Israels militärische Überlegenheit verbirgt Schwächen
Mit dem Angriff auf den Iran will die Regierung Netanjahu die Machtbalance im Nahen Osten dauerhaft verändern. Die Aktion könnte sie aber nicht nur innenpolitisch, sondern auch international unter Druck setzen. Eine politisch-strategische Analyse.

Die Bilder und Nachrichten aus dem Iran sind spektakulär: Mossad-Agenten operieren ungestört mit Drohnen; Kampfflugzeuge fliegen über der Hauptstadt Teheran und über Mashhad, 2300 Kilometer von Israel entfernt; Spitzel und Abhörtechniken werden reihenweise iranischen Generälen zum Verhängnis. Israels militärische Übermacht ist eklatant – wenn auch nicht überraschend; man denke an Operationen wie die Ermordung des Atomprogrammchefs Mohsen Fakhrizadeh mit einem ferngesteuerten Maschinengewehrroboter im Jahr 2020.
Gleichzeitig fehlen Jerusalem jedoch eine Exit-Strategie und ein politischer Horizont. Israel hat innen- wie aussenpolitische Schwachpunkte. Der militärischen Stärke Israels im Iran stehen die materiell-wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Auswirkungen der iranischen Raketenangriffe auf Israel gegenüber – ebenso wie der Umstand, dass Israel dabei ist, die Iranerinnen und Iraner, die bereits Hunderte zivile Tote beklagen, zu einen. Vor diesem Hintergrund ist dieser Text ein Versuch, Israels Angriff und Irans Reaktion politisch-strategisch zu analysieren.
Israels Entscheidung, den Iran anzugreifen, und der momentane militärische Erfolg beruhen auf vier Faktoren. Schon seit zwei Jahrzehnten ist die Ausschaltung des iranischen Atomprogramms für Premier Benjamin Netanjahu ein Pfeiler seiner Ambition, als echter Staatsmann in die jüdische Geschichte einzugehen. Und bereits seit 2010 bereiten sich Israels Armee (Budget 2024: 46,5 Milliarden US-Dollar) und der Mossad systematisch im Rahmen eines asymmetrischen Schattenkriegs auf einen offenen Krieg mit dem Iran (7,9 Milliarden Dollar) vor. Hinzu kamen Trumps grünes Licht und die Einschätzung Jerusalems nach der Ausschaltung der Hisbollah, dem Fall Assads und Irans Schwäche im letztjährigen Schlagabtausch mit Israel, dass ein Angriff das Risiko wert sei – und «der Weg nach Teheran frei ist», um Luftwaffenchef Tomer Bar zu zitieren. Bis jetzt ist die Rechnung aufgegangen. Im offenen Krieg unterliegt Iran Israel klar.
Es gibt einen kaum versteckten fünften, innen- wie aussenpolitischen Faktor: Netanjahu und seine Regierung – insbesondere Rechtsradikale wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir sowie ähnlich gesinnte Likud-Mitglieder – wollen die israelische und internationale Öffentlichkeit vom Gazakrieg ablenken. Momentan funktioniert das – zumindest teilweise. Einige Demonstrationen, die die Befreiung der Geiseln fordern, gehen weiter. Und Stimmen, die – wie Ex-Premier Ehud Olmert – von Kriegsverbrechen sprechen oder – wie Historiker Lee Mordechai – gar von Genozid, sind schon seit diesem Frühling weniger marginalisiert. Ein Beispiel: Hunderte Menschen, vor allem Frauen, säumen neuerdings in Tel Aviv schweigend die Wege zu Demonstrationspunkten und halten Bilder getöteter palästinensischer Kinder hoch. Die Reaktionen seien besser als befürchtet: «Die Leute weinen, sagen ‹alle Ehre und Danke›.» Währenddessen geht der Krieg erbarmungslos weiter. Am Dienstag tötete die israelische Armee 51 Palästinenserinnen und Palästinenser, die in einem der nur fünf Nahrungsverteilzentren in Gaza auf Lebensmittel warteten.
«Schon seit zwei Jahrzehnten ist die Ausschaltung des iranischen Atomprogramms für Premier Benjamin Netanjahu ein Pfeiler seiner Ambition, als echter Staatsmann in die jüdische Geschichte einzugehen.»
Triumphalismus und Nervosität
Ermutigt durch die Erfolge gegen Hisbollah, Jemen und Syrien und erfüllt vom Willen, die Machtbalance im Nahen Osten zu verändern, spricht Jerusalem offener denn je nicht nur von Atombomben, sondern auch von einem Regimewechsel. In seiner Kriegsansprache am Freitag betonte Netanjahu: «Unser Kampf ist gegen die brutale Diktatur gerichtet, die euch Iranerinnen und Iraner seit 46 Jahren unterdrückt. Ich glaube, der Tag der Befreiung ist nahe – und dann wird die grosse Freundschaft zwischen unseren zwei alten Völkern wieder aufblühen.» Hier schwingen Ereignisse sowohl aus der Antike wie aus der Neuzeit mit: Im Jahr 539 v. Chr. befreite der persische König Kyros der Grosse die Juden aus der babylonischen Gefangenschaft. 2500 Jahre später, in den 1950er- bis ’70er-Jahren, kooperierten der Iran und Israel gegen nationalistische arabische Regime wie das von Gamal Abdel Nasser in Ägypten, und 2023 traf der Sohn des letzten Schahs Netanjahu in Jerusalem.
Am Sonntag erklärte der Chef von Israels Nationalem Sicherheitsrat, Tzachi Hanegbi, dass «es für Irans politische Führung keine Immunität gibt. Sie sind ebenso Israelhasser wie die Kommandeure in Uniform. Aber es gab keine Entscheidung, sie ins Visier zu nehmen – zumindest nicht in der Anfangsphase.»
Solche Aussagen, ergänzt durch die Behauptung von US-amerikanischen Regierungsquellen, Trump habe einen israelischen Plan zur Ermordung von Ayatollah Ali Khamenei unterbunden, sind auch Teil von israelischen und US-amerikanischen Einschüchterungstaktiken. Dasselbe Ziel – mit anderen Mitteln – verfolgt die Zerstörung des zentralen Gasdepots und der wichtigsten Ölraffinerie Teherans am Samstag. Jerusalem will bestenfalls eine Revolution provozieren – die Iranerinnen und Iraner sind seit langem zornig, unter anderem wegen durch Misswirtschaft verschärfter Stromengpässe – und mindestens einen Raketenstopp erzwingen.
Das wiederum verrät eine Spur Nervosität im Jerusalemer Triumphalismus. Die wenigen nicht abgefangenen ballistischen Raketen verursachen grosse Schäden, der Luftverkehr liegt lahm, Israels Kreditratings drohen weiter zu sinken; der Angriff kostet 600 Millionen Franken pro Tag – indirekte Kosten nicht eingerechnet –, und bereits wird hitzig darüber diskutiert, wie lange die israelische Bevölkerung nächtliche Alarme und Einschläge psychologisch und politisch akzeptieren wird.
«Jerusalem will bestenfalls eine Revolution provozieren.»
Gleichzeitig sind Irans konventionelle militärische Optionen limitiert und/oder riskant. Die Hisbollah im Libanon kann nicht helfen, und Syrien kann vom iranischen Militär gegen Israel nicht mehr genutzt werden. Im Iran hat Israel derzeit noch genügend nachrichtendienstliche Informationen, um weitere hochrangige Offiziere zu liquidieren; die Kommandostruktur ist geschwächt, was das Regime aggressiver oder kompromissbereiter machen könnte. Teheran verfügt schätzungsweise nur noch über 2000 ballistische Raketen, Tendenz fallend; diese müssen in massiven Salven abgefeuert werden, damit einige ihr Ziel erreichen. Angriffe auf US-Basen oder der Versuch, den Persischen Golf für die Schifffahrt – inklusive Öltanker – zu sperren, würden einen amerikanischen Gegenschlag provozieren.
Was wird Teheran nun tun? – Das ist die Frage der Stunde. Eine Möglichkeit ist, dass der Iran wieder zu verhandeln versucht – entweder aus echtem Interesse oder um Trumps faktische Unterstützung Israels zu untergraben. Gleichzeitig bieten sich fünf Opportunitäten. Zwei reflektieren iranische Stärken.
- Erstens könnte Teheran seine Unterstützung Russlands im Ukrainekrieg nutzen, um Putin um Vermittlung gegenüber Trump zu bitten. Putin würde das begrüssen – es stärkt seine Position –, die Ukraine nicht und der Iran langfristig auch nicht, da er noch abhängiger von Russland würde.
- Zweitens und viel wichtiger: Israels Angriff schweisst Iranerinnen und Iraner zusammen. Am Mittwoch sprachen beide Kommentare auf der Titelseite einer der wichtigsten zentristischen Tageszeitungen Teherans, «Sharq», von der Chance zu «Einigkeit». Das Regime wirkt weniger illegitim, da es nun auch Regierung einer angegriffenen Nation ist – und spielt diese Karte aus. Khamenei ernannte den allseits respektierten Admiral Habibollah Sayyari zum neuen Armeechef, und in einer Rede an die Nation hob Präsident Masud Pezeshkian «den Märtyrertod zahlreicher Kinder, Frauen und unschuldiger Zivilisten» hervor. Natürlich ist diese Annäherung zwischen Regime und Bevölkerung begrenzt und fragil – auch weil der Staat auf die durch Israel verschärfte Wirtschaftskrise und lokale Flüchtlingsströme schlecht vorbereitet ist. Aber man sollte sich daran erinnern – wie viele Iranerinnen und Iraner betonen –, dass der Iran acht Jahre Golfkrieg inklusive irakischer Luft- und Raketenangriffe auf iranische Städte überlebt hat. Vor diesem Hintergrund könnte das Regime, falls noch weiter militärisch in die Enge getrieben, aggressiver werden. Oder aber es könnte gewisse gemässigt oppositionelle Kreise kooptieren und eine politische Öffnung wagen, um – wenn auch in revidierter Form – an der Macht zu bleiben.
- Die drei anderen Opportunitäten ergeben sich aus Schwächen der USA und Israels. Die Isolationisten in Trumps heterogener Koalition sind derzeit wütend auf ihn und auf Israel. Eine eskalierende US-Militäraktion oder ein Anstieg der Ölpreise könnten Trump politisch gefährden.
- Israels interne Schwächen wurden bereits benannt. Hinzu kommen aussenpolitische Schwächen – etwa die derzeit lauwarme Unterstützung einiger europäischer Regierungen – und, was schwerer wiegt, ein regionales Defizit: die politischen und strategischen Folgen der hemmungslos eingesetzten militärischen Macht. Von 2017 bis 2019 unterstützten die Golfstaaten Trumps und Israels Hardliner-Kurs gegen den Iran, der damals als zu stark galt. Heute erscheint Israel – nicht nur in Gaza – als unkontrollierbar und unberechenbar. Die regionale Machtbalance gerät aus den Fugen. Die scharfe Verurteilung Jerusalems durch die Golfstaaten könnte eine Kurskorrektur andeuten. Die Rhetorik hat sich jedenfalls geändert: Riads «brüderliche Islamische Republik Iran» war 2017 noch ein «neuer Hitler».
«Sind Irans konventionelle militärische Optionen limitiert und/oder riskant.»
Will Teheran Trump in den Krieg hineinziehen?
Was sind die Konsequenzen dieser Opportunitäten? Das ist die Gretchenfrage für Teheran, das an einem Scheideweg steht. Das Problem ist: Politische und wahrscheinlich auch militärische Mittel zur Verfolgung einer Option könnten andere beschädigen oder ausschliessen. Teheran könnte etwa versuchen, Washington in den Krieg hineinzuziehen, um Trump innenpolitisch zu treffen. Das würde jedoch die Ölschifffahrt beeinträchtigen und die Golfstaaten verprellen.
Ähnlich tückisch ist die Frage, wie Teheran sein Atomprogramm weiterverfolgen will: geheim und militärisch, was einen regionalen Nuklearwettlauf provozieren könnte, oder offen und zivil in einem Konsortium, das auch die Golfstaaten einbindet. Erste entsprechende Überlegungen wurden im Frühjahr bereits in Teheran, Washington und Riad angestellt. Vielleicht wird Teheran nun versuchen, Trump in ein solches multilaterales Konsortium einzubinden – bislang kaum denkbar –, um Israel künftig einhegen zu können. Gleichzeitig wird Teheran Washington auf lange Zeit nicht mehr bilateral vertrauen. Die Frage ist nicht, wann genau Trump von Israels Angriffsentscheidung wusste – vielleicht erst vergangenen Montag. Entscheidend ist, dass er grünes Licht gab, aber die Verhandlungen mit dem Iran nicht abbrach – und damit de facto zum aktiven Komplizen Jerusalems wurde.
Niemand kann genau sagen, wie und wann dieser Krieg enden wird. Aber eines steht fest: Israels militärische Übermacht im Iran ist nur ein Faktor in dieser Konfrontation – wenn auch momentan der wichtigste. Je länger der Krieg dauert, desto bedeutender werden andere, politische, strategische und wirtschaftliche Faktoren – in Israel, im Iran, in den Golfstaaten und darüber hinaus. Diese gilt es zu beobachten – und zugleich den Krieg in Gaza nicht aus dem Blick zu verlieren.