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Von Macht und Ohnmacht
grosser Worte

Probleme, die nur mit verschleierten Begriffen benannt werden, bleiben ungelöst.

Von Macht und Ohnmacht grosser Worte
Bild: Djamila Grossman.

 

Meine Mutter, eine Bauersfrau mit acht Jahren obligato­rischer Schulbildung, hatte es nicht mit den grossen Worten. Nur einmal, als ich mich nach der Bedeutung der Kasse mit dem nickenden Negerlein erkundigt hatte, verstieg sie sich auf Höheres und sagte: «Kongolesen und Inder sind auch Menschen.» Spätestens seit Paul Watzlawick wissen wir, dass Sprache einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt hat. Oft wird mit der Wortwahl kundgetan, dass der Sprecher dem Adressaten überlegen ist. Mit ihrem grossen Wort – vielleicht der Grund, weshalb es mich später in die Entwicklungszusammenarbeit zog – setzte sich die Bauersfrau über ihre «altmodischen» Nachbarn, welche geistig in der Vorkriegszeit steckengeblieben waren.

Grosse Worte, ersetzt

Wie wir heute global miteinander reden sollten, verdient einen Blick zurück in den Imperialismus. Meine Mutter war in den zwanziger Jahren aufgewachsen. Die späteren grossen Worte eines Joseph Goebbels waren damals weiter verbreitet, als heute zugegeben wird. Leute aus gutem Haus wie Arthur de Gobineau, Madison Grant, Houston Stewart Chamberlain hatten Bestseller zur Überlegenheit der weissen Rasse geschrieben, was die kolonialen Eroberungen des 19. Jahrhunderts legitimieren sollte. Hitler las sie alle – und eben: nicht nur er.

Nach dem Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg verschwand die rassistische Literatur aus den Büchergestellen. Es kam zur radikalsten Änderung des Vokabulars in der Geschichte. Getrieben von schlechtem Gewissen und der kommunistischen Konkurrenz, besannen sich die westlichen Siegermächte auf die liberalen Revolutionen. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wurden alle biologischen und kulturellen Varianten des Menschseins – Hautfarbe, Sprache, Weltanschauung – einander gleichgestellt. Die Völkerkundlerinnen Ruth Benedict und später Margaret Mead studierten die Unterschiede exotischer Kulturen. Ethnozentrismus sei Arroganz; fremde Kulturen könnten einzig an ihren eigenen Werten gemessen werden, schrieben sie. Der Kulturrelativismus war geboren.

Grosse Worte, linksgedreht

Der Vietnamkrieg gab der Studentensprache der siebziger Jahre einen Linksdrall. Wer sich zu den Progressiven zählte, machte jetzt Reisen nach Moskau, war gegen «Imperialismus», «Kolonialismus», «Neokolonialismus» und gegen «die Ausbeutung des ­Südens». Nichts weniger als die «Überwindung des Kapitalismus» war angesagt. Als Bauernkind auf dem Weg in die gebildete Welt ging ich solchen grossen Worten aus dem Weg. In der Sekundarschule wurde ich von den Städtern mit dem Übernamen «Cowboy» versehen. Unzählige Schulprüfungen später, an der Universität, sagte meine erste grosse Liebe vom Zürichberg: «Du weisst nicht, wer Tschechow war?» Solche kleinen Demütigungen müssen mich lebenslang gegen Franz Innerhofers «arrogante grosse Wörter» geimpft haben. Die meisten grossen Worte waren ohnehin unangreifbar. Für mich klangen sie so trivial wie «Du sollst nicht töten». Angreifbar dagegen war deren unkritische Nutzung durch Studenten, die damit ihre bürgerlichen Eltern ärgern wollten.

Grosse Worte, wirkungsvoll

Dass in grossen Begriffen wie «Menschenrechte», «humanitäres Völkerrecht» oder «Flüchtlingsrecht» erwünschte Macht steckt, lernte ich beim Besuch von vietnamesischen Kriegsgefangenen und kambodschanischen Kriegsvertriebenen beim IKRK in Thailand. Kein Offizier oder Gefängniswärter hätte diese Rechte 1986 einem Delegierten des Roten Kreuzes gegenüber in Frage gestellt. Gerade als ich an die heilsame Wirkung grosser Worte zu glauben begonnen hatte, fiel in Europa der Eiserne und in Ostasien der Bambus-Vorhang. Vorbei war der Kalte Krieg. Liberalismus und Marktwirtschaft hatten gewonnen. Die ganze Welt würde nun ­demokratisch werden.

Grosse Worte, weichgespült

Ich erhielt einen neuen Posten im UNO-Entwicklungsprogramm in New York. Im grünen Büroturm am East River gab es neue re­spekteinflössende Worte zu lernen: «Empowerment», «Democratic Governance», «Mutual Responsibility», «Corporate Social Responsibility». Es waren grosse Worte, welche an Geberkonferenzen die wundersame Macht besassen, Millionen Dollar von einem Budget auf ein anderes zu verschieben. Bewirkt wurde damit wenig – nicht zuletzt, weil es damals in der UNO Mode wurde, jedem grossen Wort ein politisch korrektes Korsett anzuziehen. Die auf den Strassen New Yorks noch üblichen Sprüche über anderes Aussehen oder Akzente galten in der UNO-Oase als unfein. Das «schwarze Schaf», die «gelbe Gefahr» und mit ihnen jede Redensart, die als verletzend hätte empfunden werden können, wurden ausgerottet. Was im Grundsatz richtig sein mag, führte dazu, dass weisse und japanische Vorgesetzte aus Angst vor der Rassismus- oder Kolonialismuskeule es nur in Extremfällen wagten, den Kollegen des Afrikabüros oder der Nahostabteilung professionelle Mängel vorzuwerfen. Es half nichts, zu wissen, dass die meisten arabischen Länder viel länger durch das Osmanische Reich kolonisiert waren, welches den Handel mit Sklaven so brutal betrieb wie der Westen. Unsere Kollegen, die an Ivy-League-Universi­täten ausgebildeten Söhne und Töchter afrikanischer Chefs und arabischer Scheichs – alles Meister der grossen Worte –, sahen sich auch nach 30 Jahren Unabhängigkeit noch als Opfer, mit uns Weissen und Japanern als Tätern. Probleme, die nur mit verschleierten Worten benannt werden dürfen, bleiben ungelöst. Die meisten UNO-Beamten kannten die Probleme armer Länder, unterfinanzierte Schulen, unqualifizierte Minister, Korruption, fehlender Rechtsstaat, doch Regierungen direkt zu kritisieren glich einer diplomatischen Todsünde. Statt konkret zu sagen, was an der Gouvernanz in Burkina Faso mangelhaft war, hiess es, dort bestehe «Raum für Verbesserungen». Statt zu sagen, Auslandhilfe habe wegen der Bevölkerungszunahme in der Sahelzone nichts erreicht, hiess es, die Demografie und das Kulturelle dort blieben «eine Herausforderung». Statt zu sagen, der Mangel an Fortschritt in vielen Teilen Afrikas sei auch die Folge einer Kindererziehung, die Selbstverantwortung und Leistungswillen kleinschreibe, hiess es, die Geber müssten ihre Bildungsbudgets für Afrika aufbessern. Und statt zu sagen, in islamischen Schulen werde dem Glauben mehr Zeit eingeräumt als dem kritischen Denken, schwieg man.

«Probleme, die nur mit verschleierten Worten  benannt werden dürfen,

bleiben ungelöst. Die meisten UNO-Beamten kannten die Probleme

armer Länder, unterfinanzierte Schulen, unqualifizierte Minister,

Korruption, fehlender Rechtsstaat, doch Regierungen direkt zu kritisieren

glich einer diplomatischen Todsünde.»

Grosse Worte, abgenützt

Als ich viele Jahre später, bei der DEZA, nach den Vorgaben von Bundesrätin Micheline Calmy-Rey eine neue Strategie für die Bemühungen der Schweiz in der Entwicklungszusammenarbeit entwarf, gehörten «weltweite Solidarität», «soziale Gerechtigkeit» und «globale Beseitigung der Armut» zu den wichtigsten rhetorischen Pfeilern. Auch diese grossen Worte waren unangreifbar. Weil kein vernünftiger Mensch ihr Gegenteil wollen kann. Angreifbar war deren Nutzung als vereinfachende Wahlkampfslogans durch Mitte-links-Parteien. Mich störte der jahrzehntelang wiederholte Gebrauch dieses Vokabulars und dass sich ein ganzer Berufsstand mit ihm schmückte. Abgenutzte grosse Worte schläfern das Denken ein, bewegen nichts, verkommen zu ohnmächtigen Floskeln. Weshalb sind sie in der Entwicklungspolitik westlicher Länder so beliebt? Vielleicht, weil sich ­Experten gegenüber den eigentlichen Ursachen der Armut oft machtlos fühlen? Weil sie an die Leute mit Macht im armen Land keine Forderungen zu stellen wagen? Liegt es daran, dass die Resultate ihrer Arbeit schlecht messbar sind und deshalb von rechts dauernd angezweifelt werden? Oder nur, weil Entwicklungsleute ihren Beruf gerne als edel und selbstlos präsentieren wollen? An der gegenwärtigen Corona-Epidemie fällt auf, dass das Gesundheitswesen – eine am ehesten mit der internationalen Hilfe vergleichbare Berufstätigkeit – praktisch ohne grosse Worte auskommt. Medizinisches Personal arbeitet, weil seine Berufe interessant, die Saläre anständig und die Resultate messbar sind. Keine Ärztin hat je gesagt, sie praktiziere Medizin aus Solidarität mit den Patienten. Kein Krankenpfleger, er verrichte seine Arbeit, um die soziale Ungerechtigkeit zu reduzieren. Mir scheint, seinen Kopf regelmässig von abgenutzten grossen Worten zu entrümpeln und wieder in Sätzen mit Subjekt und Prädikat zu reden, täte nicht nur der internationalen Zusammenarbeit gut, sondern auch den Beamten des Asylwesens und dem ideologischen Teil der Klimaaktivisten. Sich grosser Worte zu bedienen, ohne gleichzeitig zu sagen, was genau damit gemeint ist, was man persönlich für deren Umsetzung zu tun, zu bezahlen oder zu erdulden bereit ist, ist eine billige Selbstbeförderung in den Himmel der besseren Menschen. Kaum ist dieser Satz geschrieben, machen virus­bedingt neue grosse Worte Karriere, etwa: «Herdenresistenz», «Systemrelevanz» oder «essentielle Bedürfnisse». Die Denkarbeit geht uns also nicht aus.

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