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Editorial

 

«Das sowjetische Volk ist materiell
besser dran und geistig reicher.»

Leonid Breschnew 1976 vor dem 25. Kongress der
Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU)

Leonid Iljitsch Breschnew war starker Raucher und Trinker und abhängig von Beruhigungsmitteln. Bereits 1974 stellten sowjetische Ärzte bei ihm eine beginnende Hirngefässverkalkung fest, es folgten mehrere Schlaganfälle und Herz­infarkte. Eine Neujahrsansprache 1979 an die sowjetische Jugend zeigt ihn mit schleppender Stimme und starrem Blick – ein Grossväterchen, das Kinder wohl eher beklemmt als begeistert. Weil aber niemand Breschnews Posten wollte und sich alle vor Veränderung fürchteten, wurde er immer wieder neu gewählt zum KPdSU-Generalsekretär und starb erst 1982 im Amt, im Alter von 76 Jahren.

In den USA, dem ehemaligen Gegner im Kalten Krieg, fordert nun ein 77-Jähriger einen 74-Jährigen um das Amt des Präsidenten heraus. Ihrem ersten TV-Duell beizuwohnen, hat in etwa so viel Spass und Erkenntnisse mit sich gebracht wie ein Streit am Jasstisch im Altersheim. Repräsentiert von den beiden alten Herren mit den schwindenden Geisteskräften fühlen sich viele Wähler nicht; sie schreiten zur Wahl, um das andere, grössere Übel zu verhindern. Erfahrung ist an sich natürlich kein Nachteil. Im Präsidentschaftswahlkampf 1984 sagte der damals 73jährige Ronald Reagan grossmütig, er wolle das Alter nicht zu einem Wahlkampfthema machen: «Ich werde die Jugend und Unerfahrenheit meines Gegners nicht für politische Zwecke ausnützen.»

Die heutigen Vereinigten Staaten haben sehr wenig zu tun mit der damaligen Sowjetunion. Dennoch treibt mich die Frage um, ob wir es nicht vielleicht doch mit einer zu Ende gehenden Epoche der Vorherrschaft des freien, demokratischen Westens unter der Führung der USA zu tun haben. Denn eine Binsenweisheit aus dem Mafiafilm gilt auch für die Weltpolitik: Zeigt der alte Clanboss Schwäche, rangeln sich seine Konkurrenten um Vorherrschaft und stossen in die freien Machtbereiche hinein. Insbesondere die Länder in Europa müssen sich überlegen, wie sie sich in einem Konfliktfall ohne den Schutz des grossen ­Bruders in Übersee verhalten werden. Wie würde Russland reagieren, wenn es keinen Weltpolizisten USA mehr gäbe, wie China? Zieht sich die autoritär ­geführte Volksrepublik zurück und kümmert sich um lokale Herausforderungen (die traditionell sehr weit gefasst werden), oder wird sie sich emporschwingen wollen zu einer weltweiten Ordnungsmacht, die nicht mehr bieten will als Sicherheit, Ordnung und Arbeit?

Gerade in Europa – das hat die Coronakrise leider gezeigt – verteidigen die mit vielen Jahrzehnten an Wohlstand, Frieden, Freiheit und Demokratie gesegneten Nachkriegsgenerationen diese Errungenschaften nur noch halbherzig. Gefeiert in den Medien werden derzeit Politiker, wenn sie dirigistisch agieren und autoritär durchgreifen. China wird es mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen.

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