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«Es wird eine gewisse  Konformität erwartet»
Matthew Crawford, zvg.

«Es wird eine gewisse
Konformität erwartet»

Ob Pandemie oder Klimawandel: Politiker instrumentalisieren die Forschung, um ihre Interessen durchzusetzen. Damit untergraben sie die wissenschaftliche Freiheit.

 

Matthew Crawford, während der Pandemie wurde uns regelmässig gesagt, wir sollten «der Wissenschaft folgen». Bloss: Wer ist «die» Wissenschaft?

Die Wissenschaft wird hier als Autorität angerufen. Und dabei zeigt sich sogleich eine gewisse Spannung: Wissenschaft wird gewöhnlich als Methode der Erkundung angesehen, die ihre eigene Falsifizierbarkeit betont – sie setzt sich stets der Möglichkeit aus, korrigiert zu werden. Eine Autorität, die betont, dass ihre eigene Auffassung der Realität bloss provisorisch sei, ist eine seltsame Form der Autorität – doch in dieser ungewöhnlichen Rolle steckt die Wissenschaft. Wer fordert, der Wissenschaft zu folgen, wischt zudem viele offene empirische Fragen einfach zur Seite. Die Wissenschaft kann versuchen, Risiken zu quantifizieren, und Interessenabwägungen zwischen verschiedenen Optionen beschreiben. Aber sie kann uns die Wahl einer Option nicht abnehmen. Wer vorgibt, dass sie das könnte, entzieht sich der Verantwortung für Entscheide, die letztlich politisch sind.

Warum fordern manche Leute trotzdem, einfach der Wissenschaft zu folgen?

Oft wird auf die Wissenschaft verwiesen, um Souveränität von demokratischen zu technokratischen Instanzen zu verschieben. Dabei geht es um ein grundsätzlicheres Problem. Die Frage, wie viel Macht Experten haben sollten und wie legitim diese Macht sei, ist zuletzt stärker in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt. Viele Leute sehen die antidemokratische Natur von Technokratie skeptisch. Denn die tiefere Tendenz hinter dieser Verschiebung ist die Disqualifizierung des gesunden Menschen­verstands. Und diese führt wiederum dazu, dass wir das Gefühl haben, die eigene Wahrnehmung der Realität zu verlieren – unfähig zu sein, die Realität mit unserem eigenen Verstand zu begreifen. Hinter den Souveränitätstransfers steht eine neue Art der Herrschaftsausübung, die statt auf rationale Überzeugung auf Einschüchterung setzt. Die Wissenschaft wird als Stock verwendet, um die Menschen in die gewünschte Richtung zu prügeln, statt Argumente einzusetzen.

In einem Essay haben Sie kürzlich geschrieben, die Wissenschaft sei korrumpiert worden. Was meinen Sie damit?

Um das zu erklären, müssen wir die Soziologie der Wissenschaft betrachten. Thomas Kuhn betonte in seinem Buch «The Structure of Scientific Revolutions», dass Wissenschaft in der Praxis sozial sei. Die Praxis hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aber ­gewandelt. Wissenschaft wird nicht mehr in kleinen Labors betrieben, sondern von riesigen Teams mit gewaltigen Bürokratien – ich nenne das «Big Science». Wer heute als Wissenschafter Karriere machen will, muss einen Grossteil seiner Zeit damit verbringen, in einem institutionellen Wettbewerb um Forschungsgelder zu buhlen. Dieses Geld kommt hauptsächlich von zentralisierten, bürokratisierten Quellen. Das führt notwendigerweise zu einer Selektion von Personen, die ein solches Leben ansprechend finden. Sie stehen im Kontrast zum Idealbild des Wissenschafters, der eigenständig nach der Wahrheit sucht, wie es etwa Galileo ­Galilei verkörpert. Wissenschaft erfordert heute einiges an politischem Talent. Im schlimmsten Fall entstehen dabei eigentliche Kartelle von Wissenschaftern, die abweichende Ansichten auszuschliessen versuchen. Mechanismen wie Peer-Review bei wissenschaftlichen Zeitschriften können zu informellen Vereinbarungen zum gegenseitigen Schutz werden.

Ähnliches stellen Sie in bezug auf die Laborhypothese zum Ursprung von Covid-19 fest.

Unabhängig davon, ob die Hypothese richtig ist oder nicht, war die Energie, die eingesetzt wurde, um deren Überprüfung zu verhindern, doch aussergewöhnlich. Offensichtlich ist eine solche Untersuchung sehr unangenehm für eine Regierung wie die US-amerikanische, die «Gain of Function»-Forschung unterstützt hat, bei der die Virulenz von Krankheitserregern absichtlich erhöht wird. Da gab es offensichtlich Absprachen mit der Absicht, abweichende Meinungen innerhalb der Wissenschaft zu unterdrücken.

«Die Wissenschaft wird als Stock

verwendet, um die Menschen in

die gewünschte Richtung zu prügeln,

statt Argumente einzusetzen.»

Was war die Motivation dahinter?

Zunächst geht es um persönliche Interessen. Ein Virologe hat beispielsweise ein Interesse daran, die Risiken von «Gain of Function»-Forschung herunterzuspielen. Dabei konnten diese Wissenschafter die politische Polarisierung ausnutzen. Sie schafften es, eine Art Reflex auszulösen in der Elite, indem sie die Hypothese als Verschwörungstheorie bezeichneten. In der Trump-Ära ist dieser Begriff zum Standardwerkzeug geworden, um Widerspruch gegenüber institutionalisierten Autoritäten zu disqualifizieren.

Generell: Wie bewerten Sie die Rolle der Wissenschaft in der Pandemie?

Auf der einen Seite sehen wir den spektakulären Erfolg der Pharmaunternehmen, welche die mRNA-Impfstoffe entwickelt haben. Natürlich gelang ihnen das auch dank staatlicher Unterstützung. Es gibt eine verbreitete Tendenz auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums, die Pharmaindustrie zu dämonisieren; doch in diesem Fall hat sie uns viel geholfen. Auf der anderen Seite wurde die erwähnte Tendenz sichtbar, Dissens zu unterdrücken, und das ist zutiefst bedenklich. Solche Tendenzen sind antiwissenschaftlich.

Wie hat sich Ihr Blick auf den wissenschaftlichen Prozess durch die Pandemie verändert?

Ich habe Physik studiert, bevor ich in Philosophie doktorierte. Ich liebe die Wissenschaft; sie ist für mich der höchste Ausdruck des menschlichen Geistes. Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen Wissenschaft und dem, was wir als Szientismus bezeichnen: der demagogische Rückgriff auf Wissenschaft für politische Zwecke. Die Pandemie hat mich zynischer gemacht, nicht was die Wissenschaft an sich angeht, sondern die Rolle, in die sie gedrängt wurde. Ich kritisiere das genau deshalb, weil ich die Integrität der Wissenschaft bewahren möchte.

Wie konnte denn diese Diskrepanz zwischen Anspruch der Wissenschaft und ihrer Rolle in der Praxis entstehen?

Ich denke, das hat auch mit der politischen Dynamik zu tun nach der Brexit-Abstimmung und der Wahl von Trump 2016. Trump stellte eine existenzielle Bedrohung für die liberale Ordnung dar. Diese Bedrohung verwendete das politische Establishment als Rechtfertigung, um normale Regeln ausser Kraft zu setzen. Plötzlich ging es vor allem darum, auf der richtigen Seite zu stehen. Wer auf der falschen Seite steht, riskiert das Ende seiner Karriere. Das gilt auch für Wissenschafter.

Ist das Teil eines grösseren Trends der Politisierung oder Ideologisierung, nicht nur in den Natur-, sondern auch in den Geisteswissenschaften?

Ja. Jede Art wissenschaftlicher Erkundung, die ein ideologisches Tabu berührt, wird ziemlich ruppig angegangen. Das Gleiche gilt für Forschung, die Interessen der staatlichen Bürokratie oder kommerzielle Interessen bedroht. Es wird eine gewisse Konformität erwartet.

Die Wissenschaft wird zunehmend komplexer. Als Laien können wir viele Zusammenhänge kaum noch durchschauen und sind faktisch gezwungen, den Experten zu vertrauen. Zugleich macht diese Komplexität aber auch den wissenschaftlichen Prozess der Verifizierung und Falsifizierung immer schwieriger – und damit nicht eben vertrauenswürdiger.

Mit der Komplexität geht einher, dass die Wissenschaft zunehmend spezialisierter wird. Das hat beispielsweise Folgen für den Prozess des Peer-Reviews bei wissenschaftlichen Zeitschriften. Schickt ein Forscher einen Artikel an ein Journal, muss dieser kritisch geprüft werden. Doch die Fragestellung ist oft so eng, dass alle, die dafür in Frage kommen, entweder Kollegen oder direkte Konkurrenten sind. Ein für die Integrität der Wissenschaft entscheidender Prozess wird so erschwert.

«Wenn eine Krise aus­gerufen wird,

um Macht von ­demokratischen

zu technokratischen ­Institutionen zu ­verschieben,

sollten wir skeptisch werden.»

Was bedeutet das für die Zukunft, etwa mit Blick auf den ­Klimawandel?

Man kann überzeugt sein von der Realität des Klimawandels und sich gleichzeitig die Frage stellen, wie der wissenschaftliche Konsens darüber entstanden ist. Es gibt politische Akteure mit einem Interesse daran, dass wir die Herausforderungen des Klimawandels als möglichst bedrohlich ansehen. Natürlich ist ein «Klimanotstand» nützlich, um zahlreiche «progressive» Projekte umzusetzen. Es wird uns gesagt, die Lösung der Klimakrise erfordere eine komplette Transformation der Gesellschaft. Es gibt sogar Forderungen nach einem «Klimalockdown» analog zu den Lockdowns wegen Covid-19. Wenn eine Krise ausgerufen wird, um politische Entscheidungsmacht von demokratischen zu technokratischen Institutionen zu verschieben, sollten wir skeptisch werden.

Sehen Sie einen Rückgang des freien Denkens an Universitäten und darüber hinaus?

Nun, wer heutzutage an Denken interessiert ist, geht eher nicht an eine Universität. Die intellektuelle Atmosphäre hat sich verändert. Viele Studenten und Wissenschafter fühlen sich eingeschüchtert und unter Druck gesetzt, von Aktivisten verbreitete Doktrinen anzunehmen. Ich denke da an die «Critical Race Theory» oder die Gender-Ideologie. Ausserdem verschiebt sich immer mehr Macht von den wissenschaftlichen Mitarbeitern hin zur Verwaltung. Es scheint mir daher, dass das interessanteste Denken heute an anderen Orten stattfindet, etwa bei Substack oder YouTube. Dort geht es ein bisschen wie im Wilden Westen zu, und es ist leicht, sich in irgendeiner verrückten Sache zu verrennen; es gibt keine Gatekeeper, die den Bullshit aussortieren. Aber die Freiheit ist grösser.

Trotzdem sind Sie an einer Universität angestellt.

Ja, aber ich habe eine Fellowship; die geben mir also Geld, ohne wirklich etwas von mir zu verlangen, was ein ziemlich angenehmes Arrangement ist. Ein anderer Aspekt von Universitäten ist, dass sie sich heutzutage stark an der kommerziellen Welt orientieren. Sie behandeln Studenten wie Kunden. Und natürlich muss man Kunden zufriedenstellen. Man darf sie nicht verärgern. Man darf ihre Gewissheiten nicht angreifen, die sie in ihrer ideologischen Blase erworben haben. Wir beobachten inzwischen, wie Studenten ihre Professoren einschüchtern, wenn diese etwas gesagt haben, das als politisch unkorrekt wahrgenommen wurde. Wenn Universitäten sich als kommerzielle Institutionen verstehen, die ihre Kunden zufriedenstellen müssen, geben sie am Ende 20jährigen Studenten nach, statt sie herauszufordern.

Müssen die Universitäten reformiert werden? Oder braucht es eine gänzlich neue wissenschaftliche Institution?

Das Problem ist, dass jede Form von Universität in eine bestimmte Klassenstruktur eingebettet ist. Die Universitäten haben massgeblich zur Entstehung einer technokratischen, meritokratisch geprägten Managerklasse beigetragen, und sie leben von der Verbindung zu deren Macht. Das macht es schwierig, sie zu reformieren. Macht korrumpiert. Dabei wäre der Zweck der Universitäten, nach Wahrheit und Wissen zu streben. Unsere Fähigkeit, die Realität zu begreifen, hängt von diesem Streben nach Wahrheit ab. Wenn die Universitäten einem anderen Ziel dienen, wird ihr eigentlicher Zweck korrumpiert.

Vielleicht müssen wir als Gesellschaft unsere Vorstellung über die Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Politik ändern.

Die Tradition der Aufklärung geht von der Vorstellung aus, dass die Politik auf wissenschaftliche Erkenntnisse abgestimmt wird. Dabei berühren sich zwei unterschiedliche Quellen der Legitimität: die demokratische Legitimität, die auf dem Willen der Bevölkerung basiert, und die wissenschaftliche Legitimität, die zu technokratischer Herrschaft neigt. Diese beiden Quellen in Einklang zu bringen, ist eigentlich die Aufgabe der Bildung. Heute passiert diese Angleichung allerdings eher, indem man sich auf die Wissenschaft als quasireligiöse Form der Autorität beruft.

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