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Der Krieg der Worte in Zeiten der Seuche

Politiker erhalten ihre Macht nicht zuletzt durch einen geschickten Einsatz von Sprache. Das lässt sich auch in der Coronakrise wieder anschaulich beobachten.

 

«Die deutsche Kanzlerin Merkel bewahrt ihre Macht, indem sie ihre Macht bewahrt.» Im ersten Moment erscheint dieser Satz als Tautologie. Der zweite Teilsatz wiederholt als Begründung des ersten dessen Inhalt: X = X. Eine inhaltsfreie Aussage – oder doch nicht? Mit dem richtigen Blick (manche nennen es «Weisheit») erkennen wir zuweilen eben doch Unterschiede in den Instanzen von X. So auch im Falle Angela Merkels. Hinter dem zweiten Teilsatz liegt etwas verborgen.

Wenn im Jahre 2020 jemand in Deutschland das sagte, was Angela Merkel noch 2002 oder 2003 als Chefin der damals oppositionellen CDU von sich gab, würde er umgehend als «Rechter» und «Populist» beschimpft werden (in der inzwischen verlotterten Sprache deutscher Debatte wohl auch als «Rechtsextremer» oder «Faschist»). Vor dem «Missbrauch des Asylrechts» warnte Merkel damals. Die «Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung» forderte sie. «Das Mass des Zumutbaren ist überschritten», mahnte sie. Es wäre interessant, wie es ausgehen würde, wenn heute jemand von der AfD im Deutschen Bundestag eine Rede hielte, die im Kern aus wörtlichen Merkel-Versatzstücken bestünde, und dies erst am Ende der Rede, nach vielen Buh-Rufen der parteiübergreifenden Merkel-Koalition, aufklärte.

Ein berlinüblicher Merkel-Apologet wird die deutsche Kanzlerin dafür preisen, dass Merkel ein Saulus-Paulus-Erweckungserlebnis gehabt haben muss (während er ihren politischen Gegnern noch viele Jahrzehnte später selbst die lässlichste der Jugendsünden zum Strick knüpft). – Mit dem Ockham’schen Rasiermesser in der Hand greife ich zur einfacheren Erklärung und sage: Merkels Aussagen von 2015 mögen das Gegenteil jener von 2002 bedeuten, ihre Motivation war dieselbe: der Machterwerb bzw. -erhalt, was auch immer man dafür sagen muss.

Die 180-Grad-Drehung von 2002 nach 2015 war ja nicht die einzige (wir erinnern uns an grössere Manöver wie die «Energiewendewende» und an kleinere wie die Haltung zu den USA). Man würde von der Politik erwarten, dass sie in einer Weise handelt, die gut für Land und Volk ist, und dass sie es dann nach besten rhetorischen Möglichkeiten den Regierten vermittelt – und dass wir es erwarten, ist die Achillesferse, an der Merkel die intellektuell auf dem Rücken liegenden Deutschen durchs eigene Haus und in den Hinterhof der Geschichte zerrt.

Talking Points: Formulierungen für die Macht

Merkel sagt, was ihre Macht bewahrt – und anschliessend setzt sie es (manchmal) um, wie viel Schaden und Leid es auch dem Land bringen mag. Merkel denkt nicht in politischen Handlungen, sie denkt in «Talking Points» – in machtbewahrenden Formulierungen. Sie bewahrt ihre Macht, indem sie ihre Macht bewahrt. Merkel sagt Beliebiges – mal das, was es braucht, um an die Macht zu gelangen; mal das, was es braucht, um den Rückhalt in den meinungsdominierenden Kreisen zu sichern – doch die Auswahl und Konstruktion des Gesagten, der Talking Points, ist keineswegs beliebig.

Politiker und andere öffentlich wirkende Personen reden in Talking Points: in psychologisch wirksamen Formulierungen, die uns motivieren, den Sprechern die Macht über unser Leben zu geben. Ob «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben», «Wir schaffen das!» oder «Make America Great Again!» – es sind ­Talking Points, welche die Macht und Autorität des Sprechers begründen (sollen).

Die Sprache der Macht ist stets moralisch aufgeladen (selbst und gerade dort, wo technisch gar keine moralische Begründung notwendig wäre, sprich: in Diktaturen). Um die Moral des Menschen zu verstehen, muss man betrachten, welche Strukturen sich für ihn im Moment emotional relevant anfühlen. Erfolgreiche Talking Points lassen die Hörer fühlen, dass der Sprecher die dem Publikum wichtigen Strukturen stärkt – und dass der politische Gegner sie schwächt. Politiker können sich als «weise» inszenieren oder als «biologisch fit», können Angst einjagen oder Hoffnung wecken. Merkel verzichtete als Kanzlerin eineinhalb Jahrzehnte lang auf die meisten dieser Tricks. Sie nutzte, «wenn es drauf ankam», bislang immer genau einen Trick – sie sprach über die Gefühlsreaktion auf die Lage (und brave Journalisten plapperten jedes Mal wie auf Bestellung, wie «emotional» die «sonst so sachliche» Kanzlerin geworden sei). Ob Fukushima oder Bankenkrise, offene Grenzen oder Terroranschlag, stets waren die Talking Points der Kanzlerin anschliessend eine Variante von «viele Bürger sind besorgt/panisch/erschrocken, und ich verstehe das». Und dann kam die «Coronakrise» – die Angst vor SARS-CoV-2.

«Die «Moral der Weltoffenheit» fiel in der Coronakrise

als «relevante Struktur» praktisch weg –

die Talking Points mussten sich an die Regeln der Realität anpassen.»

Welche Strukturen sind aktuell relevant?

Zu Beginn der europäischen Coronakrise schien Merkel zunächst auf Tauchstation zu gehen. Es war Gesundheitsminister Jens Spahn, der die üblichen Durchhalteparolen ausgab. Man sei «gut vorbereitet» (2020-Lingo für «Wir schaffen das!») auf die «dynamische Lage», und überhaupt seien «Verschwörungstheorien» mehr zu fürchten als das Virus selbst.

Es ist anzunehmen, dass Merkel in ihrem Machtinstinkt zunächst die Meinungsumfragen abwartete, um zu wissen, welche Talking Points gut ankommen würden, sprich welche Strukturen den Menschen aktuell «relevant» erscheinen. (Wir wissen, dass sie kontinuierlich Umfragen erstellen lässt.) Die Willkommenskulturbegeisterung von 2015 schien zu belegen, dass das Gros der Deutschen bereit ist, im Namen der «Moral» den Tod von Mitbürgern (durch importierte Gewalt) wie auch (aufs Meer gelockter) Migranten hinzunehmen – die Opfer waren ja meist weit weg, sozial und/oder geografisch. 2020 ist die Lage anders – die Erfahrungen des Auslands zeigen, dass alle gesellschaftlichen Schichten betroffen sein und die Opferzahlen weit höher liegen können. Innerhalb von Tagen drehten die Regierung und synchron natürlich die öffentlich-rechtlichen TV-Sender ihre Sicht auf das neue Coronavirus und die notwendigen Massnahmen um 180 Grad.

Zu Beginn der Krise beschwichtigten Regierung und Öffentlich-Rechtliche in Deutschland. «Lasst euch nicht von der Corona-Panikmache anstecken!», hiess es im ZDF, und bei ARD-Sendern hörte man Beruhigungen wie: «Experten warnen vor ­Panikmache» – die relevanteste Struktur der Bürger, so glaubte man, sei die Ruhe, das heilige deutsche «Weiter so». Als Polen zum Schutz seiner Bürger die Grenze zu Deutschland schloss, klagte «Tagesthemen»-Moderator Claus Kleber am 14. März 2020 im ZDF noch pathetisch, da ginge «ein Teil des Wunders von ­Europa» verloren – als einen Tag später Deutschland Ähnliches ankündigte, vollzog auch Herr Kleber eine 180-Grad-Wende, und die neuen Talking Points schwenkten innerhalb von Tagesfrist von «Europa» zu den möglichen «gefährlichen Folgen» des Virus «für Gesundheit, Wirtschaft und Politik im Land» um.

Selbst im direkten Kampf gegen Covid-19 sind solche Kehrtwenden festzustellen: So wurde das Tragen von Atemmasken zum Schutz vor Ansteckung in der Schweiz (und nicht nur da) von den Behörden lange als «unnötig» eingeordnet; die Masken würden von den Profis in den Spitälern gebraucht. Anfang April erwägten die Behörden dann praktisch von einem Tag auf den anderen, eine Maskentragpflicht einzuführen.

Politikern, welche das Wohl der Bürger und des Landes in ihren Talking Points vorangestellt haben (statt des Redens über Moral und Gefühle), und zwar schon vor der Coronakrise, was denen schon mal den Vorwurf des «Populismus» einbrachte, fiel es in der Krise leichter, ihren Bürgern schnell tiefgreifende Massnahmen zu vermitteln. «So einen brauchen wir auch!», schrieb bild.de am 13. März 2020 über den österreichischen Kanzler ­Sebastian Kurz, und: «Während Kanzlerin Angela Merkel (65, CDU) angeschlagen wirkt, sich mit den Ministerpräsidenten auf keine gemeinsame Linie einigen kann, zeigt Österreichs Kanzler ­Sebastian Kurz (33) Führungsstärke. Fast täglich steht er kerzengerade vor den TV-Kameras, präsentiert eine Knallhartm-Massnahme nach der anderen: …»

Trotz des praktisch synchronen Schwenks von Regierung und Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland ist noch nicht für alle Strukturen die jeweilige Relevanz geklärt. Vor der Coronakrise wurden ältere Bürger regelmässig abgewertet – der «alte weisse Mann» als Feindbild aufgebaut, «Oma» samt ihrer ganzen Generation als «Umweltsau» diffamiert. In der Krise nun reicht das Spektrum der Stimmen von «Risikogruppen isolieren» und «sterben lassen» bis zu «Väter und Mütter» und «ältere Mitbürger», die Respekt, Rücksicht und besonderen Schutz verdienten.

Die «Moral der Weltoffenheit» fiel in der Coronakrise als ­«relevante Struktur» praktisch weg – die Talking Points mussten sich an die Regeln der Realität anpassen. (Welche Realität und ­Relevanz man in Betracht zieht und welche Schlüsse daraus ge­zogen werden, bleibt verschieden – die Grünen fordern weiterhin und mit Nachdruck, in die Krise hinein die Migration aus griechischen Lagern nach Deutschland zu fördern.) In der Pandemie müssen Politiker in ihren Talking Points wieder das Wohl der (eigenen) Bürger zur relevanten Struktur erklären. Ist das denn nicht selbstverständlich?

Corona bringt die Vernunft zurück

Ein Machtpolitiker bleibt Machtpolitiker, und er braucht immer Talking Points dafür – doch was die relevanten Strukturen sind, die er in seinen Talking Points ansprechen muss, das ändert sich mit der Welt. Im Angesicht einer globalen Pandemie passen Poli­tiker wie Merkel ihre relevanten Strukturen, ihre Talking Points und daraus abgeleitet ihre Handlungen (wieder) an Wohl und Realität der Bürger an. Endlich! Es ist gewissermassen «logisch». In der Logik könne es keine Überraschungen geben, schrieb Ludwig Wittgenstein, also sollten wir nicht allzu überrascht sein – aber dankbar dürfen wir doch sein. Und hoffen – dass die Gefahr bald vorüber ist, die Kranken genesen und auch danach ein wenig Vernunft bleibt.

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