Der Totalitarismus lauert überall
Max Imboden warnte 1963 vor der Bedrohung der Freiheit von aussen und innen. Seine Analyse könnte aktueller nicht sein.
Katja Gentinetta kommentiert «Die Gefahr des totalitären und des autoritären Staates» von Max Imboden.
Die Gefahren des totalitären und autoritären Staats sind allgegenwärtig, auch heute: China wirft sein Gewicht, das es nach einem langen und beharrlichen Aufstieg erlangt hat, in die globale Waagschale. Offen bewirbt es sein autoritäres System als Lösung für weltweite Herausforderungen, so dass Begriffe wie «Systemkonkurrenz» und «neuer kalter Krieg» nicht unpassend sind. Dass Peking dabei globale Spielregeln verletzt und den technologischen Fortschritt auch zur Disziplinierung seiner eigenen Bürgerinnen und Bürger einsetzt, hat im Westen erstaunlich spät zu Irritationen geführt. Vielmehr war man beeindruckt von der Effizienz des Regimes und wünschte sich allenthalben ähnlich griffige Behördenprozesse auch bei uns.
Russland betreibt – nach nur zaghaften Öffnungsversuchen – Demokratie nach innen wie aussen als Schauspiel, und es provoziert das Völkerrecht nach allen Regeln der Kunst. Europa hat dieser offenen Bedrohung wenig entgegenzusetzen und ist selbst nach dem Mordversuch am Oppositionellen Nawalny nicht zu einschneidenden Sanktionen fähig. Die Erdogan-Regierung in der Türkei, um ein Beispiel zahlreicher ins Autoritäre kippender Mittelstaaten zu nennen, fand sogar unter den Türken in Deutschland eine Mehrheit für ihre Verfassungsänderung, die dem Präsidenten bisher ungekannte Macht gibt. Schliesslich sei auf die Erfolge der rechten wie linken Populisten im Westen verwiesen, die lediglich durch die Pandemie ein wenig in den Hintergrund gerückt sind.
Im Aufsatz von Max Imboden aus dem Jahr 1963 geht es um die damals ähnlichen Phänomene: den West-Ost-Konflikt, den Zwangsstaat in Russland und die steigenden Ansprüche an den Staat im Westen. Der Jurist und spätere Nationalrat interessiert sich dabei vor allem für den ideologischen Diskurs. Dem «Idealbild der freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie» im Westen, der die Menschenrechte hochhält, stehe der «Angstraum des östlichen Zwangsstaats» gegenüber, der das Kollektiv beschwört, den einzelnen in den Zustand dauernder Unsicherheit versetzt und Verfassung und Gesetz nur als Fassade hochhält. Ob dieses Schwarz-Weiss-Bild stimme? Nein, sagt Imboden, beschreibt im Anschluss jedoch nicht etwa Grauschattierungen beidseits, sondern vielmehr ein Grau im Westen und ein Dunkelschwarz im Osten. So sei die Vorstellung über Russland zwar hart, aber immer noch ein «freundliches Trugbild» und eine «gutgläubige Verharmlosung». Schonungslos entlarvt er den Kommunismus, der vorgibt, die Menschen zu befreien, und sie stattdessen beherrscht, der den gegenwärtigen Staat überwinden will, ihn jedoch zum Kontrollapparat über sämtliche Lebensbereiche seiner Bürgerinnen und Bürger ausbaut, der einen äusseren Feind beschwören muss, wo keiner ist. Der Kommunismus sei ein «Gebäude des Glaubens», eine «staatliche Heilslehre» und deshalb totalitär.
Indes nutze der Westen, so Imbodens Vorwurf, seine «Chance der Freiheit» nicht. Vielmehr werde der Staat für das persönliche Glück instrumentalisiert. In den Augen der Bürgerinnen und Bürger stelle dieser nur mehr eine «Fürsorge-, Hilfs- und Unterstützungsgesellschaft» dar, eine «Versicherung für das persönliche Wohlergehen». Die Bürger verhielten sich gleich Aktionären, die von ihrem Unternehmen erwarteten, dass ein «greifbarer Nutzen herausschaue». Seine Klage über die Politikmüdigkeit, in der sein ein Jahr später berühmt gewordener Aufsatz über das «Helvetische Malaise» bereits anklingt, wirkt jedoch etwas angestaubt. Die Idee, eine Verfassungsrevision könne eine Gesellschaft, die bereits in Bewegung sei, «revitalisieren», wird denn auch scheitern.
Dennoch könnte der Aufsatz aktueller nicht sein. Imboden erscheint als früher Kritiker am Dienstleistungs- und ausufernden Sozialstaat – ein Vorwurf, der die kommenden Jahrzehnte prägen wird und noch heute zu den gängigen Schreckensvisionen der Liberalen gehört. Seine unbeschönigte Beschreibung der totalitären Herrschaft im Ostblock erinnert an heutige Berichte aus China und anderen autoritären Staaten. Und seine Kritik am Kommunismus ist angesichts der Renaissance des Marxismus in «gesättigten» Volkswirtschaften von höchster Aktualität. Die Vorstellung, man könne mittels Ideologie das Paradies auf Erden schaffen, ist trotz grausamem Versagen offenbar nicht auszurotten.