Im Spektakel der Präsenz
Marco Baschera & André Bucher (Hrsg.): «Präsenzerfahrungen in Literatur und Kunst». München: Fink, 2008.
Die Repräsentation ist eine Macht, ihr ist nur schwer zu entkommen. Wir lesen Romane, als wären sie Abbildungen wirklicher Welten. Zeichen nehmen wir als das wahr, wofür sie stehen. Die Welt der Kunst scheint eine Welt der Verdoppelung zu sein: was anderswo präsent ist, wird im Werk re-präsentiert. Die Materialität des Werkes erscheint in dieser Perspektive als Medium; sie bringt etwas zur Darstellung, sich selber stellt sie aber nicht dar. Was in Erscheinung tritt, vertritt etwas anderes.
Erstaunlich ist die Hartnäckigkeit, mit der sich diese Vereinfachung hält. Zeichen verweisen, auch wenn sie auf anderes verweisen, auf sich selber: Als Darstellende stellen sie immer auch sich selber zur Schau. Dieser Aspekt wurde selbstverständlich nicht erst gestern entdeckt, er wurde aber als Nebeneffekt des Repräsentierens angesehen. Es ist die Aufmerksamkeit darauf, was den Begriff der Präsenz hilfreich erscheinen lässt. Die Repräsentation wiederholt nicht nur eine Präsenz, sie hat selber eine Präsenz. Insofern sie sich im Vollzug zeigt – im Akt des Lesens, beim Betreten eines Gebäudes, beim Betrachten eines Kunstwerks, beim Hören von Musik – ist Präsenz immer Präsenzerfahrung.
Solcher Überlegungen und konkreter Präsenzerfahrungen nimmt sich ein Sammelband an, der aus einer Tagung am Seminar für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich (2004) hervorgegangen ist. Weit ist der Raum, der sich durch die Beiträge öffnet. Da wird mit der Form der platonischen Dialoge ernst gemacht und die Gegenwärtigkeit des Denkvollzugs ins Zentrum gestellt; da wird im Rhythmus von Hölderlins Versen «présence» als «pré-sens» untersucht; da wird die Anwesenheit als Grundtatsache des Theaters und der Bild-Erfahrung thematisiert.
Es ist das grosse Verdienst der Herausgeber, dass sie neben den Diskursen unterschiedlicher Wissenschaften auch Stimmen bedeutender Künstler aufgenommen haben: die Schriftsteller Franz Josef Czernin, Felix Philipp Ingold und Eleonore Frey sprechen, jeder auf eigene Art, mehr oder weniger direkt, von ihren Erfahrungen beim Schreiben. Der Filmer Hannes Schüpbach denkt über die Präsenzbewegung im Gleiten der Bilder nach, der Komponist Gérard Zinsstag über den flüchtigen Charakter der Musik. Die 15 Seiten Bildtafeln, das Herzstück des schön gestalteten Bandes, vermitteln einen Eindruck von der Präsenz eines Platzes: der vom Fotografen und Künstler Hans Danuser mit Schieferplatten gestaltete Zentrumsplatz einer psychiatrischen Klinik in Graubünden wird in der Lektüre von Marco Baschera wie eine Bühne durchschritten, wie eine Schiefertafel beschrieben und als eine vorzeitliche räumliche Konstellation gelesen. Man wird nach Beverin fahren müssen, um sich ihr auszusetzen.
vorgestellt von Jürg Berthold, Zürich