, die von befreiten Erwachsenen bevölkert wird, und erreichte prompt eine positive Summe in unvorstellbarem Ausmass.

Die Aufwertung der bürgerlichen Tugenden

Und wie? Trotz des Widerstands vieler Intellektueller begann die Welt, die bürgerlichen Städte aufzuwerten. Die Aufwertung der Bürgerlichkeit war kein «Aufstieg des Bürgertums», wenn man damit den Aufstieg einer vergrösserten Bourgeoisie zur politischen Macht meint. Ausserhalb der verstreuten Stadtrepubliken wurde dieser Schritt lange hinausgezögert. Zwar heisst es immer, dass die Mittelschicht «aufsteigt» – und doch hat sie selbst unter den höflichen und geschäftstüchtigen Briten erst in jüngster Zeit Respekt gefunden. Es ist noch nicht lange her, dass Grossbritannien von Aristokraten regiert wurde. Winston Churchill wurde im Blenheim Palace als Spross einer Familie von Herzögen geboren, und er zeigte es.

Der Erfolg der Schweizer Uhr in der jüngeren Vergangenheit liegt nicht im Klassenkampf begründet oder im Nationalstaat oder der Kohle, ja nicht einmal in der Wissenschaft; der Grund für den Erfolg ist die Aufwertung des bürgerlichen Verhaltens, einer gesteigerten, wenn auch manchmal verschämten Akzeptanz bürgerlicher Tugenden durch andere und durch das Bürgertum selbst – des Tadelns, Lachens, Kaufens, Verkaufens, dieser so wenig glorreichen Taten. Diese Tugenden waren lediglich die alten Tugenden, die nun in kommerzieller Form zum Ausdruck kamen. Zuerst in Holland, dann in den englischsprachigen Ländern und schliesslich auch anderswo änderte sich die Einstellung. Alexis de Tocqueville, ein scharfsinniger Beobachter der neuen Gleichberechtigung, schrieb 1835: «Wenn ich sehe, welche Wendung das politische Leben in England dem menschlichen Geist gegeben hat, wenn ich den Engländer sehe (…), von dem Gefühl beseelt, dass er alles tun kann (…), habe ich es nicht eilig, nachzuforschen, ob die Natur für ihn Häfen ausgeschaufelt oder ihm Kohle oder Eisen gegeben hat.» 1853, nach dem ernüchternden Scheitern der liberalen Revolution in Frankreich, schrieb er: «Die Gefühle, die Ideen, die Sitten (…) allein können zu öffentlichem Wohlstand und Freiheit führen.» Und wie.

Die moderne Welt, die 1847/48 auf Gedeih und Verderb voranschritt, wurde mit anderen Worten von ethischen Ideen bestimmt. Eine davon war die liberale Idee der Gleichberechtigung. Zwei andere waren die Ideen des Hasses auf den Feind der Nation oder der Masse.

Die Schweizer wissen seit langem, welche sie wählen müssen. Deshalb liebe ich sie. Und ihre weisse Schokolade.


Aus dem Englischen übersetzt von Lukas Leuzinger. Der Artikel ist in der Originalsprache verfügbar.

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