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Verloren im zentralistischen Nebel
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Verloren im zentralistischen Nebel

In der Krise hat die Schweiz die Vorzüge des Föderalismus mutwillig verspielt.

 

Wenn ich von Schwyz nach Uri fahre, erfreue ich mich am wunderbaren Blick über den Urnersee, und natürlich schweifen meine Augen auch immer hinüber zum Rütli. Da überkommt mich immer ein Gefühl der Liebe zur Heimat, der Freude und der Dankbarkeit, Bürgerin dieses Landes, der Eid­genossenschaft, zu sein. Kürzlich war es jedoch anders. Das Wetter war schön, aber es lag ein leichter Nebel über der Landschaft und den Bergen, die Sicht war diffus. Der Nebelschleier wurde von der Sonne durchbrochen. Ich erblickte das Rütli am anderen Seeufer nicht mehr klar. Und es wurde mir seltsam schwer ums Herz. ­Warum dieses Gefühl der Bedrücktheit, der Schwere als Bürgerin des Kantons Uri, als Bürgerin der Eid­genossenschaft?

Die nicht ganz klare Sicht zum Rütli erschien mir plötzlich symptomatisch für die Situation der Schweiz in der Coronakrise. Der Bundesratsentscheid zur Schliessung der Skiterrassen vom Februar 2021 war der Kulminationspunkt meines wachsenden Unbehagens, und ich fragte mich: Wo sind die Grundsätze des Handelns, auf denen unser Land seit Jahrhunderten fest steht, ­­geblieben?

«Ich erblickte das Rütli am anderen

Seeufer nicht mehr klar. Und es wurde

mir seltsam schwer ums Herz.»

Der Föderalismus und die Subsidiarität sind Grundprinzipien unseres Staates und wesentliche Erfolgsprinzipien unseres Landes. Die Bundesverfassung hält verbindlich fest, welche Aufgaben Bund und Kantone zu erfüllen haben. Das Zauberwort heisst ­Subsidiarität. Demnach soll der Bund keine Aufgaben übernehmen, welche die Kantone oder die Gemeinden ebenso gut erfüllen können. Die Verfassung legt zudem die Grundsätze fest, wie Bund und Kantone zusammenarbeiten, dass sie einander in der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen, dass sie einander Rücksicht und Beistand schulden. Miteinander und nicht gegeneinander! Streitigkeiten sollen durch Verhandlung und Vermittlung beigelegt werden. In der Bundesverfassung steht nichts von zentralis­tischem «Durchregieren», nichts davon, wer sich durchsetzt, wer stärker ist, nichts von Drohung – Rücksicht und Beistand sind ­gefragt. Und das sicher und vor allem in einer Krise. Die Entscheidungen des Bundesrates gegen die Mehrheit der Kantone im ­«Terrassenstreit» haben mir als ehemaliger Frau Landammann des Kantons Uri das Herz so schwer gemacht.

Kreativität der Kantone

Der «Terrassenstreit» erschien mir da mit Blick auf das Rütli als Kulminationspunkt der Krise der Subsidiarität und des Föderalismus. Denn es gab in der Coronakrise noch andere Fälle, welche die Souveränität der Kantone zumindest ritzten: So hatten einige Kantone am Anfang der Coronapandemie im März 2020 noch vor dem Bund die ausserordentliche Lage ausgerufen, um der sich an­bahnenden Krise zu begegnen. Die Kantone gingen ganz im Sinne der subsidiären Staatsführung voran und schreckten auch vor einschneidenden Massnahmen nicht zurück.

Der zunächst am stärksten betroffene Kanton Tessin schloss als erster Kanton der Schweiz Schulen, Kindergärten, Bars und Restaurants. Andere Kantone folgten mit dem Beschluss der ausserordentlichen Lage. Auch im Kanton Uri – ich war noch Regierungsrätin – beschloss die Regierung nach zwei Sitzungen die ausserordentliche Lage und setzte Mitte März den Kantonalen Führungsstab Uri (KAFUR) für die Bewältigung der Krise ein. Die Exekutive ist zuständig für die strategischen Entscheide auf Antrag des KAFUR. Kein Regierungsrat sitzt selbst im Krisenstab – höchstens als angemeldeter Gast, und auch das ist nicht gerne gesehen –, die Abläufe sind geübt. Aus den Erfahrungen mehrerer grosser Unwetterereignisse ist der KAFUR selbstbewusst und ausserordentlich tatkräftig, man könnte auch sagen: nicht zimperlich im Umgang mit Krisen. Wenn der KAFUR eingesetzt wird, ist auch für die Bevölkerung der Ernst der Lage klar.

Am Josefstag, dem 19. März 2020, einem Feiertag, läutete bei mir das Telefon ununterbrochen. Erboste ältere Herren (es waren wirklich nur Herren) beklagten sich bei mir lautstark darüber, was sich der KAFUR eigentlich erlaube. Der KAFUR hatte beschlossen und kommuniziert, dass ab diesem Tag ab 18 Uhr Personen ab 65 und sonstige gefährdete Personen das Haus nicht mehr verlassen durften, ausser für zwei Stunden Spaziergang pro Tag, Einkäufe sollten von anderen erledigt werden, Besuche von nicht im selben Haushalt wohnenden Personen sollten keine mehr erfolgen. Die Rechtmässigkeit war vom Bundesamt für Justiz bestätigt worden. Meine Mutter bekam Telefonate aus der ganzen Schweiz, in denen bedauert wurde, dass sie nun eingesperrt sei. Es wurde zwar geschimpft und bedauert, aber man schickte sich an, das Verdikt des KAFUR, das am anderen Tag durch den Regierungsrat offiziell genehmigt wurde, umzusetzen und zu akzeptieren. Die Wogen in den Medien gingen hoch.

Der Bundesrat äusserte sich an seiner Pressekonferenz zur Pandemie und zu seinen Beschlüssen zum Fall Uri und der Ausgangsbeschränkung zurückhaltend, bestätigte aber auch nicht, dass die Regel in Uri mit dem Bundesrecht konform sei, wie es ja vom Bundesamt für Justiz bestätigt worden war. Am anderen Tag schickte man aber das Bundesamt für Justiz vor, das verkündete, die Regel sei mit der gerade erst erlassenen Covid-Verordnung des Bundesrates nicht mehr bundesrechtskonform. Der Bund pfiff Uri zurück – wie es die Medien mit mitschwingender Häme kommentierten. Wir fühlten uns vom Bund desavouiert.

«In der Bundesverfassung steht nichts von zentralistischem

‹Durchregieren›, nichts davon, wer sich durchsetzt, wer ­

stärker ist, nichts von Drohung – ­Rücksicht und Beistand sind gefragt.»

Ähnlich erging es dem Tessiner Staatsrat, als er eigene Regelungen zur Schliessung von Betrieben abweichend von bundesrechtlichen Vorgaben erliess, die zu diesem Zeitpunkt vor Ort Sinn gemacht hätten. Nach Protesten der Kantonsregierungen entschied sich der Bundesrat immerhin für sogenannte «Föderalismusfenster», die erlaubten, in bestimmten epidemiologischen Situationen eigene, vom Bundesrecht abweichende Regelungen zu erlassen.

Die Beschlüsse des Bundesrates in den genannten Beispielen mögen Ausfluss des Epidemiengesetzes sein, das in der ausserordentlichen Lage dem Bundesrat grosse Machtbefugnisse einräumt – aber es geht um mehr: Ich stelle ein Malaise im «Föderalismusgefüge» der Schweiz fest. Anstatt sich mit Entschiedenheit und Kraft für die Wahrnehmung der eigenen Verantwortung und der dazu notwendigen Entscheidungskompetenzen einzusetzen, weichen Kantonsregierungen dem Druck von aussen aus, exponieren sich in der Krise lieber nicht zu sehr und schieben die Verantwortung Bundesbern zu. Der Bund seinerseits scheut sich nicht, zu Druckmitteln zu greifen. So auch im «Terrassenstreit» Anfang März 2021, als er mit dem Entzug von Finanzhilfen drohte. Damit ­hatten wir in der Schweiz für alle Einwohnerinnen und Einwohner die gleiche Vorgabe zur Bekämpfung der Gesundheitskrise, in Unterschächen ebenso wie in Basel, in Moutier wie in Erstfeld. Das war das eine. Das andere war: Die kreativen Lösungen in den Kantonen fehlten bis im Winter 2021, als Graubünden mit seiner Teststrategie voranging. Die Kantone waren erfolgreich domestiziert worden. Der Bund sollte es jetzt mit seinen Kompetenzen gemäss dem Epidemiengesetz richten. Was verblieb, war, gemeinsam als Regierungsrat am Freitagabend die Pressekonferenzen des Bundesrates zur Kenntnis zu nehmen und die Beschlüsse zu voll­ziehen. Man mag jetzt einwenden, es sei übertrieben, wegen eines Rüffels aus Bundesbern oder ein paar geöffneten oder eben ­geschlossenen Restaurantterrassen so einen Aufstand zu machen. Aber es geht um viel mehr. Es zieht ein zentralistischer Geist wie ein Nebel über unser Land.

Der Vollzugsföderalismus funktioniert

Die Kantone haben die Vorgaben des Bundes bestens vollzogen. Wer sonst hätte diese Pandemie vor Ort bekämpfen können? Die Kantone, ihre Krisenstäbe und Polizeikorps leisten vor Ort Her­kulesarbeit, um den betroffenen Menschen die vom Bund verordneten Massnahmen zu vermitteln, sie mit Augenmass umzu­setzen und zu kontrollieren. Dank ihnen wurde Ruhe und Zusammenhalt bewahrt und das Gesundheitswesen am Laufen gehalten. Ohne Kantone gäbe es keine Krisenbewältigung.

Aber man hat auch die Stärke des Föderalismus verspielt: Die Kantone hätten voneinander lernen können. Verschiedene ­Ansätze der Krisenbewältigung hätten sich direkt miteinander vergleichen lassen. Und auch der Bund hätte von den Kantonen lernen können, und gemeinsam hätte man sich so der besten ­Lösung angenähert. Gerade in der Krise wäre das wichtig. Nur hat man es nicht zugelassen. Föderalistische Lösungen hätten Mut und Widerstandskraft gebraucht, hätten vielleicht auch den Verzicht auf Bundesgelder für die Kantone bedeutet, hätten vielleicht aber auch die Krise besser gemildert.

Malaise nicht nur in der Coronakrise

Sind die Grundsätze nur für den Moment der Coronakrise aus dem Lot geraten – wie ich es noch mit dem Blick aufs Rütli gedacht habe? Es ist Zeit für einen nüchternen Blick auf den Zustand des Erfolgsmodells des Schweizer Föderalismus.

2016 feierte die Zentralschweizerische Konferenz der Kantonsregierungen (ZRK) ihr 50jähriges Bestehen. Die ZRK wurde 1966 in Immensee gegründet. Es ging darum, ein Gegengewicht zu den Zentralisierungstendenzen des Bundes zu setzen und diesen – so der damalige Landammann des Kantons Schwyz – «entschieden entgegenzutreten». Im Vorwort der Jubiläumsbroschüre schrieb ich 2016 als Präsidentin der ZRK: «Gerade wir Vertreterinnen und Vertreter aus der Zentralschweiz sollten die Vielfalt als erfolgsbringende Eigenheit hochschätzen. Hierzu sind die Kantone in erster Linie selbst gefordert, indem sie eigenverantwortlich handeln und so Vorreiter für gute Lösungen bleiben. Stark bleiben Kantone und Gemeinden dann, wenn sie möglichst viele Freiheitsgrade für die Entfaltung ihrer eigenen Stärken haben.»

Seit 2005 erarbeitet die Konferenz der Kantonsregierungen mindestens zweimal jährlich ein aufwendiges Föderalismusmonitoring und stellt wiederkehrend fest, dass die Mitwirkung der Kantone bei der Rechtsetzung des Bundes Verbesserungspotenzial habe, dass der Trend zur Zentralisierung weiterhin bestehe, dass eine tendenzielle Lastenverschiebung zuungunsten der ­Kantone stattfinde und dass generell ein ungenügendes Föderalismusverständnis vorhanden sei.1 Aus der Wissenschaft tönt es ähnlich. Seit einigen Jahren sei in der Schweiz eine rückläufige Verbundenheit mit dem Föderalismus feststellbar und eine Aushöhlung der föderalistischen Strukturen festzustellen, schreiben beispielsweise Heiko Burret und Lukas A. Schmid.2

Schlagende Vorteile des Föderalismus

Der Föderalismus ist unbestritten ein Grundpfeiler des Erfolgsmodells der Schweiz. Empirische Studien zeigen, dass der Wettbewerbsföderalismus der Leistungsfähigkeit und der Effizienz des öffentlichen Sektors zuträglich ist und der Bewältigung von wirtschaftspolitischen Herausforderungen wie soliden Staats­finanzen, Wirtschaftswachstum und sinnvoller Regulierung dient. Der Föderalismus kann in Krisen auch als «Puffer» dienen, um volkswirtschaftliche Schocks zu mildern, denn nicht alle Kantone und ihre Wirtschaftsstandorte beziehungsweise Branchen werden dank der starken Diversifizierung gleichzeitig von einer Krise getroffen. So können Kantone mit weniger stark betroffenen Branchen als Stabilisatoren dienen und wirtschaftliche Schocks auffangen.3 Hätte der Föderalismus nicht auch in der ­Coronakrise den Schock besser auffangen können? Da der Bund die Krisenführung durch die Fehlkonstruktion (?) des Epidemiengesetzes an sich riss und die Kantone sich die Krisenführung so bereitwillig aus der Hand nehmen liessen, kann dieser Beweis nicht erbracht werden. Wir werden also nicht wissen, ob die Ausgangsbeschränkung für die über 65-Jährigen in Uri nicht doch eine gute Idee gewesen wäre.

Ich muss heute ernüchtert feststellen, dass die Schweiz nicht vorbereitet war auf Corona – und wir es wahrscheinlich auch nicht sind für anders gelagerte Krisen. Gleichzeitig haben wir in der Schweiz auch eine Föderalismuskrise. Die Missachtung der föderalistischen Grundordnung war nicht neu in dieser Gesundheitskrise – es war der Kulminationspunkt einer lang andauernden Zentralisierungstendenz, einer schon lange schwelenden ­Föderalismuskrise. Wir haben sie vielfach beklagt, sind ihr aber nie entschieden genug entgegengetreten. 2004, damals noch ohne neuen Finanzausgleich (NFA), war Uri umgangssprachlich gesprochen blank. Aber der Regierungsrat sprühte vor Kreativität und Agilität, weil er das Ruder herumreissen musste. Das Leben wurde für den Nehmerkanton Uri nach Einführung des NFA und mit den Goldmillionen der Nationalbank einfacher, bequemer, aber auch abhängiger, weniger kreativ und agil. Sind wir, die Kantone, bequem geworden, haben wir es uns zu wohlig eingerichtet im kooperativen Föderalismus, im Gewirr der Geldumverteilung? Haben wir es versiebt? Nun, wir sind zumindest vom Pfad der ­Tugend abgewichen! Es ist die Coronakrise, die uns den dringenden Weckruf sendet, das Erfolgsmodell Föderalismus zu revita­lisieren oder den Verfassungsprinzipien, insbesondere der Sub­sidiarität, wieder Nachachtung zu verschaffen. Wir brauchen die Rückbesinnung auf den eigenverantwortlichen Föderalismus in den Kantonsregierungen, in den Regierungskonferenzen, beim Bund und im Parlament – eine besondere Verantwortung trägt hier der Ständerat. Wir müssen, um den Landammann von Schwyz von 1966 noch einmal zu zitieren, «Zentralisierungs­tendenzen entschieden entgegentreten». Mehr noch: Wir müssen sie abbauen!

  1. Konferenz der Kantonsregierungen: Monitoringbericht 2014 – 2016.

  2. Heiko Burret und Lukas A. Schmid: Föderalismus stärkt die Leistungsfähigkeit der Schweiz. In: Die Volkswirtschaft 6 (2018), S. 8 – 11.

  3. Lars P. Feld und Christoph Schaltegger: Föderalismus und Wettbewerbsfähigkeit in der Schweiz. Zürich: NZZ Libro, 2017.

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