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Von Bauern und Bonzen
Mit der Gruppe «Alte Schwyzer» marschiert der Umzug zur 698. Jahrfeier der Schlacht am Morgarten von Sattel zur Schlachtkapelle Morgarten, am Freitag, 15. November 2013. Bild: Keystone / Sigi Tischler.

Von Bauern und Bonzen

Die Schwyzer sehen ihren Kanton gerne als Hort der Selbstbestimmung. In Realität ist er längst den Gesetzen der Globalisierung unterworfen, die seinen inneren Zusammenhalt auf die Probe stellen.

Wer sind die alte Schwyzer gsy,

Die fromme Heldeväter?

Ä röischi, wildi Kumpäny,

Voll Füür und Blitz sind’s druf und dri

Äs wien äs glades Wätter.

 

Was sind die alte Schwyzer gsy?

Sä zäch wie buechi Chnebel,

Verschlosse wien ä Opferbüchs,

Durtribe wien äs Näscht voll Füchs

Und gschliffe wie nü Sebel.

Meinrad Lienert (1865 – 1933)

 

Wir befinden uns im Jahre 2019 n. Chr. Die ganze Schweiz hat grün gewählt. Die ganze Schweiz? Nein! Ein von unbeug­samen Schwyzern bevölkerter Kanton hört nicht auf, der politischen Linken Widerstand zu leisten.

Man reibt sich die Augen: Während im zugerischen Unterägeri rund 15 Prozent aller Stimmbeteiligten bei den vergangenen Nationalratswahlen die Grünen wählen, sind es nur wenige ­Meter östlich, im schwyzerischen Sattel, nur 0,88 Prozent. Ein Grüner im Schwyzer Kantonsrat? Fehlanzeige. Im Kanton Schwyz haben die Bürgerlichen das Sagen: Im Kantonsrat besetzen sie 77 von 100 Sitzen. Besonders dominant ist dabei die SVP: In Unteriberg zum Beispiel kommt sie 2019 auf knapp 70 Prozent aller Wählerstimmen. Die SP ist in dieser Gemeinde übrigens eine 2-Prozent-Partei.

Ewige Neinsager

«Selbstbestimmung, Traditionalismus und Konservativismus üben als zentrale Grundwerte den grössten Einfluss auf das Schwyzer Stimmverhalten aus», konstatierten die Politologen ­Adrian Vatter, Wolf Linder und Peter Farago einst, als sie dem ­geheimnisvollen Urkanton am Fusse der Mythen auf die Schliche kommen wollten. Aus der Distanz betrachtet sind die Schwyzer bis heute sturköpfige Eigenbrötler, die trotz bundesrätlichen Pandemiemassnahmen feuchtfröhliche Fasnachtsumzüge feiern und dabei ihre stramme Obrigkeitsskepsis zelebrieren. Längst ist bekannt, dass Bundesvorlagen in diesem Kanton einen besonders schweren Stand haben. Sogar das Bundesamt für Statistik bezeichnete den Urkanton in einer Medienmitteilung zur Jahrtausendwende als grössten «Nein-Sager-Kanton» der Nation. Der Historiker Erwin Horat schreibt der Kantonsseele einen aus­geprägten «Anti-Bern-Reflex» zu.

Seien Sie vorgewarnt: Die Schwyzer stehen sämtlichen ausserkantonalen Einflüssen von Grund auf skeptisch gegenüber. Das hat vor allem mit der eigenen Geschichte zu tun: Die zahl­reichen Legenden von kämpferischen Eidgenossen, die sich hier mit Händen und Füssen gegen Eindringlinge von aussen wehrten, haben im Kantonsgeist ihre Spuren hinterlassen. Die Schwyzer sind stolz auf ihr Image: Seit 1891 ziert die Front des Schwyzer Rathauses ein Gemälde des Malers Ferdinand Wagner, das zeigt, wie die kämpferischen und listigen Schwyzer die Truppen der habsburgischen Obrigkeit bei der Schlacht am Morgarten in einen Hinterhalt locken.

Wenn ich Nichtschwyzern meine Herkunft offenbare, dann werde ich häufig mit zwei Stereotypen konfrontiert: Wer aus dem Kanton Schwyz kommt, der ist entweder Bauer oder Bonze. Letzteres wäre vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen, denn der ländliche Kanton war lange das Armenhaus der Nation: Noch 1971 bezeichnete die Schwyzer Kantonalbank in ihrem ­Jahresbericht die unmittelbare Heimat als einen «Entwicklungskanton», dessen «Schwächezustand» man aufgrund fehlender Datenbasis nicht einmal gründlich analysieren könne.

Das Blatt hat sich gewendet: 2020 zahlte der Kanton Schwyz rund 220 Millionen Franken in den nationalen Finanzausgleich ein. Auf nationaler Ebene greift die Schwyzer Politik häufig zur Kraftmeierei: Als gutbetuchter Geberkanton rühmt man sich gerne der eigenen Finanzkraft und macht geltend, dass der Finanzausgleich keinesfalls zu einem honigsüssen Ressourcentopf verkommen darf, an welchem die Nehmerkantone keine Anreize zur eigenen Besserung der Finanzen verspüren.

Gerne klopft man sich in Schwyz dabei auf die eigene Schulter: Gute Politik und die mutigen Steuersenkungen in den 1980er Jahren seien die Gründe für den urplötzlichen Aufschwung des Kantons. Die schlanke Kantonsbehörde sieht man als Parade­beispiel für eine vorbildliche Staatsführung. Im Kanton Schwyz glaubt man, sich das liberal-konservative Paradies eigenhändig erschaffen zu haben; der neugewonnene Wohlstand wird als ­Erfolgsbestätigung der eigenen Weltauffassung gewertet.

Liberal-konservative Lebenslüge

Der Schwyzer Wirtschaftsboom hatte in seiner Anfangsphase ­allerdings kaum mit der ortsansässigen Regierung zu tun. Schwyz wurde nicht zum Nutzniesser einer aussergewöhnlichen Standortpolitik, sondern profitierte von zufälligen Umständen: So wurden 1968 die Gemeinden der Ausserschwyz an die ­Autobahn A3 angeschlossen. Im Anschluss entwickelten sie sich zu einem ­attraktiven Zuzugsgebiet für Pendler, die ihren Arbeitsort in ­Zürich besassen und im Agrarkanton günstiges Bauland vorfanden. Das gute Steuerklima im Kanton war zu diesem Zeitpunkt keineswegs der Ausdruck einer ausgeklügelten Politik­strategie: Weil die ärmlichen Schwyzer der öffentlichen Verwaltung skeptisch gesinnt waren und ohnehin kaum etwas zum Staatshaushalt hätten beitragen können, sah sich der Kanton gezwungen, eine magere Staatskasse zu budgetieren.

In dieser Zeit war es auch, dass sich einzelne internationale Unternehmen für den Kanton als Unternehmensstandort entschieden. Beispielhaft ist hierfür die Ansiedlung des Logistikkonzerns Kühne + Nagel: Als das Unternehmen aus Bremen 1966 in Schindellegi eine Niederlassung eröffnete, wurde das als «Übergangslösung» kommuniziert. Ursprünglich hatte das Unternehmen sein Schweizer Geschäft im Kanton Zürich lancieren wollen, stiess dabei allerdings auf Widerstände: In Zürich entpuppte es sich als schwierig, Arbeitsbewilligungen für ausländische Fachkräfte zu bekommen, da die Kontingente in einem blühenden Kanton schnell ausgeschöpft waren. Auch hier zehrte der Kanton Schwyz also von seiner Rückständigkeit. Weil die Ausserschwyz zeitgleich von einem Ausbau der Verkehrswege profitierte, blieb Kühne + Nagel dem Kanton erhalten – und siedelte 1974 sogar ­seinen Hauptsitz von Bremen nach Schindellegi um.

Es sind Entwicklungen, die die Schwyzer Politik vorerst nur als entzückter Zuschauer vom Feldrand aus beobachtete. Die berüchtigte Schwyzer Tiefsteuerpolitik, die der ehemalige CVP-Finanzdirektor Franz Marty federführend mitprägte und eine gezielte Lockstrategie für Unternehmen und vermögende Privatpersonen ­darstellte, wurde gemäss dem Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann zu einem Zeitpunkt lanciert, zu dem der «regionale Boom schon längst in Gang gekommen war». Die Tiefsteuerpolitik hat den Boom verstärkt – sie hat ihn aber nicht ausgelöst. In vieler Hinsicht verdankt der Kanton seinen Reichtum also dem Zufall.

«Würde sich Oswald Grübel eines Tages ­tatsächlich zum Feierabendbier

ins ‹Gasthaus zur Metzg› begeben, man würde ihn wohl

eher widerwillig willkommen heissen.»

Auffällig ist auch, dass Schwyz gemessen an der Wertschöpfungsleistung innerhalb der Kantonsgrenzen bis heute zu wünschen übrig lässt: Im nationalen Vergleich des Bruttoinlands­produkts pro Kopf landet der Urkanton auf der fünftletzten Stelle im Kantonsranking – in einer Grössenliga mit den Kantonen Thurgau, Obwalden oder Glarus. Der Kanton Schwyz ist und bleibt ein Landkanton mit mittelmässiger Wirtschaftsleistung. Den Boom hat man importiert: in Form von vermögenden Privat­personen, die ihr Hab und Gut aufgrund des Schwyzer Domizils zwar hier versteuern, ihre Wertschöpfung aber in anderen Kantonen erzielen.

Boom schafft Gräben

In den vergangenen 50 Jahren ist die Schwyzer Bevölkerung um rund 75 Prozent gewachsen. Besonders auffällig sind dabei die drei Gemeinden des Ausserschwyzer Bezirks Höfe (Wollerau, Freienbach und Feusisberg): Hier hat sich die Wohnbevölkerung sogar mehr als verdoppelt. Wer sich am Ufer des oberen Zürichsees niederliess? Es waren Manager und Kaderleute, vornehmlich der Zürcher und Zuger Finanzindustrie, die hier ein schmuckes Landstück für Wohneigentum vorfanden. Dank guten Pendlerverbindungen ist man in einer knappen halben Stunde im Büro beim Paradeplatz. Wer im neusten Heft der «Bilanz» zu den 300 reichsten Schweizern blättert, stösst auf insgesamt 30 Namen aus dem Kanton Schwyz; 28 davon wohnen im Bezirk Höfe. Um dem Wohlstandsgefälle zwischen den Gemeinden entgegenzuwirken, ist seit 2002 innerkantonal ein horizontaler Finanzausgleich in Kraft, der eine umverteilende Wirkung erfüllt und die Steuererträge zwischen den Gemeinden harmonisiert. Im Rechnungsjahr 2020 finanzierten vier Gemeinden (die drei üblichen Verdächtigen und die angrenzende Gemeinde Altendorf aus dem Bezirk March) eine Abschöpfungsleistung von 43 Millionen Franken – der Betrag wurde an die restlichen 26 Gemeinden verteilt.

In seinen extremen Ausprägungen hat der Kanton Schwyz zwei denkbar verschiedenartige Gesichter: Haustür an Haustür leben hier Konservative, die eine ausgeprägte Ortsverankerung verspüren, neben wohlhabenden Kosmopoliten, die mit den Lobhudeleien des kleinbürgerlichen Heimatbegriffs rein gar nichts anfangen können. Die Zugezogenen geniessen die Anonymität, die ihnen die Ausserschwyzer Provinz bietet – mit den Menschen in den kurzärmeligen Hemden, die alljährlich die Dorffasnacht besuchen oder am Stammtisch einen Schieberjass spielen, kommen sie gar nicht erst in Berührung.

Die alteingesessenen Schwyzer auf der anderen Seite, die sich selber stramm als «Hiäsigi» bezeichnen, hegen einen stillen Groll: Sie sind sich durchaus bewusst, dass die hochqualifizierten ­Zuwanderer ihren Hang zum Traditionalismus nicht teilen. Würde sich Oswald Grübel eines Tages tatsächlich zum Feierabendbier ins «Gasthaus zur Metzg» begeben, man würde ihn wohl eher widerwillig willkommen heissen. Doch auch die Nostal­giker wissen, was sie an den Neuzuzügern haben: Sie bezahlen brav ihre Steuern und füllen so die Staatskasse – politisch über­lassen sie den alten Schwyzern das Zepter. Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kanton Schwyz erinnern an eine Zweckehe: Man geht sich gekonnt aus dem Weg, profitiert aber von der Nachsicht des Gegenübers.

Fragliche Souveränität

Verzweifelt klammern sich die alteingesessenen Schwyzer an ein Staatsverständnis, in dem die föderalen Einheiten von Gemeinde und Kanton ihre Souveränität gegenüber Bern oder Brüssel geltend machen. Politisch hält man sich in Schwyz am liebsten im kleineren Rahmen auf – weil man dort die Kontrolle über die eigenen Angelegenheiten behält.

Doch wie souverän ist ein Kanton, dessen Wohlstand von einer kleinen Bevölkerungsgruppe abhängt, die sich in der Gemeinde nur schwach verankert fühlt und dem jetzigen Wohnort jederzeit den Rücken zukehren könnte? Kann das Schwyzer Stimmvolk überhaupt bei Abstimmungen frei entscheiden, ohne dass bei einem Abzug der Kosmopoliten ein Engpass bei der Finanzierung des Staatshaushalts droht? Im Grunde ist der Kanton Schwyz zu einem Laboratorium einer Entwicklung geworden, die der amerikanische Journalist Tom Friedman einmal als «goldene Zwangs­jacke» bezeichnet hat: Die wirtschaftspolitische Öffnung hat zwar Wohlstand in den kleinen Kanton gespült. Gleichzeitig unterwirft sich Schwyz aber den Regeln der Globalisierung – denn mit einer Abkehr von der eingeschlagenen Politik würden die Schwyzer den Wegfall eines beträchtlichen Teil des Steuersub­strats riskieren.

Bis anhin haben die konservativen Staatsskeptiker und die neoliberalen Weltbürger in der Tiefsteuerpolitik einen gemein­samen Nenner gefunden. Doch ausgerechnet in Wollerau, dem Höfner Tiefsteuerdomizil am oberen Zürichsee, kam es 2019 zu hitzigen Diskussionen, ob man sich ein neues Dorf- und Bildungszentrum leisten könne. Sogar die «Weltwoche» mischte sich in den Abstimmungskampf ein: Sie zitierte anonym einen «bedeutenden Steuerzahler», der sich von der Dorfregierung miss­verstanden fühlte und offen mit dem Wegzug liebäugelte, falls die Steuerfüsse in Wollerau plötzlich angehoben würden. Das Wollerauer Stimmvolk bestätigte das Projekt mit einer knappen Mehrheit.

Viele Schwyzer befürchten, dass Bern oder Brüssel ihrem, ja unserem schönen Kanton die Entscheidungsgewalt entreissen könnte. In der Moderne sehen sie eine Wiederholung des gleichen Konflikts, den die Vorväter schon gegen die Habsburger ausstreiten mussten: freiheitsliebende Schwyzer, diese wildi Kumpäny, gegen fremde Vögte, die dem Volk das Recht auf Selbstbestimmung nicht zugestehen wollen. Es ist ein naives Selbstverständnis, das den komplexeren Souveränitätskonflikten der Moderne nicht gerecht wird. Die Schwyzer sollten endlich akzeptieren, dass ihr liebster Urkanton längst zu einem Hafen der Globalisierung geworden ist – mit allen Chancen und Konflikten, die diese Wirklichkeit mit sich bringt.

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