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(3) Ressourcenpolitik im 21. Jahrhundert

Chinas und Indiens Aufstieg zu Weltmächten wird die Nachfragesituation auf den Rohstoffmärkten grundlegend verändern. Für den Welthandel, den Weltfrieden und den technologischen Fortschritt birgt diese Entwicklung mehr Chancen als Gefahren.

Wer entsinnt sich noch der Aufbruchstimmung nach dem Fall der Berliner Mauer, als nicht nur einzelne Historiker erwarteten, dass man endlich am Beginn eines Zeitalters der internationalen Ordnung und des Weltfriedens angelangt sei! Alles schien so vielversprechend. Das Reich des Bösen lag darnieder mitsamt seiner verqueren Ideologie. Der liberale Rechtsstaat und die Marktwirtschaft hatten obsiegt. Ihnen gehörte die Zukunft. Fortan würde es nur noch darum gehen, die Menschheit auf dem Pfad zu Freiheit und Wohlstand geschickt zu managen. Wirtschaftliche Globalisierung und technologischer Fortschritt schienen die geeigneten Instrumente zu liefern, um die uralten Plagen der Menschheit, Diktatur, Armut und Krieg, endgültig in die Mottenkiste der Geschichte zu verbannen.

Doch es kam ganz anders. Nachdem man in der Euphorie nach dem Ende des Kalten Kriegs gedacht hatte, dass nun weniger gefährliche Zeiten anbrechen würden, erscheinen aus heutiger Sicht die Jahre des Kalten Kriegs plötzlich als eine Zeit der Stabilität und der Berechenbarkeit. Was hat diesen Wandel bewirkt? Viele sehen den 11. September 2001 als das Fanal für den Anbruch einer neuen Epoche der globalen Instabilität. Von diesem Ereignis führt sodann eine logische Linie zum internationalen Krieg gegen den Terrorismus, zur Konfrontation der westlichen Demokratien mit dem Islamofaschismus und schliesslich zur Verwicklung der Vereinigten Staaten in der Tragödie des Kriegs im Irak.

Sicher sind dies alles Geschehnisse, die heute in der kurzen Zeitperspektive die Gemüter am meisten bewegen. Hinzu kommt, als weitere wichtige Verunsicherung des Zeitgeists, die in den letzten Monaten intensivierte und sensationalistisch aufbereitete Information über die Erwärmung des globalen Klimas und deren Auswirkungen auf die Menschheit. All dies ist Grund genug vor allem für die Menschen in den westlichen Industriestaaten, sich über die neuen Zeitläufte zu erregen und zu beklagen.

Aus einer längerfristigen Perspektive drängt sich freilich eine andere Sicht auf. Die wohl monumentalste Veränderung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die nicht nur für die Weltwirtschaft, sondern auch für die Geopolitik schwerwiegende Veränderungen zur Folge haben wird, ist die Renaissance Chinas und Indiens als Weltmächten. Die Menschen in den Industriestaaten haben zwar in den letzten Jahren das verunsichernde Gefühl mitbekommen, dass es bei den Produktionsstandorten auf dem Globus weitreichende und auch sie betreffende Veränderungen gibt; doch wirklich zur Kenntnis genommen haben sie die neuen internationalen Kräftekonstellationen noch nicht. Nicht zuletzt deshalb nicht, weil vor allem in Europa die politischen Entscheidungsträger ebenso wie die Medien nach wie vor einer eurozentrischen Nabelschau huldigen.

Besonders aufschlussreich waren unlängst die Reaktionen der Europäer auf die chinesischen Vorstösse nach Afrika. Zu Maos Zeiten, als die Volksrepublik China zum ersten Mal Afrika «entdeckte», ruhte die chinesische Aussenpolitik auf dem internationalen Klassenkampf, auf der Weltrevolution oder, im Wortgebrauch der Berufsrevolutionäre, auf dem «Krieg der Hütten gegen die Paläste». Seit den epochalen Wirtschaftsreformen von Deng Xiaoping, die vor allem auch die Öffnung Chinas zum Ziel hatten, hat sich Peking auf neue Prioritäten besonnen. Heute geht es der chinesischen Führung bei der Gestaltung ihrer Aussenpolitik primär um die Sicherung der Rohstoff- und Energiezufuhr sowie um den Gewinn neuer lukrativer Märkte. Es kann aufschlussreich sein, die Reisedestinationen der chinesischen Führung zu studieren. Wo immer Staats- und Parteichef Hu Jintao oder Ministerpräsident Wen Jiabao hinreisen, geht es um Wirtschaftskooperation. In jüngster Zeit hat China dem schwarzen Kontinent besonders viel Aufmerksamkeit zukommen lassen. Innert eines Jahres hat Hu Jintao Afrika gleich zweimal besucht, und im letzten Herbst hatte Peking zu einem aufwendigen Afrika-Gipfel geladen, an dem praktisch alle afrikanischen Staaten auf höchster Ebene vertreten waren.

Europa und internationale Organisationen wie die Weltbank haben auf diese Avancen mit Alarm reagiert. Das Wort von einem neuen «Kolonialismus chinesischer Art» geht um. Den Chinesen wird vorgeworfen, dass es ihnen bei ihren Wirtschafts- und Hilfsabkommen mit afrikanischen Staaten nicht um Massnahmen gegen die dortige Misswirtschaft, um Menschenrechtsverletzungen und Diktaturen oder gar, im Falle des Sudans, um den Kampf gegen Völkermord gehe. Die Antwort auf diese Vorwürfe lautet regelmässig, dass es ein allgemeines Prinzip der chinesischen Aussenpolitik sei, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. Bemerkenswert an der europäischen Reaktion auf die chinesischen Vorstösse ist zweierlei. Zum einen sind die Europäer, die in Afrika die wohl grösste Verschleppungsaktion der Menschheit organisiert haben, die letzten, die berechtigt wären, andern Kolonialismus vorzuwerfen. Zum andern ist zu bedenken, dass Frankreich und Grossbritannien, wenn es um die eigenen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen geht, in Afrika auch nicht nur mit lupenreinen Demokraten zusammenarbeiten. Insgesamt verschleiert die europäische Reaktion bloss die Tatsache, dass Europa sich während der letzten Jahrzehnte zuwenig um seinen südlichen Nachbarkontinent gekümmert hat.

Es gehört zu den Vorteilen der Marktwirtschaft und des internationalen Freihandels, dass sie, so man sie nur funktionieren lässt, die Knappheit verfügbarer Ressourcen stets auch als neue Wachstumschance nutzen. Bei der Weltwirtschaft geht es nur aus der verengten Sicht von Planwirtschaftlern und Dogmatikern um die Verteilung eines von vornherein in seiner Grösse festgelegten Kuchens. Solche pessimistischen Stimmen wollen uns glauben machen, dass, wenn ein Teil der Menschheit neuen Wohlstand erreiche, dies notwendigerweise auf Kosten eines anderen Teils der Menschheit gehen müsse. Dass es sich bei der wirtschaftlichen Entwicklung, im nationalen wie im globalen Rahmen, um eine «Win-Win-Situation» handelt, wollen sie nicht akzeptieren. Gerne wird von solchen Zweiflern die Endlichkeit der Ressourcen ins Feld geführt. Schon einmal, beim ersten Bericht des Club of Rome, wurden der Weltöffentlichkeit Schreckensszenarien präsentiert, wie sie heute bei der Klimaerwärmung wieder en vogue sind.

Der zentrale Vorteil der Marktwirtschaft liegt im Preismechanismus. Es gibt kein anderes Wirtschaftssystem, das so rasch und so effizient auf Verknappungen reagieren kann wie die Marktwirtschaft. Wird ein Rohstoff knapp, so steigt der Preis – vorausgesetzt, dass keine Staatseingriffe dies verhindern. In der jetzigen Klimadebatte wäre es sehr wichtig, einmal darauf zu verweisen, dass die Ressourcenverschwendung, insbesondere die Energieverschwendung, darauf zurückzuführen ist, dass in vielen Ländern keine marktkonformen Preise bezahlt werden. China war bis 1995 beim Erdöl Selbstversorger. Danach hat es in immer grösseren Mengen Erdöl einführen müssen. Schliesslich hat es 2004 Japan als den nach den USA zweitgrössten Erdölimporteur der Welt abgelöst. Es ist bedeutsam, sich in diesem Zusammenhang vor Augen zu halten, dass China acht- bis zehnmal mehr Energie als Japan benötigt, um einen Dollar des Bruttoinlandprodukts zu erwirtschaften! Eine der grössten Entwicklungschancen für China liegt deshalb nicht darin, die Menschen nun zum kollektiven Konsumverzicht zu verdammen, sondern schlicht und einfach energieeffizientere Technologien einzusetzen.

Wie bereits erwähnt, muss die Renaissance Chinas und Indiens als Mächten von globaler Bedeutung als bisher wichtigstes Ereignis des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden. Der Westen, der seit dem 19. Jahrhundert dazu neigt, Asien als einen dekadenten, von Massenarmut geprägten Kontinent zu sehen, steht vor der Herausforderung eines grundlegenden Umdenkens. Man hat vergessen, dass bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts Indien und China über die Hälfte zur weltweiten Industrieproduktion beisteuerten. Selbst- und fremdverschuldete Desaster führten danach zu einer langen Phase der Rückständigkeit, ehe gegen Ende des 20. Jahrhunderts die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde wieder Boden unter den Füssen fanden.

Die Tatsache, dass es heute in Indien und China kaufkräftige Mittelschichten im Umfang von zusammengenommen rund 400 Millionen Menschen gibt, ist eine besonders willkommene Entwicklung, nicht nur weil es einem substantiellen Teil der Menschheit heute erheblich besser geht als noch vor einer halben Generation, sondern auch weil dies Konsumentenschichten sind, die für die Produkte und Dienstleistungen, die in den westlichen Industriestaaten erwirtschaftet werden, willkommene Klienten sind. Auch hier kann man als Befürworter der Marktwirtschaft und des internationalen Freihandels eine allseits positive «Win-Win-Situation» ausmachen. Jüngste Statistiken zeigen, dass China Japan als zweitgrössten Automobilmarkt der Welt überholt hat. Es ist an einem ferneren Horizont bereits erkennbar, dass dereinst die Volksrepublik die USA vom Spitzenrang ablösen wird. Auch Indien wird an die Weltspitze vordrängen.

Noch immer erhält man in vielen Gesprächen in Europa den Eindruck, dass der alte Kontinent mit einem arroganten Staunen auf diese Entwicklung schaut. Die Frage, ob denn die Inder und die Chinesen berechtigt seien, diesen Weg zu beschreiten, wird zwar nicht offen gestellt, steht aber doch im Raum. Geht darob nicht das Weltklima endgültig kaputt und werden dadurch die Erdölquellen nicht noch rascher erschöpft werden? Tatsache ist, dass sich diese beiden Länder einen grösseren Anteil an den Weltressourcen leisten können und auch leisten werden. Im letzten Herbst hatte China als erste Nation der Welt bei den Devisenreserven die Schwelle einer Milliarde US-Dollar überschritten. Auch Indien sitzt auf einem soliden Devisenpolster. Dies alles heisst, dass die neuen Weltmächte finanziell in der Lage sind, auf den Rohstoff- und Energiemärkten der Welt als potente Käufer aufzutreten. Dass Erdöl sich auf einem anhaltend hohen Preisniveau bewegt, hat nur teilweise mit klimatischen Entwicklungen oder mit kriegerischer oder sozialer Unrast in einigen Erdölförderländern zu tun. Hauptgrund dafür ist die gewaltige neue Nachfrage aus Asien und die Tatsache, dass diese Nachfrager auch in der Lage sind, höhere Preise zu bezahlen.

In den letzten zwei Jahrhunderten hat die Welt die bittere Erfahrung gemacht, dass der Auftritt einer neuen Macht auf der Weltbühne stets mit Krieg verbunden war. Dies war bei Napoleon der Fall, dies war bei Bismarcks Deutschem Reich der Fall, dies war beim kurzlebigen japanischen Imperialismus der Fall, und dies war schliesslich auch bei Hitlers Drittem Reich der Fall. Vor allem für China stellt sich die Frage, ob seine Rückkehr als führende Macht in Asien und als pazifischer Hauptrivale der USA ebenfalls zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen müsse. Auszuschliessen ist nichts, doch scheint sich das Reich der Mitte auf absehbare Zeit eher auf die Konsolidierung seiner wirtschaftlichen Erneuerung konzentrieren, als sich in kriegerische Auseinandersetzungen verwickeln zu wollen. Sowohl Indien als auch China sind als Milliardenvölker mit gewaltigen internen Herausforderungen konfrontiert. Das wird sie, so ist zu hoffen, davor bewahren, sich auf einen militärischen Machtkampf mit der Supermacht USA einzulassen.

Dies alles heisst indessen nicht, dass der Wettbewerb um knappe Ressourcen in der Welt in den kommenden Jahren und Jahrzehnten nicht an Intensität gewinnen werde. Dabei geht es nicht nur um die Rivalität zwischen den etablierten Industrieländern und den «Neulingen», sondern auch um den Wettbewerb zwischen diesen. Indien und China sind, wenn es um die Ressourcen in Afrika, im Mittleren Osten, in Zentralasien und in Südostasien geht, bereits heute Rivalen. Vor dem Hintergrund dieser rasanten Bedarfsentwicklung, die sich in den kommenden Jahren noch beschleunigen dürfte, sind anhaltend hohe Rohstoff- und Energiepreise ein Positivum. Sie geben Anlass dazu, nach neuen Vorkommen zu suchen, Alternativen zu entwickeln und vor allem auch den Einsatz von Rohstoffen und die Verwendung von Energie effizienter zu gestalten. Es ist übrigens aufschlussreich, dass im Gegensatz zum ersten Erdölschock die Weltwirtschaft heute die Auswirkungen auf die Konjunktur erheblich besser gemeistert hat. Ein starker inflationärer Auftrieb ist bisher ausgeblieben, was zu einem wesentlichen Teil auch dem Effizienzgewinn zuzuschreiben ist, den die Weltwirtschaft aus der Renaissance der indischen und chinesischen Volkswirtschaft und aus der Globalisierung bei den Produktionsstandorten hat erzielen können. Wenn nicht Protektionisten, Isolationisten und Antiglobalisten Sand ins internationale Getriebe streuen, darf und kann die Welt vor diesem Hintergrund auf Jahrzehnte soliden Wirtschaftswachstums und zunehmenden Wohlstands für einen stets wachsenden Anteil der Weltbevölkerung hoffen.

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