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«Für die roten Aristokraten war die offene Gesellschaft nie eine Option»
Desmond Shum, zvg.

«Für die roten Aristokraten war die offene Gesellschaft nie eine Option»

Der chinesische Unternehmer Desmond Shum erzählt, warum die Kommunistische Partei seine ­Ex-Frau entführt hat. Westliche Länder dürften nicht länger die Augen verschliessen vor den ­totalitären Tendenzen Pekings.

Read the english version here.

Desmond Shum ist in die höchsten Etagen des chinesischen Staatskapitalismus aufgestiegen. Zusammen mit seiner langjährigen Ehefrau Whitney Duan brachte er es mit Investitionen in Firmen und Immobilienprojekte zu einem Wohlstand, von dem sie nie zu träumen gewagt hätten. Dabei halfen dem Paar Beziehungen zu einflussreichsten Amtsträgern der Kommunistischen Partei. Mit der Zeit wurden jedoch seine Zweifel am Kurs des Regimes immer grösser. 2017 folgte der Schock: Shum verlor den Kontakt zu Duan, von der er inzwischen geschieden war. Die damals reichste Frau Chinas war von der Partei entführt worden. Sie ist kein Einzelfall: Immer wieder verschwinden Leute, die Kritik äussern oder dem System lästig werden, so etwa der Tech-Unternehmer Jack Ma oder jüngst die Tennisspielerin Peng Shuai. Shum, der heute in London lebt, hat ein eindrückliches Buch über den kometenhaften Aufstieg des Paars und die Rache des Regimes geschrieben, das nun auf Deutsch erschienen ist.

 

Herr Shum, im Vorfeld der Olympischen Winterspiele in Peking haben mehrere Regierungen einen diplomatischen Boykott ­angekündigt. Schadet das dem Regime?

Desmond Shum: In bezug auf die Reputation ganz bestimmt. Die Boykotte spiegeln die Entwicklung der vergangenen Jahre wider. Seit Xi Jinping 2012 an die Macht ­gekommen ist, hat sich Chinas Ansehen in der Welt dramatisch verschlechtert. Eine Umfrage von Pew Research zeigte kürzlich, dass die Menschen in vielen Ländern die Volksrepublik heute viel negativer wahrnehmen als noch vor fünf oder sechs Jahren. Vor allem die europäischen Staaten hatten früher ein recht positives Bild; heute hat China fast überall einen schlechten Ruf.

Wie sollten westliche Regierungen mit den Menschenrechts­verletzungen in China umgehen?

Zunächst einmal müssen sich die Länder im Klaren dar­über werden, ob sie China als Konkurrenten oder als Feind der westlichen Demokratie sehen. Mit einem Konkurrenten kann man zusammenarbeiten; mit einem Feind liegen die Dinge jedoch ganz anders. Im Moment sehen die USA China eher als Feind, während sich Europa unschlüssig ist. Viele Politiker scheuen sich, einen härteren Kurs gegenüber China zu fahren, weil sie einen Rückgang des Handels und der Investitionen vermeiden wollen.

Das Verschwinden der Tennisspielerin Peng Shuai, die den ­ehemaligen Premierminister Zhang Gaoli der sexuellen ­Nötigung beschuldigt hatte, hat zu einem internationalen ­Aufschrei geführt. Waren Sie von den Ereignissen überrascht?

Nein, das ist die typische Art und Weise, wie das Regime auf eine solche Situation reagiert. Wer in China den Rang eines Ministers oder höher erreicht hat, gehört zu einer Klasse von Unberührbaren, selbst wenn man, wie Zhang, im Ruhestand ist. Leute dieser Klasse haben, ausser in einem politischen Machtkampf, von der Justiz nichts zu befürchten. Sexueller Missbrauch ist im politischen System Chinas sehr verbreitet. Denn die politische Macht übertrumpft alles. Die Partei steht über der Judikative – daher wird die Justiz die Vorwürfe gegen Zhang nicht untersuchen. Was mit Peng Shuai geschehen ist, ist gleichermassen typisch. Wer solche Anschuldigungen äussert, wird von der Kommunistischen Partei sofort zum Schweigen gebracht. Sie löscht einen im Internet und hält einen fest, damit man nicht noch mehr Lärm macht. Allein der internationalen Aufmerksamkeit ist es zu verdanken, dass Peng dann plötzlich wieder in den öffentlichen Medien auftauchte.

Was wird nun mit ihr passieren?

Sie wird verschwinden. Vielleicht nicht physisch, ganz sicher aber aus den öffentlichen Medien Chinas.

Warum lässt das Regime Menschen verschwinden?

Es gibt verschiedene Gründe. Etwa, dass jemand dem System unangenehm wird. Man begeht zwar kein Verbrechen, aber man ist der Partei lästig, und so lässt sie einen verschwinden. Eine zweite Möglichkeit ist, dass sie einen dazu bringen will, eine Straftat zuzugeben. Man hat das Verbrechen zwar nicht begangen, aber solange man nicht gesteht, kommt man nicht frei. Die dritte Möglichkeit ist, dass das Regime einen dazu bringen will, eine andere Person zu ­belasten. Im Prinzip ist eine solche Entführung ein Akt psychologischer Kriegsführung: Die Entführer halten einen in Einzelhaft, führen Gehirnwäschen durch, verwehren einem jeglichen Kontakt zur Aussenwelt – und es gibt kein zeitliches Limit. Wer zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, auch wenn es zehn Jahre sind, kann die Tage zählen, bis er oder sie freikommt. Wenn man aber entführt wird, ist man völlig der Willkür des Entführers ausgeliefert. Früher oder später verlieren die meisten die Hoffnung.

Ihre Ex-Frau Whitney Duan wurde vom Regime entführt und war vier Jahre lang verschwunden. Wer ist sie?

Whitney kommt aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Sie schaffte es auf die Universität und wurde eine erfolgreiche Unternehmerin. Was ihr Leben – und meines – veränderte, war die Bekanntschaft und die Zusammenarbeit mit der Frau des damaligen Premierministers Wen Jiabao. Wir wurden ihre Geschäftspartner. Ich glaube, das ist der Hauptgrund, warum Whitney entführt wurde.

Wie ist sie verschwunden?

Eines Tages im Jahr 2017 verschwand sie einfach auf offener Strasse. Am selben Tag wurden auch drei ihrer Kollegen entführt. Sie wurden nach drei Jahren Gefangenschaft freigelassen, ohne dass Anklage gegen sie erhoben worden wäre.

Und was geschah mit Whitney?

Vergangenen September, vier Jahre nach ihrer Entführung und zwei Tage vor Erscheinen meines Buches, rief sie mich an. Sie bat mich inständig, die Veröffentlichung abzusagen, und deutete an, dass ihr oder unserem Sohn etwas zustossen könnte, wenn ich es nicht täte. Das war definitiv ein Schock für mich. Ich hatte nicht mit einer so schnellen Reaktion des Regimes gerechnet.

Wie haben Sie reagiert? Hatten Sie Angst, dass die Veröffent­lichung Whitney oder jemand anderem schaden könnte?

Als ich Ende 2019 mit dem Buch begann, hoffte ich, ihr damit helfen zu können. Mein Gedanke war: Schlimmer kann es nicht werden. Ich wusste ja nicht einmal, ob sie noch lebte. An meinem Entscheid, das Buch zu schreiben und zu veröffentlichen, hielt ich fest, auch nach dem Anruf.

Wo ist Whitney jetzt?

Sie konnte in ihre Wohnung zurückkehren, aber sie scheint nur begrenzte Freiheiten zu haben. Ich habe nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie darf nur mit einer begrenzten Anzahl von Personen kommunizieren, und es ist ihr verboten, das Land zu verlassen.

Haben Sie Angst um Ihr Leben?

Ich habe keine Ahnung, was passieren wird. Ich führe mein Leben einfach weiter wie bisher. Sehen Sie: Wenn die Kommunistische Partei beschliesst, etwas zu tun, bin ich machtlos. Als ich mich zur Veröffentlichung des Buches entschied, ergab ich mich meinem Schicksal.

Beschreiben Sie Ihren Werdegang. Wie sind Sie zu erfolgreichen Unternehmern und Investoren geworden?

Ich wurde in Schanghai geboren; als ich zehn Jahre alt war, zog meine Familie nach Hongkong. Ich besuchte das College in den USA. Nach meinem Abschluss begann ich für eine amerikanische Private-Equity-Firma in Hongkong und ab 1997 in Peking zu arbeiten. Mein Leben änderte sich, als ich Whitney kennenlernte. Unsere Zusammenarbeit mit der Frau des Premierministers eröffnete uns ganz neue Möglichkeiten. Mein Aufstieg spiegelt den Aufstieg Chinas wider. In den 1990er-Jahren begann das Land, wirtschaftlich richtig durchzustarten. Damals konnte sich niemand vorstellen, dass China einmal die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt sein würde. Es ist eine dramatische Entwicklung.

Wie funktioniert das Geschäftsleben in einem System, das ­formell immer noch kommunistisch ist und in dem die ­Wirtschaft unter strenger Kontrolle des Staates steht?

Ein Aspekt des formell kommunistischen Staates ist die Rolle der politischen Macht. In China dreht sich alles um Macht. Um Geschäfte zu machen, muss man mit dem politischen System verbunden sein. Selbst wenn Sie einen kleinen Lebensmittelladen betreiben, brauchen Sie Beziehungen, etwa zum Polizisten in Ihrer Strasse. Je grösser das Unternehmen ist, desto weiter oben muss man politische Sponsoren finden.

«In China dreht sich
alles um Macht.
Um Geschäfte zu
machen, muss man
mit dem politischen System verbunden sein.»

2001 trat China der Welthandelsorganisation WTO bei. Sie ­erwarteten, wie viele im Westen, dass wirtschaftliche Libera­lisierung und Wachstum zu mehr politischer Freiheit führen würden. Warum hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt?

Wir spürten damals eine nie dagewesene Freiheit und einen frischen Wind in der chinesischen Gesellschaft. Der wirtschaftliche Austausch mit der Welt nahm zu. Ich erinnere mich noch an die Aufregung, als die «Vogue» zum ersten Mal in Peking verkauft wurde. Alle glaubten, dass China den westlichen demokratischen Gesellschaften ähnlicher werden würde – die einzige Frage war, wie schnell dieser Wandel ablaufen würde. Heute ist mir klar, dass viele, auch ich, naiv waren. Für die roten Aristokraten – die Nachkommen der kommunistischen Elite, die 1949 die Macht übernommen hatte – war die offene Gesellschaft, die wir erwarteten, nie eine Option. Die rote Aristokratie ist sehr geschlossen. Ihre Mitglieder besuchen andere Schulen als der Rest der Bevölkerung, sie heiraten oft untereinander, und die Macht wird von einer Generation zur nächsten weitergegeben – Xi Jinping ist der Sohn eines kommunistischen Führers der ersten Generation. Warum sollten sie eine Veränderung wollen? Warum sollten sie die Macht aufgeben wollen?

Gab es einen bestimmten Punkt, an dem Sie merkten, dass sich das Land in eine andere Richtung entwickelte, als Sie gehofft hatten?

Ein Schlüsselereignis war die Finanzkrise. Die chinesische Führung sagte: Seht her, wie der Westen wirtschaftlich taumelt, während wir relativ unbeschadet durch den Sturm gesegelt sind. Das Gebaren des Regimes begann sich zu ändern. In meiner Firma wurde eine Zelle der Partei installiert. Die Ministerien änderten die Bewilligungsverfahren für private Unternehmen. Staatliche Konzerne holten sich Bereiche zurück, die man zuvor Privaten überlassen hatte.

Wird der autoritäre Trend in China anhalten?

Autoritär war die Kommunistische Partei schon immer. Nun aber geht sie mehr und mehr von einem autoritären zu einem totalitären Modell über. Sehen Sie sich an, wie das Regime die Bevölkerung mit Hunderten von Millionen von Überwachungskameras im ganzen Land überwacht. Schauen Sie sich an, wie es alle Diskussionen im Internet überwacht, selbst private. Das ist ein totalitäres System.

Sie sind in Hongkong aufgewachsen. Ist die Demokratie in der Stadt noch zu retten?

Die Demokratie in Hongkong ist bereits verschwunden. Wir sehen, wie mehr als zehntausend Menschen verhaftet und zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt werden, nur weil sie an einer Demonstration teilnehmen.

War es Peking jemals ernst mit dem Prinzip «Ein Land, zwei Systeme»?

Wenn man sich die Geschichte der Kommunistischen Partei ansieht, stellt man fest, dass sie viele Vereinbarungen getroffen und kaum eine eingehalten hat. Das begann mit dem Waffenstillstand mit den Nationalisten 1945 während des Bürgerkriegs, den die Kommunisten brachen, bevor sie das Land übernahmen. In den 1950er-Jahren versprach die Partei den Unternehmern, dass sie ihr Privateigentum ­behalten könnten; kurz darauf wurden sie enteignet. Das Regime hat sich auch nie wirklich an das WTO-Abkommen gehalten. Der Bruch des Grundsatzes «Ein Land, zwei Systeme» ist keine Ausnahme.

Viele westliche Unternehmen wollen in China investieren und am wirtschaftlichen Aufstieg des Landes teilhaben. Ist das klug?

Wie gesagt müssen sich die westlichen Länder entscheiden, ob sie es mit einem Konkurrenten oder einem Feind zu tun haben. Natürlich ist China heute die zweitgrösste Volkswirtschaft, die Versuchung ist also gross, mit dem Land Geschäfte zu machen – wenn man moralische und politische Überlegungen beiseitewischt. Nach 30 Jahren Geschäftserfahrung in China frage ich mich allerdings, ob China seinen wirtschaftlichen Zenit nicht bereits überschritten hat. Die meisten Leute gehen davon aus, dass die chinesische Wirtschaft weiterhin in gleichem Tempo wachsen und die USA in den nächsten fünf oder zehn ­Jahren überholen wird. Das ist nicht mehr plausibel. Die hohen Wachstumsraten sind Geschichte. Man muss bedenken, dass politische Macht in China alles dominiert. ­Sehen Sie sich die Technologiebranche an: Die jüngsten Massnahmen der Regierung haben chinesische Technologiekonzerne zwei Billionen Dollar an Marktkapitalisierung gekostet. Der Einfluss des Regimes verändert die Rechnung für ausländische Investoren entscheidend.

Was ist das grösste Missverständnis über China im Westen?

Es gibt viele Missverständnisse, aber wenn ich mich für eines entscheiden muss: Die Öffentlichkeit und die Politiker im Westen haben wenig Ahnung vom politischen System Chinas. Sie stützen ihre Erwartungen, wie sich Peking verhält, oft auf ihre eigenen Erfahrungen und ihren eigenen Hintergrund. Wir haben es jedoch mit einem völlig anderen System zu tun. Und das chinesische Regime hat ein grosses Interesse daran, das Verhalten anderer Länder zu verändern. Es hat einen Handelskrieg mit Australien begonnen, weil die australische Regierung eine formelle Untersuchung zum Ursprung von Covid-19 gefordert hatte. Als nächstes sagt Peking vielleicht: Wir haben einen Kandidaten für das Amt des UNO-Generalsekretärs, und wer nicht mit uns stimmt, wird bestraft. Das ist eine Herausforderung, der sich westliche Länder nicht entziehen können.

Dies musste kürzlich auch die Schweiz erfahren. Vergangenes Jahr kritisierte der chinesische Botschafter die Regierung für ihre neue China-Strategie scharf, weil darin die Menschenrechte angesprochen wurden.

Das ist es, was ich meine: Peking will das Verhalten anderer Länder ändern. Die Schweiz kuscht vor der Kommunistischen Partei aus Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen. Das ist wirklich schwach.

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